29.06.2016 B: Arbeitsrecht Kohte/Liebsch: Beitrag B3-2016

Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung und blockierte Personalpolitik – Auflösung im Doppelpass von individuellem Anspruch und kollektivrechtlichen Instrumenten – Anmerkung zu LAG Frankfurt, Urteil v. 02.11.2015 – 16 Sa 473/15

Die Autoren Wolfhard Kohte und Matthias Liebsch besprechen in diesem Beitrag die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts (LAG) Frankfurt vom 02.11.2015 – 16 Sa 473/15. Die Berufungsentscheidung befasst sich vor allem mit der Frage, ob ein schwerbehinderter Arbeitnehmer Anspruch auf eine anderweitige zumutbare Beschäftigung, gegebenenfalls mit entsprechender Vertragsänderung habe, wenn er seine vertraglich geschuldete Arbeit nicht mehr wahrnehmen kann, weil er dauerhaft arbeitsunfähig erkrankt ist.

Im Ergebnis bejahte das Gericht einen solchen Anspruch unter Verweis auf § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX, sofern die neue Beschäftigung für den Arbeitgeber nach § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX zumutbar sei und der Arbeitnehmer die entsprechende Eignung und Qualifikation für die neue Tätigkeit aufweist. Die Autoren stimmen der Entscheidung zu und diskutieren Lösungen, nach denen die personalpolitische Blockade bei der Anpassung der Beschäftigung bereits früher hätte aufgelöst werden können.

(Zitiervorschlag: Kohte/Liebsch: Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung und blockierte Personalpolitik – Auflösung im Doppelpass von individuellem Anspruch und kollektivrechtlichen Instrumenten – Anmerkung zu LAG Frankfurt, Urteil v. 02.11.2015 – 16 Sa 473/15; Beitrag B3-2016 unter www.reha-recht.de; 29.06.2016)

I. Thesen der Autoren

  1. Blockierte Personalpolitik ist schädlich für die Inklusion, kann sie aber auf Dauer nicht aufhalten.
     
  2. Ein Doppelpass von Individual- und Kollektivrecht ist ein geeignetes Mittel, um solche Blockaden aufzulösen. Die Verwirklichung des innerbetrieblichen Arbeitsmarkts durch eine Stellenausschreibung nach § 93 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) dient der individuellen Wahrung einer behinderungsgerechten Beschäftigung gemäß § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX.
     
  3. Die umfassende und rechtzeitige Unterrichtungspflicht nach § 80 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Satz 1 BetrVG, § 95 Abs. 2 SGB IX gehört zu den Mindestanforderungen, die der Arbeitgeber zu erfüllen hat, um dem Anspruch auf eine behinderungsgerechte Beschäftigung ordnungsgemäß nachzukommen.

II. Wesentliche Aussagen des Urteils

  1. Der Anspruch des Arbeitnehmers auf eine behinderungsgerechte Beschäftigung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX erstreckt sich bei Vorliegen der Voraussetzungen auch auf eine höhergruppierte Beschäftigung, denn es gibt keinen Grundsatz, dass die behinderungsgerechte Beschäftigung nur in der ursprünglichen Entgeltgruppe erfolgen kann.
     
  2. Dem Arbeitgeber ist auch eine Umorganisation des Arbeitsbereichs zuzumuten, um dem Kläger eine behinderungsgerechte Beschäftigung zu ermöglichen.

III. Der Fall

Die Parteien streiten um eine behinderungsgerechte Beschäftigung des Klägers als Qualitätsvorausplaner. Der Kläger ist seit dem 02.04.1990 bei der Beklagten als Elektroniker beschäftigt. Ihm ist ein Grad der Behinderung von 100 anerkannt. Im Betrieb der Beklagten werden circa 900 Arbeitnehmer, darunter in der Regel 60 Leiharbeitnehmer, hiervon 7 Leiharbeitnehmer im Bereich des Qualitätswesens, beschäftigt. Es besteht ein Betriebsrat. Seit dem 14.07.2011 erkrankte der Kläger arbeitsunfähig, wobei ihm ein arbeitsmedizinisches Tätigkeitszeugnis die noch mögliche Ausübung von leichten Tätigkeiten, so auch die des Qualitätsvorausplaners, attestierte. Gleichwohl wurde ihm eine solche Tätigkeit nicht angeboten. In einem Personalgespräch vom 31.01.2013 wies der Kläger die Beklagte auf die Finanzierungsmöglichkeit einer innerbetrieblichen Umschulung im Umfang von zwei Jahren über die Deutsche Rentenversicherung (DRV) hin. Diese Möglichkeit wiederholte der Kläger bei seinen Bewerbungen auf interne Stellenausschreibungen sowie in einem Präventionsgespräch unter Teilnahme der Sachbearbeiterin des Integrationsamtes. Kurze Zeit später lief der Anspruch auf Krankengeld aus. Seit dem 05.04.2013 erhielt der Kläger Arbeitslosengeld, da er nicht beschäftigt wurde, aber offensichtlich das nach § 138 SGB III erforderliche Leistungsvermögen vorhanden war.[1] Schließlich bewarb sich der Kläger am 30.07.2014 erfolglos auf eine durch die Beklagte als Qualitätsvorausplaner ausgeschriebene – gegenüber seiner bisherigen Beschäftigung als Elektriker höherwertigere – Stelle, da die Beklagte unter anderem behauptete, der Kläger sei für die Stelle nicht qualiziert. Daraufhin klagte der Arbeitnehmer auf die Übertragung der ausgeschriebenen Beschäftigung. Das Arbeitsgericht Gießen wies die Klage am 17.02.2015 (5 Ca 370/14) ab. Im Wesentlichen führte es zur Begründung an, dass es dem Kläger an den in der Stellenausschreibung vorgesehenen Englischkenntnissen fehle und kein Anspruch auf eine höherwertige Beschäftigung bestehe. Hiergegen wandte sich der Kläger und legte am Landesarbeitsgericht (LAG) Frankfurt Berufung ein.

IV. Die Entscheidung

Das LAG entsprach der Berufung und verurteilte die Beklagte, den Kläger als Qualitätsvorausplaner einzuarbeiten und zu beschäftigen. Könne ein schwerbehinderter Arbeitnehmer die vertraglich geschuldete Arbeit nicht mehr wahrnehmen, habe dieser gemäß § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX unmittelbar kraft Gesetzes Anspruch auf eine anderweitige zumutbare Beschäftigung, ggf. mit entsprechender Vertragsänderung.

Der Arbeitnehmer sei nicht gehalten, den Arbeitgeber vorab auf Zustimmung zur Vertragsänderung zu verklagen. Eine Beschäftigungspflicht des Arbeitgebers bestehe aber nach § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX dann nicht, wenn ihm die neue Beschäftigung des schwerbehinderten Arbeitnehmers unzumutbar ist. Im vorliegenden Fall konnte der Kläger die bislang von ihm ausgeübte Tätigkeit als Elektroniker nicht mehr ausüben. Unstreitig war er aber für die Arbeit im Qualitätswesen, in dem die Beklagte sieben Leiharbeitnehmer beschäftigt, gesundheitlich geeignet. Eine seinen Fähigkeiten und Kenntnissen entsprechende Tätigkeit, habe der Kläger mit der Tätigkeit des Qualitätsvorausplaners aufgezeigt. Die technische Ausbildung, die in der Stellenausschreibung verlangt worden sei, könne der Kläger aufweisen. Die von der Beklagten geforderten „guten Englischkenntnisse“ seien im Arbeitsalltag selten erforderlich. Wenn der Kläger ausnahmsweise direkten Kontakt mit ausländischen Gesprächspartnern benötige, sei es der Beklagten zuzumuten, ihm einen Arbeitskollegen zur Seite zu stellen, der die englische Sprache besser beherrsche. Schließlich sei der Umstand, dass die Beschäftigung als Qualitätsvorausplaner in eine höhere Vergütungsgruppe eingruppiert ist, unbeachtlich. Zwar räume das Schwerbehindertenrecht einem Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Beförderung ein. Dies schließe eine Beförderung bei entsprechender Eignung aber auch nicht aus, wenn nur so die behinderungsgerechte Beschäftigung realisiert werden kann.

Das Bundesarbeitsgericht hat am 10.02.2016 die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten verworfen (9 AZN 1160/15). Somit ist das Urteil des LAG Frankfurt rechtskräftig.

V. Würdigung/Kritik

Dem Urteil des LAG ist zuzustimmen.[2] Es erstreckt den Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX systematisch richtig und wortlautgetreu auch auf eine Höhergruppierung, sofern dies der Eignung und Qualifizierung des behinderten Arbeitnehmers entspricht. Mit diesem Urteil ist eine mehrjährige personalpolitische Blockade aufgelöst worden.

In diesem Beitrag soll erläutert werden, wie diese Blockade, die fast vier Jahre gedauert hat, früher hätte aufgelöst werden können. Dies wäre – so unsere These – durch einen Doppelpass von individuellen und kollektiven Rechten möglich gewesen. In dem Betrieb sind regelmäßig Leiharbeitnehmer auf Arbeitsplätzen beschäftigt worden, die der Kläger hätte einnehmen können. Eine erste Möglichkeit hätte darin bestanden, dass der Betriebsrat vor der Besetzung dieser Stellen mit Leiharbeitnehmern eine innerbetriebliche Stellenausschreibung nach § 93 BetrVG verlangt hätte. Das BAG hat in mehreren Entscheidungen[3] anerkannt, dass ein Betriebsrat eine solche Ausschreibung auch verlangen kann, wenn der Arbeitgeber auf diesen Plätzen nur Leiharbeitnehmer beschäftigen will. In dem Beschluss des BAG vom 01.02.2011 – 1 ABR 79/09[4] – wird ausdrücklich hervorgehoben, dass es verschiedene Beschäftigtengruppen gibt, die eine Beschäftigung auf Arbeitsplätzen verlangen können, die Leiharbeitnehmer einnehmen. Der Senat hat dabei an erster Stelle schwerbehinderte Arbeitnehmer genannt, die einen Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung nach § 81 Abs. 4 SGB IX haben. Bereits mit dieser Begründung hätte der vorliegende Fall wesentlich früher gelöst werden können. Der Senat hat auch ein solches Recht anerkannt bei chronisch kranken Beschäftigten, die nicht als Schwerbehinderte anerkannt sind, wenn der Arbeitgeber diesen Arbeitsplatz im Wege des Direktionsrechts mit dem kranken Arbeitnehmer besetzen könne; in bestimmten Fällen kann auch eine Anpassung und Änderung des Arbeitsvertrages ohne Schwerbehinderung verlangt werden.

Ein zweiter möglicher Weg für einen engagierten Betriebsrat hätte sich hier angeboten, wenn ein „neuer“ Leiharbeitnehmer „eingestellt“ worden wäre. Bei jeder neuen Beschäftigung von Leiharbeitnehmern steht dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht nach § 14 Abs. 3 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) i. V. m § 99 BetrVG zu. Bei unserer Fallkonstellation hätte der Betriebsrat einer solchen Beschäftigung nach § 99 Abs. 2 Nr. 3 BetrVG widersprechen können, weil der langjährig beschäftigte schwerbehinderte Arbeitnehmer einen Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung an diesem Arbeitsplatz hatte. Bei einem solchen Widerspruch des Betriebsrates ist der Arbeitgeber gehalten, die fehlende Zustimmung des Betriebsrates beim Arbeitsgericht nach § 99 Abs. 4 BetrVG ersetzen zu lassen. Dieser Antrag des Arbeitgebers wird aber keinen Erfolg haben, wenn der schwerbehinderte Arbeitnehmer einen Beschäftigungsanspruch nach § 81 Abs. 4 SGB IX hat.

Weitere Handlungsmöglichkeiten ergeben sich für die Schwerbehindertenvertretung (SBV). Diese ist nach § 95 Abs. 2 SGB IX bei personellen Maßnahmen zu beteiligen, die schwerbehinderte Menschen „berühren“. Als ein besonderes Beispiel nennt § 95 Abs. 2 S. 3 SGB IX die Beteiligung der SBV an der Prüfung nach § 81 Abs. 1 S. 1 SGB IX, ob ein freier Arbeitsplatz mit einem schwerbehinderten Menschen besetzt werden kann. 2010 hat das BAG[5] entschieden, dass eine solche Prüfung auch erfolgen muss, bevor ein Leiharbeitsplatz besetzt werden muss[6]. Damit hätte der Arbeitgeber hier auch die SBV vorher informieren müssen. Diese hätte zwar kein Mitbestimmungsrecht, doch eine eindeutige Stellungnahme der SBV hätte Gewicht in innerbetrieblichen Verhandlungen und vor allem in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren. Eine informierte SBV kann eine Aussetzung der Stellenbesetzung nach § 95 Abs. 2 S. 2 SGB IX erzwingen.

Der Betriebsrat muss im Prüf- und Konsultationsverfahren gemäß § 81 Abs. 1 Satz 6 SGB IX angehört werden. Effektiviert wird die Beteiligung des Betriebsrats bei Einstellungen aber wiederum um die Möglichkeit der Zustimmungsverweigerung, § 99 Abs. 2 BetrVG. Insbesondere berechtigt die arbeitgeberseitige Verletzung der nach § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX bestehenden Prüf- und Konsultationspflicht den Betriebsrat auch bei der Einstellung eines Leiharbeitnehmers zur Verweigerung der Zustimmung nach § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG, wobei als freier Arbeitsplatz jeder Arbeitsplatz einzustufen ist, der entweder neu eingerichtet oder aber wieder besetzt werden soll.[7] Im Rahmen der Besetzung von freien Arbeitsplätzen ist die Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers gegenüber besonders geschützten Arbeitnehmergruppen eingeschränkt.[8] Dies gilt auch, wenn der Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX auf eine Höhergruppierung hinausläuft.[9]

Hieran gemessen hätte sich der Beklagte ggf. nicht auf seine unternehmerische Entscheidung zurückziehen können, die zu besetzende Stelle im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung dauerhaft mit Leiharbeitnehmern besetzen zu wollen. Vielmehr hätte er gemeinsam mit dem örtlichen Betriebsrat und der SBV prüfen müssen, ob die ausgeschriebene Beschäftigung als Qualitätsvorausplaner mit dem schwerbehinderten Kläger hätte besetzt werden können.

Eine notwendige Überlegung ist es, zu fragen, wie die Betriebsparteien einen solchen Rechtsstreit zukünftig vermeiden können. Hier kann der oben erläuterte BAG-Beschluss vom 01.02.2011 zur innerbetrieblichen Ausschreibung von Arbeitsplätzen nutzbar gemacht werden, damit frei werdende Arbeitsplätze zur Realisierung behinderungsgerechter Beschäftigungen nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX eingesetzt werden können.[10] Die Aktivierung des innerbetrieblichen Arbeitsmarktes ist eines der zentralen Themen betriebsverfassungsrechtlich beeinflusster Personalpolitik. Explizit statuiert § 99 Abs. 2 Nr. 5 BetrVG ein Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrats, wenn die nach § 93 BetrVG erforderliche Ausschreibung im Betrieb unterblieben ist. Nach § 99 Abs. 2 Nr. 3 BetrVG kann der Betriebsrat zudem der Einstellung von Leiharbeitnehmern widersprechen, wenn die begründete Besorgnis besteht, dass im Betrieb beschäftigte Arbeitnehmer durch die Beschäftigung von Leiharbeitnehmern einen nicht gerechtfertigten Nachteil erleiden. Die Fortdauer einer nicht behinderungsgerechten Beschäftigung dürfte ein solcher Nachteil sein, so dass der Widerspruch des Betriebsrats Erfolg haben dürfte.

VI. Fazit

Vernachlässigt der Arbeitgeber seine Prüf- und Konsultationspflicht nach § 81 Abs. 1 SGB IX bzw. seine Pflichten aus § 84 SGB IX, läuft er im Individualprozess Gefahr, die für eine Unzumutbarkeit der Beschäftigung erforderlichen Tatsachen nicht hinreichend darlegen zu können.[11] Nach § 80 Abs. 1 Nr. 4 BetrVG ist es Aufgabe des Betriebsrats die Eingliederung Schwerbehinderter und sonstiger besonders schutzbedürftiger Personen zu fördern. Die Förderaufgabe des Betriebsrats umfasst die Zuweisung einer den Kräften und Fähigkeiten der schutzbedürftigen Person entsprechenden Beschäftigung.[12] Damit flankiert die Unterrichtungspflicht des Arbeitgebers nach § 80 Abs. 2 Satz 1, 1. Halbsatz BetrVG auf kollektivrechtlicher Ebene den individualisierten Anspruch des behinderten Arbeitnehmers auf eine behinderungsgerechte Beschäftigung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX.

Wäre der Betriebsrat der Beklagten in Kenntnis über die Situation des Klägers gewesen und nicht nur ggf. über die Personalplanung entsprechend § 92 Abs. 1 BetrVG unterrichtet, hätte er gemäß § 93 BetrVG den innerbetrieblichen Arbeitsmarkt zielgerichtet aktivieren können. Nach der Senatsrechtsprechung besteht eine vorrangig innerbetriebliche Ausschreibungspflicht selbst dann, wenn mit Bewerbungen von im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmern auf die in Frage kommenden Arbeitsplätze eher nicht zu rechnen ist; für eine teleologische Reduktion von § 93 BetrVG besteht kein Anlass.[13] Ein Arbeitgeber hat daher stets alle frei gewordenen für schwerbehinderte Arbeitnehmer geeigneten Arbeitsplätze aufzulisten und vor seiner personellen Entscheidung dem Betriebsrat und der SBV zu übermitteln.[14] Erst wenn der Betriebsrat umfassend und rechtzeitig informiert ist, kann er seine Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte ordnungsgemäß prüfen und gewinnbringend ausüben.

Hieran hatte die Beklagte aber offensichtlich kein Interesse. Durch die andauernde Arbeitsunfähigkeit des Klägers glaubte sie, einen schwerbehinderten Arbeitnehmer jahrelang faktisch nicht beschäftigen zu müssen und einer behinderungsgerechten Umorganisation geeigneter Arbeitsbereiche entgehen zu können. Zudem musste die Beklagte dem Kläger ab der siebenten Woche der Arbeitsunfähigkeit keinen Arbeitslohn mehr zahlen, da sodann die Sozialversicherungsträger in Anspruch genommen werden. Überdauert die Erkrankung des Arbeitnehmers den Zeitrahmen von sechs Wochen der Entgeltfortzahlung[15], erhält er für längstens 78 Wochen Krankengeld[16] von der Krankenkasse, § 48 Abs. 1 SGB V. Ab dem 19. Monat der Arbeitsunfähigkeit ist dann zu differenzieren, ob der erkrankte Arbeitnehmer vorübergehend oder dauerhaft vermindert erwerbsfähig ist. Ist die Erwerbsminderung lediglich vorübergehend, hat der Arbeitnehmer nunmehr Anspruch auf Arbeitslosengeld[17]. Der Begriff des Arbeitslosengelds entspricht in diesem Zusammenhang nicht dem alltäglichen Sprachgebrauch, denn das Arbeitsverhältnis besteht ja noch. Für das Sozialrecht ist es aber ausreichend, wenn trotz bestehenden Arbeitsverhältnisses eine Beendigung oder Unterbrechung des Beschäftigungsverhältnisses anzunehmen ist, da Arbeitsleistung und Arbeitsentgelt tatsächlich nicht mehr erbracht werden.[18] Das Arbeitsverhältnis der Parteien über die Beschäftigung als Elektroniker wurde bis zur Rechtskraft des Berufungsurteils nicht tangiert, da kein Beendigungstatbestand erfüllt wurde.

Das Berufungsurteil des LAG Frankfurt macht im Ergebnis deutlich, dass die klageweise Geltendmachung von Individualrechten oftmals dann notwendig wird, wenn kollektivrechtliche Handlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft werden. In jedem Fall ist der Arbeitgeber verpflichtet, angemessene Vorkehrungen für eine behinderungsgerechte Beschäftigung zu suchen und umzusetzen.[19] Sowohl die Expertise der Schwerbehindertenvertretung als auch die der in § 93 SGB IX genannten Interessenvertretungen, hier am Beispiel des Betriebsrats erörtert, sollte hierbei genutzt werden. Schließlich hatte die blockierte Personalpolitik der Beklagten für den Kläger neben dessen Beschäftigungslosigkeit erhebliche Einkommensverluste zur Folge.

In der Mehrzahl solcher Fälle geben die Schwerbehinderten nach einiger Zeit auf. Wenn die Aussteuerung droht, weil der Anspruch auf Krankengeld ausläuft, werden relativ oft Aufhebungsverträge geschlossen, weil es nicht allgemein bekannt ist, dass danach ein Anspruch auf Arbeitslosengeld möglich ist. Ebenso wenig ist bekannt, dass dann auch eine stufenweise Wiedereingliederung mit Zahlung des Arbeitslosengeldes finanziert werden muss. Gerade weil viele Beschäftigte nicht so lange durchhalten wie der Kläger im vorliegenden Verfahren, ist es so wichtig, dass Betriebs- und Personalräte sowie Schwerbehindertenvertretungen ihre Rechte kennen und im Doppelpass die Blockierstellungen auflösen.

Beitrag von Prof. Dr. Wolfhard Kohte und Ass. Jur. Matthias Liebsch, Halle

Fußnoten:

[1] Siehe Mutschler in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 4. Aufl., § 138 SGB III, Rn. 12 zu der Frage, wann ein langfristig arbeitsunfähig erkrankter Versicherter trotz Bestehen des Arbeitsvertrags als arbeitslos gilt.

[2] Dazu ausführlich Kohte/Liebsch, jurisPR-ArbR 11/2016 Anm. 1.

[3] Zuletzt BAG 15.10.2013 – 1 ABR 25/12, NZA 2014, 214.

[4] BAG NZA 2011, 703; Fitting, BetrVG, 28. Aufl., 2016, § 93, Rn. 5.

[5] BAG, Beschluss vom 23. Juni 2010 – 7 ABR 3/09 –, NZA 2010, 1361 = BAGE 135, 57, Rn. 29.

[6] Zustimmend Düwell in LPK-SGB IX, 4. Aufl., 2014, § 81, Rn. 115; Faber in Feldes/ Kohte/ Stevens-Bartol, SGB IX, 3. Aufl., 2015, § 81, Rn. 12.

[7] Kohte in KKW, Kommentar zum Sozialrecht, 4. Aufl., §§ 81, 82 SGB IX, Rn. 4.

[8] Rosendahl: Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung – unmittelbar klagbarer Anspruch auch auf eine konkrete Tätigkeit möglich – Anmerkung zu LAG Frankfurt, Urteil v. 05.11.2012 – 21 Sa 593/10; Forum B, Beitrag B3-2013 unter www.reha-recht.de, Seite 4; 20.08.2013.

[9] Faber in Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX, 3. Aufl., § 81, Rn. 41.

[10] Kohte in KKW, Kommentar zum Sozialrecht, 4. Aufl., §§ 81, 82 SGB IX, Rn. 10 m. w. N.

[11] Kohte/Liebsch, jurisPR-ArbR 11/2016 Anm. 1.

[12] Fitting, BetrVG, 28. Aufl., § 80, Rn. 28; Kohte/Schulze-Doll in Düwell, BetrVG, 4. Aufl., § 80, Rn. 36 f.; Thüsing in Richardi, BetrVG, 15. Aufl., § 80, Rn. 39; Buschmann in DKKW, BetrVG, 15. Aufl., § 80, Rn. 54.

[13] BAG, Beschluss vom 15. Oktober 2013 – 1 ABR 25/12 – Rn. 25, NZA 2014, 214.

[14] So bereits BAG, Beschluss vom 10. November 1992 – 1 ABR 21/92 –, BAGE 71, 337–350, Rn. 48.

[15] Bis hierhin erfolgt die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber in Höhe des vollen Bruttoeinkommens, § 3 EntgFG.

[16] In der Höhe beläuft sich das Krankengeld auf 70 % des regelmäßigen Bruttoeinkommens, wobei 90 % des Nettoeinkommens nicht überstiegen werden dürfen; im Einzelnen siehe §§ 44 Abs. 1 und 3, 46, 47 SGB V.

[17] Das Arbeitslosengeld beträgt 60 bis 67 % des pauschalierten Nettoentgelts, welches sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, das die oder der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat, § 149 SGB III.

[18] Siehe ausführlich zum „leistungsrechtlichen Begriff des Beschäftigungsverhältnisses in der Arbeitslosenversicherung“ BSG, Urteil vom 05. Februar 1998 – B 11 AL 55/97 R –, Rn. 14 m. w. N.

[19] Rosendahl: Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung – unmittelbar klagbarer Anspruch auch auf eine konkrete Tätigkeit möglich – Anmerkung zu LAG Frankfurt, Urteil v. 05.11.2012 – 21 Sa 593/10; Forum B, Beitrag B3-2013 unter www.reha-recht.de, Seite 5; 20.08.2013.


Stichwörter:

Arbeitslosengeld, Behinderungsgerechte Beschäftigung, Eignung (fehlende gesundheitliche), Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung, Personalpolitik, Schwerbehindertenarbeitsrecht, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Arbeitnehmerüberlassung/AÜG, Berufliche Rehabilitation, Berufliche Teilhabe


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