27.03.2015 B: Arbeitsrecht Beyer: Beitrag B5-2015

Der Umgang mit schwerbehinderten Bewerbern – warum ist das eigentlich immer noch so schwer?
Anmerkungen zu BAG, Urteil vom 22.08.2013 - 8 AZR 563/12 – unter Berücksichtigung von BAG, Urteil vom 18.09.2014 – 8 AZR 759/13 sowie LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2014 – 1 Sa 13/14

Der Autor beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Entschädigungsanspruch eines schwerbehinderten Bewerbers wegen einer behinderungsbedingten Benachteiligung. Er bespricht dazu eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 22. August 2013.

Das Gericht hatte sich damit zu befassen, ob der Kläger durch eine unterbliebene Einladung zum Vorstellungsgespräch diskriminiert wurde. Der Senat hat der Revision des Klägers stattgegeben, das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an die vorherige Instanz zurückverwiesen. Unterlässt der öffentliche Arbeitgeber entgegen § 82 S. 2 SGB IX, einen schwerbehinderten, fachlich geeigneten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, so sei dies dem BAG nach ein „Indiz“, welches für das Vorliegen einer Benachteiligung wegen Behinderung sprechen kann.

Der Autor diskutiert die Entscheidung kritisch und bespricht, wie sich die Pflichten von Arbeitgeber und Bewerber bedingen können. Dabei geht er auch auf die Entscheidung des BAG vom 18. September 2014 sowie auf die des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 3. November 2014 ein.

(Zitiervorschlag: Beyer: Der Umgang mit schwerbehinderten Bewerbern – warum ist das eigentlich immer noch so schwer? Anmerkungen zu BAG, Urteil vom 22.08.2013 - 8 AZR 563/12 – unter Berücksichtigung von BAG, Urteil vom 18.09.2014 – 8 AZR 759/13 sowie LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2014 – 1 Sa 13/14; Forum B, Beitrag B5-2015 unter www.reha-recht.de; 27.03.2015)


I.       Thesen des Autors

  1. Nach § 82 S. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) IX kann ein öffentlicher Arbeitgeber bei einer externen Stellenausschreibung nur unter engen Voraussetzungen von der Einladung eines schwerbehinderten Bewerbers zu einem Vorstellungsgespräch absehen. Wirksam begrenzen kann er den Kreis der Einzuladenden über ein trennscharfes Anforderungsprofil.

  2. Unzulässig ist, den geeigneten Bewerber schriftlich auf die Vielzahl weiterer qualifizierter Bewerber sowie die Mühen eines Vorstellungsgespräches hinzuweisen und ihm nahezulegen, auf dieses zu verzichten.

  3. Der schwerbehinderte Bewerber ist gehalten, seine Schwerbehinderteneigenschaft in den Bewerbungsunterlagen an hervorgehobener Stelle anzugeben, will er sich wirksam auf diese berufen.

II.      Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Wird ein schwerbehinderter Mensch nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen, wird grundsätzlich vermutet, dass er wegen seiner Behinderung benachteiligt wurde, § 22 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Unterlässt der öffentliche Arbeitgeber entgegen § 82 S. 2 SGB IX, einen schwerbehinderten, fachlich geeigneten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, so ist dies eine geeignete Hilfstatsache („Indiz“), die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Benachteiligung wegen Behinderung spricht.

  2. Allein die Tatsache, dass nach der ersten Ablehnung zwei Einladungen zu Vorstellungsgesprächen ausgesprochen worden sind, lässt die Vermutungswirkung nicht rückwirkend entfallen. Der Verfahrensfehler kann nicht nachträglich „geheilt“, der Verstoß gegen § 82 S. 2 SGB IX nicht „rückgängig“ und quasi „ungeschehen“ gemacht werden.

III.    Sachverhalt

Das beklagte Land, hier das Präsidium für Technik, Logistik und Verwaltung als interner Dienstleister der hessischen Polizei, veröffentlichte im Mai 2010 eine Stellenanzeige, mit der es mehrere auf ein Jahr befristete Stellen (Elternzeitvertretung) ausschrieb. Der Kläger fügte seiner Bewerbung seinen Lebenslauf, diverse Zeugnisse und die Kopie des Schwerbehindertenausweises bei, worauf er im Anschreiben unter „Anlagen“ mit „Kopie Schwerbehindertenausweis“ hinwies. Nach der schriftlichen Eingangsbestätigung erhielt der Kläger ein Schreiben vom 26. Juli 2010, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass sich das beklagte Land bei der Stellenbesetzung nicht für ihn entschieden habe. Der Kläger verlangte daraufhin Mitte August 2010 eine Entschädigung in Höhe von 5.816,37 Euro, weil ihn das beklagte Land trotz Befähigung für die ausgeschriebene Stelle nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen habe. Daraufhin informierte das Präsidium den Kläger darüber, dass es sich bei dem Absageschreiben um ein Missverständnis und ein Büroversehen gehandelt habe und das Auswahlverfahren fortgesetzt werde. Man habe den Kläger in den engeren Bewerberkreis für die Stelle als Mitarbeiter/in im SAP[1]-Team der Vergabestelle aufgenommen und lade ihn daher zu einem Vorstellungsgespräch am 25. August um 10.30 Uhr in die Dienststelle ein. Der Kläger ließ durch seinen Anwalt mitteilen, dass er an diesem Termin nicht teilnehmen könne, da er aufgrund der Mitteilung zum Abschluss des Bewerbungsverfahrens aus gesundheitlichen Gründen terminliche Dispositionen getroffen habe, die nun nicht mehr verschoben werden könnten. Mit Schreiben vom 2. September wurde der Kläger schließlich zu einem weiteren Vorstellungsgespräch, diesmal am 8. September, eingeladen. Auf dieses Schreiben, das dem Kläger erst am 6. September zuging, reagierte er nicht.       

Auf seine am 9. September beim zuständigen Arbeitsgericht (AG) eingereichte Klage hat dieses das beklagte Land zur Zahlung einer Entschädigung von 2.908,18 Euro (anderthalb Bruttomonatsgehälter) verurteilt.        

Auf die Berufung des beklagten Landes hat das Hessische Landesarbeitsgericht (LAG) die Klage insgesamt abgewiesen.

IV.    Würdigung

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat der Revision des Klägers stattgegeben, das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das LAG zurückverwiesen.    

Schaut man sich die Entscheidungen auf dem Weg zum Revisionsurteil an, scheint es um eine schwierige rechtliche Frage zu gehen. Eingeklagt wurden rund 5.800 Euro, das AG sprach davon die Hälfte zu, das LAG gar nichts, das BAG verwies schließlich zur erneuten Verhandlung an das Berufungsgericht zurück.          

Dabei geht es im Kern nur um eine, auf den ersten Blick gar nicht so komplizierte Vorschrift, nämlich um § 82 S. 2 und S. 3 SGB IX.[2] Unterbleibt die damit erforderliche Einladung zu Unrecht, hat der schwerbehinderte Bewerber nach gefestigter Rechtsprechung des BAG folgende Möglichkeit: Er kann nach § 15 Abs. 1 AGG einen Schadenersatz- oder nach § 15 Abs. 2 AGG einen Entschädigungsanspruch geltend machen. Beide müssen innerhalb einer Frist von zwei Monaten schriftlich gegenüber dem Arbeitgeber geltend gemacht werden (§ 15 Abs. 4 AGG). Außerdem muss gemäß § 61b Abs. 1 Arbeitsgerichtsgesetz innerhalb von drei Monaten nach der schriftlichen Geltendmachung des Anspruchs Klage erhoben werden.     

In den meisten Fällen – so auch hier – wird ein Entschädigungsanspruch geltend gemacht, da er wesentlich leichter durchzusetzen ist. Anspruchsvoraussetzung für einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG ist nämlich nicht, dass der Arbeitgeber selbst oder eine für ihn tätig werdende Person schuldhaft gehandelt hat. Der Entschädigungsanspruch setzt somit kein Verschulden oder gar eine Benachteiligungsabsicht voraus. Vielmehr geht es um eine Zurechnung der objektiven Handlungsbeiträge oder Pflichtverletzungen der für den Arbeitgeber handelnden Personen im vorvertraglichen Vertrauensverhältnis.[3] Bedient sich der Arbeitgeber bei der Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses eigener Mitarbeiter oder Dritter (z. B. der Bundesagentur für Arbeit), so trifft ihn die volle Verantwortlichkeit für deren Verhalten. Das beklagte Land konnte sich daher auch nicht mit Erfolg auf ein „Missverständnis bzw. Büroversehen“ berufen. Nach seinem Vorbringen war das Absageschreiben von einer damaligen Auszubildenden unterschrieben und verschickt worden, die von keinem zuständigen Mitarbeiter der Personalabteilung eine entsprechende Weisung erhalten hatte. Es bedurfte weder der Zurechnung eines schuldhaften Fehlverhaltens der Auszubildenden oder gegebenenfalls anderer Mitarbeiter nach § 278 BGB noch einer Zurechnung nach § 831 BGB. Der Entschädigungsanspruch setzt demnach nur eine objektive Pflichtverletzung voraus. Jeder Arbeitgeber hat seine Personalangelegenheiten so zu organisieren, dass die gesetzlichen Pflichten zur Förderung schwerbehinderter Bewerber erfüllt werden.[4] Das Bewerbungsverfahren hat er fair und diskriminierungsfrei auszugestalten. Die für ihn handelnden Personen, auch Auszubildende, sind ihrerseits gehalten, insbesondere die Pflicht des § 82 S. 2 SGB IX zu erfüllen.        

Damit für den öffentlichen Arbeitgeber die Pflicht zur Einladung zum Vorstellungsgespräch an die Bewerbung eines schwerbehinderten Menschen geknüpft ist, muss die Schwerbehinderung für ihn anhand der Bewerbungsunterlagen erkennbar sein. Hierfür ist, wie der 8. Senat im September 2014 entschieden hat, ausreichend, dass den Bewerbungsunterlagen eine Kopie der Vorderseite des Schwerbehindertenausweises beigefügt ist, auch wenn aus dieser der Grad der Behinderung (GdB) nicht hervorgeht.[5] Wird der Besitz eines Schwerbehindertenausweises nicht nachgewiesen, wozu keine Pflicht besteht[6], so muss die Schwerbehinderung mit dem GdB und bei einem geringeren Grad als 50 auch die Gleichstellung mitgeteilt werden[7], um den Schutz der §§ 68 ff. SGB IX zu erlangen. Jedoch reicht die Angabe der Schwerbehinderteneigenschaft bzw. Gleichstellung nur dann aus, wenn sie auch an geeigneter Stelle in den Bewerbungsunterlagen geschieht. Im Falle einer Behinderung oder Schwerbehinderung wird nämlich ein Merkmal mitgeteilt, über das nicht jeder Bewerber verfügt. Wegen der Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme auf die Interessen und Rechte des Vertragspartners (§ 241 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB) ist nach zutreffender Auffassung des BAG bei einer Bewerbung der Arbeitgeber über die besondere Situation des Bewerbers klar und eindeutig zu informieren. Daher sind „eingestreute“ oder unauffällige Informationen, indirekte Hinweise in beigefügten amtlichen Dokumenten, eine in den weiteren Bewerbungsunterlagen befindliche Kopie des Schwerbehindertenausweises usw. keine ordnungsgemäße Information des angestrebten Vertragspartners.[8] In dieser Hinsicht hat der Kläger im vorliegenden Verfahren jedoch alles richtig gemacht: Die beigefügte Kopie seines Schwerbehindertenausweises hat er in seinem Anschreiben ausdrücklich als Anlage angeführt.    

Somit blieb dem beklagten Land nur der Versuch, das versäumte Vorstellungsgespräch nachzuholen. Ein weiterer Ausweg wäre, wie das LAG Baden-Württemberg im November 2014 zutreffend festgestellt hat, nicht gangbar gewesen[9]: Ein öffentlicher Arbeitgeber macht den gesetzlich intendierten Chancenvorteil des schwerbehinderten Bewerbers zunichte, wenn er diesem zwar ein Vorstellungsgespräch in Aussicht stellt, gleichzeitig aber dem schwerbehinderten Bewerber mitteilt, dessen Bewerbung habe nach der „Papierform“ nur eine geringe Erfolgsaussicht, weshalb der schwerbehinderte Bewerber mitteilen möge, ob er das Vorstellungsgespräch wahrnehmen wolle. Eine solch „abschreckende“ Einladung begründet gemäß § 22 AGG die Vermutung der Benachteiligung wegen der Behinderung. Der beklagte Landkreis hatte dem schwerbehinderten Bewerber wörtlich geschrieben:

„Unser Stellenangebot ist auf das Interesse von nahezu 100 Bewerberinnen und Bewerbern gestoßen, darunter eine ganze Reihe, deren Profil unseren Erwartungen an den Stelleninhaber oder die -inhaberin stärker entspricht als das Ihrige. Als öffentlicher Arbeitgeber berücksichtigen wir Bewerbungen von Schwerbehinderten entsprechend den Zielen des Schwerbehindertenrechts, d. h. wir geben Schwerbehinderten auch die Gelegenheit sich persönlich vorzustellen. Bitte teilen Sie uns mit, ob Sie trotz der geringen Erfolgsaussichten ein Bewerbungsgespräch wünschen und die doch längere Anreise auf sich nehmen.“        

Auch diesen Versuch ließ der 8. Senat nicht gelten. Der Verfahrensfehler könne nicht nachträglich „geheilt“, der Verstoß gegen § 82 S. 2 SGB IX nicht „rückgängig“ und quasi „ungeschehen“ gemacht werden. Durch den „actus contrarius“ einer nachträglichen Einladung werde die ursprüngliche Nichteinladung – und schriftliche Absage – nicht zu einem rechtlich unbeachtlichen „nullum“. Weder eine später vorgenommene Einstellung noch eine tatsächliche Beschäftigung könne eine einmal erfolgte ungünstigere Behandlung „aufheben“ und damit einen Entschädigungsanspruch beseitigen.[10] Außerdem weist das BAG darauf hin, dass der Gesetzgeber im SGB IX vereinzelt und gezielt „Heilungsvorschriften“ oder Mechanismen zur „Nachbesserung“ vorgesehen habe, nicht jedoch bei § 82 S. 2 SGB IX. So bestimme § 95 Abs. 2 S. 1 SGB IX, dass der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören habe. Falls diese Beteiligung unterblieben sei, sei die Durchführung oder Vollziehung der Entscheidung auszusetzen und die Beteiligung innerhalb von sieben Tagen nachzuholen; erst danach sei endgültig zu entscheiden (§ 95 Abs. 2 S. 2 SGB IX).        

Im Übrigen eröffnet die nachträgliche Einladung nach Ansicht des BAG einem zunächst abgelehnten Bewerber de facto keineswegs dieselbe „Chance“ einer Einstellung wie eine ursprüngliche Einladung, sondern, wenn überhaupt, nur eine erheblich verminderte Chance – ein deutliches „Minus“, wenn nicht gar einen „Malus“. Der durch § 82 S. 2 SGB IX intendierte „Chancenvorteil“ gegenüber nicht schwerbehinderten Bewerbern entfalle ab dem Moment, in dem ein Bewerber einen Schadensersatz- oder Entschädigungsanspruch wegen unterbliebener Einladung zu einem Vorstellungsgespräch geltend gemacht habe. Die nachträgliche Einladung sei kein funktional angemessener Ersatz für die unterbliebene Einladung, d. h. sie könne die angestrebten Funktionen nicht mehr erfüllen. Hinzu komme eine nicht unerhebliche Missbrauchs- und Umgehungsgefahr. Ein Arbeitgeber könnte sich bewusst eine „Hintertür“ offen lassen, d. h. zunächst von der Einladung schwerbehinderter Bewerber absehen, um dann nur bei entsprechender Rüge des nicht Eingeladenen doch noch einzuladen. So hätte es ein Arbeitgeber in der Hand, durch gezielte nachträgliche Einladungen und ggf. rein „formale“ Vorstellungsgespräche Ansprüche aus dem AGG ins Leere laufen zu lassen.

V.     Kritik

All diese Überlegungen sind richtig, vermögen aber letztlich nicht vollständig zu überzeugen. Unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des § 82 SGB IX ist jedoch der Sichtweise des LAG im Ergebnis eher zuzustimmen. Der Vorschrift geht es nicht darum, schwerbehinderten Bewerbern auf Stellen im öffentlichen Dienst einen Schadensersatz- oder Entschädigungsanspruch zu erleichtern. Sie ist auch nicht Selbstzweck. Vielmehr soll sie öffentliche Arbeitgeber anhalten, sich ein persönliches Bild von dem Bewerber zu verschaffen und den schwerbehinderten Bewerbern die Möglichkeit eröffnen, sich im Vorstellungsgespräch mit ihren Fähig- und Fertigkeiten präsentieren zu können. Letztlich führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass die Bereitschaft eines Arbeitgebers zur Einstellung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nicht durch eine Verfahrensvorschrift beeinflusst werden kann. Ob die Einladung zum Vorstellungsgespräch ernst gemeint ist und ein echtes Einstellungsinteresse besteht, lässt sich aus der Einhaltung des § 82 SGB IX jedenfalls nicht entnehmen. Für das beklagte Land lässt sich ein ernsthaftes Interesse eher daraus ableiten, dass es im Ergebnis einen anderen schwerbehinderten Bewerber eingestellt hat, der zuvor auch ein Ablehnungsschreiben erhalten hatte.[11]          

Dass das BAG seine „reine Lehre“ selbst nicht wirklich überzeugt, lässt sich aus seinen abschließenden Überlegungen zum „Motivbündel“ ablesen, die er dem Berufungsgericht mit auf den Weg gibt: Wenn die festgestellten Tatsachen eine Benachteiligung wegen der Behinderung vermuten lassen, trägt der Arbeitgeber nach § 22 AGG die Beweislast dafür, dass eine solche Benachteiligung nicht vorgelegen hat. Er muss das Gericht davon überzeugen, dass die Benachteiligung nicht (zumindest auch) auf der Behinderung beruht hat. Damit muss er Tatsachen und Umstände vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass es ausschließlich andere Gründe waren als die Behinderung, die zu der weniger günstigen Behandlung geführt haben, und in seinem Motivbündel weder die Behinderung als negatives noch die fehlende Behinderung als positives Kriterium enthalten war.[12] Dabei kommen auch Umstände, Geschehnisse und Verhaltensweisen in Betracht, die zeitlich nach der Benachteiligung liegen. Mit der Benachteiligung, die spätestens zum Zeitpunkt des Ablehnungsschreibens vorliegt, tritt insoweit keine zeitliche Zäsur oder „Berücksichtigungssperre“ ein. Vielmehr können sich aus dem weiteren Verlauf des Verfahrens sowohl Indizien, die für eine Benachteiligung sprechen, ergeben, als auch solche, die den Arbeitgeber entlasten. Es ist mithin möglich und zulässig, aus späteren Verhaltensweisen des Arbeitgebers bzw. der für ihn handelnden Personen Rückschlüsse darauf zu ziehen, dass in dem zur Benachteiligung führenden „Motivbündel“ kein diskriminierendes Element enthalten gewesen war.    

Der öffentliche Arbeitgeber hat nur die Möglichkeit, auf die Bewerbung eines schwerbehinderten Bewerbers diesen nicht zum Vorstellungsgespräch einzuladen, wenn seine fachliche Eignung für die ausgeschriebene Stelle offensichtlich fehlt (§ 82 S. 3 SGB IX).[13] Die Nichteignung ist damit objektiv feststellbar im Sinne der Ausschreibung.[14] Dies setzt jedoch ein trennscharfes Anforderungsprofil voraus. „Langjährige Berufserfahrung“ oder „gute Kenntnisse in …“ reichen nicht aus. Erforderlich ist vielmehr z. B. eine „dreijährige Tätigkeit als …“ oder „mindestens einen Abschluss der … mit der Note befriedigend“.   

Das BAG weist in seinem Urteil vom 18. September 2014 zutreffen auf die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme auf die Interessen und Rechte des Vertragspartners (§ 241 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB) hin. Diese Pflicht gilt im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens sowohl für den potentiellen Arbeitgeber als auch für den Bewerber und damit potentiellen Arbeitnehmer. Dies ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, kann man sich ansonsten eine verlässliche[15] Zusammenarbeit im angestrebten gemeinsamen Arbeitsverhältnis nur schwerlich vorstellen. Es ist grundsätzlich durchaus so, dass der Arbeitgeber zu keinem Zeitpunkt in einer so starken Position ist wie bei der Einstellung. Dieser Position hat der Gesetzgeber in § 82 S. 2 und 3 SGB IX sowie dem AGG ausgewogene und wohldurchdachte Grenzen gesetzt, welche in der aktuellen Rechtsprechung des BAG bestätigt und ausgestaltet werden. Andererseits muss aber auch der schwerbehinderte Bewerber „mit offenen Karten spielen“ und auf seine Schwerbehinderung in entsprechender Weise hinweisen. So bedingen sich die Pflichten von Arbeitgeber und Bewerber.

Beitrag von Christoph Beyer, Landesverwaltungsdirektor, LVR-Integrationsamt

Fußnoten:

[1] SAP ist ein Softwarehersteller, zeitweise stand der Name auch synonym für das zentrale Softwareprodukt des Unternehmens.

[2] § 82 S. 2 und S. 3 SGB IX bestimmen: Haben schwerbehinderte Menschen sich um einen frei werdenden und neu zu besetzenden sowie neuen Arbeitsplatz bei einem öffentlichen Arbeitgeber beworben, werden sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Eine Einladung ist entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt.

[3] Vgl. BAG, Urteil vom 16.09.2008 – 9 AZR 791/07.

[4] BAG, Urteil vom 16.09. 2008 – 9 AZR 791/07.

[5] BAG, Urteil vom 18.09.2014 – 8 AZR 759/13.

[6] BAG, Urteil vom 13.10.2011 – 8 AZR 608/10.

[7] BAG, Urteil vom 26.09.2013 – 8 AZR 650/12.

[8] BAG, a.a.O. sowie BAG, Urteil vom 26.09.2013 – 8 AZR 650/12.

[9] LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2014 – 1 Sa 13/14.

[10] Vgl. BAG, Urteil vom 18.03.2010 – 8 AZR 1044/08.

[11] Beyer, jurisPR-ArbR 48/2012 Anm. 3 zur Entscheidung des Berufungsgerichts, LAG Frankfurt, Urteil vom 07.12.2011 – 2 Sa 851/11.

[12] BAG 24.01.2013 – 8 AZR 188/12.

[13] Nicht akzeptabel und mit den Zielen des SGB IX unvereinbar ist der Ansatz, den Verfassungsgrundsatz der Funktionsfähigkeit der Verwaltung zu bemühen, um bei einer hohen Zahl von schwerbehinderten Bewerbern den § 82 SGB IX bereits originär einschränken zu wollen, vgl. LArbG Köln, Urteil vom 23.12.2011 – 4 Sa 1008/11.

[14] So bereits BAG, Beschluss vom 31.05.1983 – 1 ABR 6/80, ein Beispiel hierzu liefert LArbG Hamm, Urteil vom 07.08.2012 – 10 Sa 916/12.

[15] Von gut oder vertrauensvoll soll hier gar nicht erst die Rede sein.


Stichwörter:

Schwerbehinderte Bewerber, Schwerbehindertenarbeitsrecht, Diskriminierung bei Einstellung, Diskriminierungsverbot, Benachteiligung wegen Behinderung, Entschädigungsanspruch, Kenntnis Arbeitgeber Schwerbehinderung, Mitteilung der Schwerbehinderung, Bundesagentur für Arbeit (BA), Diskriminierung, Benachteiligungsverbot


Kommentare (1)

  1. Stefania Becker
    Stefania Becker 17.11.2016
    Sehr geehrte Damen und Herren,

    wie ist denn das abschließende Urteil bzgl. Motivbündel usw. vom Berufungsgericht/LAG, an das das BAG das Verfahren zurückverwiesen hat, ausgegangen? Wie lautet das Aktenzeichen?

    MfG

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