02.03.2017 C: Sozialmedizin und Begutachtung Ramm: Beitrag C1-2017

Das gute Gutachten aus medizinischer und rechtlicher Sicht – Tagungsbericht zum 9. Kongress für Versicherungsmedizin und Begutachtung am 1. Dezember 2016 in Frankfurt am Main

Diana Ramm berichtet vom 9. Kongress für Versicherungsmedizin und Begutachtung zum Thema "Das gute Gutachten aus medizinischer und rechtlicher Sicht", der am 1. Dezember 2016 in Frankfurt am Main stattfand. Der erste Themenblock der Veranstaltung nahm die Qualitätsanforderungen an medizinische Gutachten in den Fokus sowie die Frage, ob fehlerhafte Gutachten Anlass für einen rechtlichen Regelungsbedarf geben.

Dazu wurden die aktuellen rechtlichen Anforderungen an medizinische Sachverständige betrachtet, mögliche Fehlerquellen im Rahmen ärztlicher Begutachtung sowie die Qualitätsanforderungen an psychiatrische und neurologische Gutachten.

Ein weiterer Themenblock befasste sich mit den Anforderungen an medizinische Gerichtsgutachten anhand der Erwartungen einer Richterin an medizinische Sachverständige und deren Gutachten. Abschließend wurde die Frage nach dem Bedarf eines Wandels in der medizinischen Begutachtung thematisiert.

(Zitiervorschlag: Ramm: Das gute Gutachten aus medizinischer und rechtlicher Sicht – Tagungsbericht zum 9. Kongress für Versicherungsmedizin und Begutachtung am 1. Dezember 2016 in Frankfurt am Main; Beitrag C1-2017 unter www.reha-recht.de; 02.03.2017)


I. Qualitätsanforderungen an medizinische Gutachten – Fehlerhafte Gutachten: Anlass für einen rechtlichen Regelungsbedarf der medizinischen Sachverständigentätigkeit?

1. Aktuelle Anforderungen an medizinische Sachverständige aus rechtlicher Sicht

Dr. Günter Offczors (Richter am Hessischen Landessozialgericht a. D.) referierte zu Beginn seines Vortrags zu den Aufgaben des medizinischen Sachverständigen im Gerichtsverfahren. Dazu gehört, dem Gericht die medizinischen Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ermöglichen über das Vorliegen bestimmter rechtlich relevanter Sachverhalte eine „Überzeugung“ zu bilden. Sachverständigen steht es hingegen nicht zu, ihrer Überzeugung Ausdruck zu geben, wie über einen streitigen Leistungsanspruch zu entscheiden sei.

Vorgaben des Gerichts im Rahmen der Sachverständigenbestellung ergeben sich aus § 404a Zivilprozessordnung (ZPO). Nach § 404a Abs. 1 ZPO hat das Gericht die Tätigkeit des Sachverständigen zu leiten und kann ihm für Art und Umfang seiner Tätigkeit Weisungen erteilen. Offczors nannte Grundsätze zur richtigen Gutachterhaltung. Dazu gehören bspw. eine empathisch geprägte Sachlichkeit sowie die Grundsätze der Neutralität, Objektivität und emotionalen Unbestechlichkeit. Er wies im Weiteren auf das "Gesetz zur Änderung des Sachverständigenrechts und zur weiteren Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sowie zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes, der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und des Gerichtskostengesetzes"[1] hin. Wesentlicher Schwerpunkt des Gesetzes sind zwar die Spezialbestimmungen für Sachverständigengutachten in Kindschaftssachen, aber das Gesetz enthält auch wichtige Neuregelungen für gerichtliche Sachverständigengutachten außerhalb des Familien- und Kindschaftsrechts. So wurde § 404 ZPO neu gefasst:

"§ 404 Sachverständigenauswahl

(1) Die Auswahl der zuzuziehenden Sachverständigen und die Bestimmung ihrer Anzahl erfolgt durch das Prozessgericht. Es kann sich auf die Ernennung eines einzigen Sachverständigen beschränken. An Stelle der zuerst ernannten Sachverständigen kann es andere ernennen.

(2) Vor der Ernennung können die Parteien zur Person des Sachverständigen gehört werden.

(3) Sind für gewisse Arten von Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt, so sollen andere Personen nur dann gewählt werden, wenn besondere Umstände es erfordern.

(4) Das Gericht kann die Parteien auffordern, Personen zu bezeichnen, die geeignet sind, als Sachverständige vernommen zu werden. (5) Einigen sich die Parteien über bestimmte Personen als Sachverständige, so hat das Gericht dieser Einigung Folge zu geben; das Gericht kann jedoch die Wahl der Parteien auf eine bestimmte Anzahl beschränken."

Es wird somit in das Ermessen des Gerichts gestellt, ob es vor Bestellung eines Sachverständigen die Parteien zu dessen Auswahl anhört.

Nach Gutachtenauftrag hat der Sachverständige unverzüglich zu prüfen, ob der Auftrag in sein Fachgebiet fällt und ohne die Hinzuziehung weiterer Sachverständiger sowie innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist erledigt werden kann. Ist das nicht der Fall, so hat der Sachverständige das Gericht unverzüglich zu verständigen. Der Sachverständige hat auch unverzüglich zu prüfen, ob ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Der Sachverständige hat dem Gericht solche Gründe unverzüglich mitzuteilen. Unterlässt er dies, kann gegen ihn ein Ordnungsgeld festgesetzt werden (§ 407a Abs. 1, 2 ZPO). Zur Fristsetzung bei schriftlichen Gutachten ist in § 411 ZPO geregelt, dass das Gericht dem Sachverständigen eine Frist setzt, innerhalb derer er das von ihm unterschriebene Gutachten zu übermitteln hat. Versäumt der Sachverständige die Frist, soll gegen ihn ein Ordnungsgeld festgesetzt werden. Das Ordnungsgeld muss vorher unter Setzung einer Nachfrist angedroht werden. Im Weiteren kann durch einen Vergütungsverlust sanktioniert werden. § 8a Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz (JVEG) bestimmt hierzu, dass der Anspruch auf Vergütung entfällt, wenn der Berechtigte es unterlässt, der heranziehenden Stelle unverzüglich solche Umstände anzuzeigen, die zu seiner Ablehnung durch einen Beteiligten berechtigen.

Der Referent zeigte als Ziel der Neuregelungen auf, dass der Gesetzgeber die Neutralität gerichtlich beigezogener Sachverständiger gewährleisten will.

2. Fallstricke und Fehler der ärztlichen Begutachtung: Erfahrungen aus drei Jahrzehnten medizinischer Sachverständigentätigkeit

Im Anschluss referierte Dr. Frank Schröter (Facharzt für Orthopädie, Sozialmedizin) zu Fallstricken und Fehlern in der ärztlichen Begutachtung. Er zeigte auf, dass die zielgerichtete Fragestellung bei der medizinischen Begutachtung eine Schlüsselrolle spielt. Als mögliche Fehlergründe, die beim Auftraggeber liegen, führte er nicht-zielführende Fragestellungen, einen möglichen unklaren Auftrag und eine mögliche unzulässige Fragestellung an. Als Fallstricke im Gutachtenauftrag benannte er eine mögliche Nicht-Kompetenz des beauftragten Gutachters für die zugrundeliegende Fragestellung, die mangelnde Dokumentation der Anknüpfungstatsachen sowie die Frage, ob der Gutachtenauftrag zeitgerecht erfüllt werden kann.

Nach Schröter ist ein korrektes Rollenverständnis von Sachverständigen durch Sachlichkeit, die Orientierung an Fakten und an gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen, die Erarbeitung von Alternativbeurteilungen sowie den Mut zum "non liquet"[2], wenn keine Beurteilung schlüssig zu begründen ist, geprägt. Im Weiteren sind Offenheit gegenüber dem Anliegen des Probanden (Empathie) geboten und Sympathie (verletzt das Neutralitätsverbot), Antipathie (drohende Befangenheit) und Nähe zum Versicherer verboten. Befangenheit eines Sachverständigen könnte durch tendenzielle Einseitigkeit, Vermutungen und Spekulationen begründet werden.

Fehler in der Begutachtung können sich z. B. durch Fehler in der Anamnese- und Befunddokumentation, eine fehlerhafte Bildinterpretation, durch fehlerhafte Diagnosen sowie dadurch ergeben, dass der zugrundeliegende Akteninhalt als bekannt vorausgesetzt wird. Grobe gutachterliche Fehler ergeben sich, wenn der ärztliche Sachverständige die primär angegebene Diagnose ohne eingehende Überprüfung mitgeteilter Befunde unkritisch seiner gutachterlichen Beurteilung zugrunde legt. Zum Abschluss resümierte Schröter, dass juristische Autorität und medizinische Expertise das richtige Urteil ergeben.

3. Qualitätsanforderung an psychiatrische und neurologische Gutachten: Fehler erkennen, Fehler vermeiden

Zum Ende des ersten Themenblocks sprach Prof. Dr. Harald Dreßing (Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim) zu Qualitätsanforderungen an psychiatrische und neurologische Gutachten. Dreßing stellt den Ablauf eines gutachterlichen Gesprächs dar. Ziel sei es, eine entspannte und angstfreie Atmosphäre zu schaffen. In der Regel gehe Spontanität vor rigide Gesprächsführung. Er wies darauf hin, dass die Anwesenheit von professionellen Dolmetschern notwendig ist, wenn die Sprachkenntnisse von ausländischen Probanden nicht ausreichen. Dabei muss eine wörtliche Übersetzung erfolgen, um bspw. formale Denkstörungen zu erfassen und ein erheblich höherer Zeitaufwand einkalkuliert werden. Zu berücksichtigen ist auch ein anderes Schmerzempfinden bei Probanden bspw. aus dem ländlichen Mittelmeerraum und dem islamischen Kulturkreis.

Im Rahmen der Begutachtung hat der Sachverständige die Authentizität von Beschwerdeschilderungen nicht stillschweigend vorauszusetzen. Es muss vielmehr die Validität der Beschwerden sorgfältig überprüft werden. Zur professionellen Begutachtung in der Psychiatrie gehört ein psychopathologischer Befund. Dieser und eine Verhaltensbeobachtung sind die Basis des Gutachtens. Eine Objektivierung von Befunden durch psychometrisches Messen, psychophysiologische Untersuchungen und Bildgebungsverfahren sind an dieser Stelle für die Beurteilung sekundär. Relevant sind vielmehr die Auswirkungen auf der Befundebene.

Abschließend zog Dreßing das Fazit, dass es eine objektive Begutachtung im Sinne eines maschinellen Prozesses nicht geben kann und wird – dies gilt nicht nur für psychiatrische Gutachten, sondern auch für alle anderen medizinischen Disziplinen. Basis bleibt bei der psychiatrischen Begutachtung der psychopathologische Befund, es handelt sich um ein reproduzierbares Ergebnis, sofern professionelle Standards beachtet werden.

II. Anforderungen an medizinische Gerichtsgutachten

1. Erwartungen einer Richterin an medizinische Sachverständige und deren Gutachten

Anne-Kathrin Deppermann-Wöbbeking (Vorsitzende Richterin am Hessischen Landessozialgericht) sprach aus ihrer Sicht zu Erwartungen an medizinische Sachverständige und Gutachten.

Nach Auftragserteilung ist durch den Sachverständigen unverzüglich zu prüfen, ob der Auftrag in das Fachgebiet des Sachverständigen (Kompetenz) fällt und ob ggf. die notwendige apparative Ausstattung vorhanden ist. Im Weiteren ist zu klären, ob die nötige Distanz zum Probanden besteht und die Erstattung des Gutachtens in angemessener Zeit realisiert werden kann. Im zweiten Schritt ist zu prüfen, ob der Auftrag richtig verstanden wird und alle notwendigen Informationen seitens des Gerichts vorliegen. Wichtig ist dabei immer eine Rückkoppelung, sofern Unklarheiten bestehen oder auftreten.

Vor der Begutachtung wird ein gründliches Studium der Akten zur Vorbereitung, gerade bei psychiatrischen Gutachten, erwartet. Wünschenswert wäre nach Deppermann-Wöbbeking die Benachrichtigung des Gerichts zum geplanten Untersuchungstermin, bspw. durch Übersendung der Einladung. So ist das Zeitfenster transparenter und Sachstandsnachfragen erübrigen sich. Während der Untersuchung ist es Ziel, Akzeptanz zu erreichen und Befangenheitsvorwürfe zu vermeiden. Beim Abfassen von schriftlichen Gutachten ist u. a. die Darlegung des aktuellen medizinischen Wissen­stands zu beachten. Das schriftliche Gutachten zeichnet sich durch Vollständigkeit, Sachlichkeit, rationale Argumentation (keine Spekulationen), klare Antworten auf Beweisfragen und durch eine klare und verständliche Sprache, unter Verwendung der korrekten Rechtsbegriffe, aus. Kern ist eine sachliche, neutrale und transparente Darstellung des Eindrucks von dem Probanden.

Aus sozialrichterlicher Sicht sollte sich der medizinische Sachverständige u. a. durch Kompetenz auf seinem Fachgebiet, Informiertheit (wissenschaftlicher Stand), ein gefestigtes Rollenverständnis, Schnelligkeit und durch Fähigkeit zur Selbstreflexion auszeichnen.

III. Ist ein Wandel in der medizinischen Begutachtung erforderlich?

1. Brauchen wir eine "neue Kultur" der medizinischen Begutachtung? Sachlichkeit – Verständlichkeit – Neutralität – Transparenz

Zum Abschluss des Kongresses zeigte Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann (Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie, Rheumatologie und Sozialmedizin, Leiter des Instituts für Versicherungsmedizin, Frankfurt am Main) anhand von Fundstellen in der Literatur auf, wie Sachverständige wahrgenommen werden. Er plädierte für eine Rückbesinnung auf die medizinischen Grundlagen der Begutachtung und für eine Anpassung der Begutachtung an veränderte gesellschaftliche Bedürfnisse. Zu den während des Kongressverlaufs mehrfach benannten Grundsätzen der Sachlichkeit führte Thomann aus, dass eine detaillierte und vorurteilsfreie Befragung und Untersuchung der Probanden grundlegend sind. Medizinische, psychiatrische und psychologische Befunde müssen in ein gesellschaftlich und rechtlich definiertes Koordinatensystem eingeordnet werden. Zu den grundlegenden Fachkenntnissen gehören die Kenntnis der wissenschaftlichen Literatur und Leitlinien, der Stand der Diskussion in den Fachgesellschaften und der Austausch mit Juristen.

Zur Verständlichkeit gehören u. a. die Erklärung der Rahmenbedingungen und die Dokumentation der Befunde in für Laien verständlicher Form. Um Neutralität und Unabhängigkeit zu wahren, sind mögliche Abhängigkeiten bewusst zu machen und Konfliktsituationen zu vermeiden. Gutachten, in denen ein spezielles Ergebnis erwartet wird, sind abzulehnen – Gutachtenaufträge sind stets ergebnisoffen zu bearbeiten. Gutachten sind so abzufassen, dass der Leser des Gutachtens in die Lage versetzt wird, den Prozess der Diagnosestellung nachzuvollziehen und die Aussagen zur Kausalität/Finalität verstehen und überprüfen zu können.

Beitrag von Diana Ramm, M.A., Universität Kassel

 


[1]    11. Oktober 2016; BGBl. I 2016 S. 2222 ff.

[2]    Non liquet: Es ist nicht klar.


Stichwörter:

Sachverständigengutachten, Medizinisches Sachverständigengutachten, Medizinisches Gutachten, Psychologisches Gutachten, Medizinischer Sachverständiger


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