14.02.2018 C: Sozialmedizin und Begutachtung Hollo: Beitrag C2-2018

Keine Herabsetzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen Versorgung mit einem C-Leg – Anmerkung zu BSG vom 20.12.2016 – B 2 U 11/15 R (vorgehend LSG Mecklenburg-Vorpommern vom 17.09.2014 – L 5 U 1/11)

Der Autor Dierk F. Hollo bespricht eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20.12.2016 zum Aktenzeichen B 2 U 11/15 R. Dem Urteil des BSG war vorgehend das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern) vom 17.09.2014 – L 5 U 1/11. Dieses Urteil ist bereits in einer Anmerkung vom 21.04.2016 unter www.reha-recht.de besprochen worden (Hollo: Keine Herabsetzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen Versorgung mit einem C-Leg; Beitrag C2-2016)/typo3/

Das Gericht hatte sich vorliegend mit der Frage zu befassen, ob die unfallbedingte prothetische Versorgung eines bereits mit einer Prothese versorgten oberschenkelamputierten Versicherten mit einem C-Leg zur Herabsetzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) führt, und kam zu dem Ergebnis, dass die Versorgung mit einem C-Leg trotz der damit zusammenhängenden Gebrauchsvorteile nicht zu einer wesentlichen Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen gem. § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) führt, weil die Änderung nicht wesentlich i. S. des § 73 Abs. 3 SGB VII ist. Außerdem setzte sich das BSG mit der revisionsrechtlichen Bindungswirkung von MdE-Tabellen auseinander mit dem Ergebnis, dass das Revisionsgericht an den vom Tatsachengericht zugrunde gelegten MdE-Tabellenwert gebunden sei, wenn nicht festgestellt werden könne, dass dieser Tabellenwert offensichtlich falsch sei bzw. dass er offenkundig dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens oder des Erfahrungswissens anderer einschlägiger Wissenschaftsgebiete widerspreche. Der Autor stellt in diesem Zusammmenhang Überlegungen an den Gesetzgeber, in § 56 Abs. 2 SGB VII eine Ermächtigung zum Erlass von MdE-Tabellen zu normieren, die den Kriterien des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) genügen würde.

(Zitiervorschlag: Hollo: Keine Herabsetzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen Versorgung mit einem C-Leg –Anmerkung zu BSG vom 20.12.2016 – B 2 U 11/15 R (vorgehend LSG Mecklenburg-Vorpommern vom 17.09.2014 – L 5 U 1/11); Beitrag C2-2018 unter www.reha-recht.de; 15.02.2018)

I. Thesen des Autors

  1. Die Versorgung eines im Oberschenkel beinamputierten und bereits prothetisch versorgten Klägers mit einem C-Leg führt trotz der damit zusammenhängenden Gebrauchsvorteile (Verbesserung von Mobilität und Koordination, Vergrößerung des Aktionsradius usw.) nicht zu einer wesentlichen Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen gem. § 48 Abs. 1 SGB X, weil die Verbesserungen durch die prothetische Versorgung nicht wesentlich i. S. des § 73 Abs. 3 SGB VII seien und nach § 56 Abs. 2 SGB VII keine Festsetzung einer Verletztenrente in geringerer Höhe begründen würden.
  2. Das Revisionsgericht ist an den vom Tatsachengericht zugrunde gelegten MdE-Tabellenwert gebunden, wenn nicht festgestellt werden kann, dass dieser Tabellenwert offensichtlich falsch ist bzw. offenkundig dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens oder des Erfahrungswissens anderer einschlägiger Wissenschaftsgebiete widerspricht.
  3. Es würde einen Gewinn an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit darstellen, wenn der Gesetzgeber selbst in § 56 Abs. 2 SGB VII eine Ermächtigung zum Erlass von MdE-Tabellen ausspräche, die den Kriterien des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG genügt. Dabei wäre der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber auch berufen, die allgemeinen Maßstäbe und das Verfahren der Erstellung der MdE-Tabellen – wie es etwa durch die Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (Bundesgesetzblatt I 2008, 2412) (juris: VersMedV) für die Bestimmung des Grades der Behinderung i.S.v. § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX (§ 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX a.F.) im Recht der schwerbehinderten Menschen und für den Grad der Schädigungsfolgen nach § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) im sozialen Entschädigungsrecht geschehen ist – zu normieren.
  4. Die Unfallverletzten sind nicht nur in ihrer Erwerbstätigkeit, sondern insbesondere in ihrer gesamten Persönlichkeit in allen Lebensbereichen betroffen, so dass der irreführende Ausdruck „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ durch die Bezeichnung „Grad der Schädigungsfolge“ ersetzt werden sollte, weil sich der angemessene Ausgleich nicht nur auf das Erwerbsleben beschränken, sondern die Bewertung die Funktionseinschränkungen in sämtlichen Lebensbereichen umfassen sollte. In diesem Fall wäre weitergehend zu erwägen, die versorgungsmedizinischen Grundsätze der Anlage zu § 2 VersMedV als einheitliche Tabelle für die Bewertung von Funktionsstörungen in sämtlichen Bereichen des gesamten Sozialrechts anzuwenden.

II. Wesentliche Aussage der Entscheidung (Orientierungssatz)

  1. Das Revisionsgericht ist an den vom Tatsachengericht zugrunde gelegten MdE-Tabellenwert gebunden, wenn nicht festgestellt werden kann, dass dieser Tabellenwert offensichtlich falsch ist bzw. offenkundig dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens oder des Erfahrungswissens anderer einschlägiger Wissenschaftsgebiete widerspricht.
  2. Es würde einen Gewinn an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit darstellen, wenn der Gesetzgeber selbst in § 56 Abs. 2 SGB VII eine Delegation zum Erlass von MdE-Tabellen aussprechen würde, die den Kriterien des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG genügen würde. Dabei wäre der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber auch berufen, die allgemeinen Maßstäbe und das Verfahren der Erstellung der MdE-Tabellen – wie es etwa durch die Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 – BGBl. I, 2008. 2412 (juris: VersMedV) für die Bestimmung des Grades der Behinderung i. S. v. § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX und im sozialen Entschädigungsrecht für den Grad der Schädigungsfolgen nach § 30 Abs. 1 BVG geschehen ist – zu normieren.

III. Der Sachverhalt

Der 1981 geborene Kläger erlitt am 02.07.1998 einen von der Beklagten anerkannten Schulunfall, der u. a. zu einem Verlust des linken Beines im Bereich des Oberschenkels führte. Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 05.07.2001 eine Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 70 v. H. Auf seinen Antrag hin wurde dem bereits mit einer Oberschenkelprothese versorgten Kläger im März 2006 eine Oberschenkelprothese mit mikroprozessor-gesteuertem Kniegelenk (C-Leg) bewilligt. Nach Einholen medizinischer Stellungnahmen hob die Beklagte nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 05.06.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2007 den Bescheid vom 05.07.2001 wegen einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen gem. § 48 SGB X auf und gewährte dem Kläger eine Rente nur noch nach einer MdE von 60 v. H. mit der Begründung, dass nach der Versorgung des amputierten Beines mit einer C-Leg-Prothese eine deutliche Funktionsverbesserung des amputierten linken Beines eingetreten sei; denn der Kläger verfüge nunmehr über ein flüssiges Gangbild und über eine erhöhte Stand- und Gangsicherheit. Das Sozialgericht hat die Bescheide der Beklagten aufgehoben (Urteil vom 29.07.2010) und das LSG die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 17.09.2014). Die Voraussetzungen für eine Herabsetzung lägen nicht vor, weil nach der Versorgung des Klägers mit einer C-Leg-Prothese zwar eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten, diese Änderung jedoch nicht wesentlich sei; grundsätzlich würden bei prothetischer Versorgung die verbleibenden Funktionseinschränkungen unabhängig von der konkreten Art der Versorgung und unabhängig vom Erfolg der prothetischen Versorgung und einer eventuellen Funktionsverbesserung bewertet.

IV. Die Entscheidung

Die von der Beklagten eingelegte und zugelassene Revision hat das BSG mit Urteil vom 20.12.2016 zurückgewiesen: Zwar sei durch die Versorgung des Klägers mit der C-Leg-Prothese eine Verbesserung der Mobilität, der Koordination und des Aktionsradius eingetreten; diese Änderung sei jedoch nicht wesentlich; denn sie führe nicht zu einer Herabsetzung der MdE. Zwar sei die Bemessung des Grades der MdE nach ständiger Rechtsprechung eine tatsächliche Feststellung, die das Tatsachengericht unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles gem. § 128 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen richterlichen Überzeugung treffe. Das Revisionsgericht könne grundsätzlich nur auf Rüge prüfen, ob das Tatsachengericht bei der Beweiswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen und ob es das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt habe. Es bestünden keine revisionsrechtlichen Bedenken gegen die Anwendung der MdE-Tabellen durch das LSG. Der revisionsrechtlichen Überprüfung unterliege jedoch die Anwendung der den MdE-Tabellenwerten zugrundeliegenden allgemeinen bzw. wissenschaftlichen Erfahrungssätze in dem Umfang, ob diese Tabellenwerte offensichtlich falsch seien bzw. offenkundig dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens oder des Erfahrungswissens anderer einschlägiger Wissenschaftsgebiete widersprächen. Wie die nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats revisionsrechtlich überprüfbaren allgemeinen (generellen) Tatsachen („Rechtstatsachen“), die für die Auslegung bzw. für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm – z. B. der Feststellung der Berufskrankheit gem. BKV Anl. Nr. 1317[1] - erforderlich seien, seien auch die MdE-Tabellenwerte allgemeine (generelle) Tatsachen, die für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm – nämlich des in § 56 Abs. 2 SGB VII verwendeten Begriffs der MdE – und damit für eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle relevant seien. Diese Rechtstatsachen unterlägen nicht der in § 163 SGG angeordneten Bindung des Revisionsgerichtes an tatrichterliche Feststellungen. Würde ein Tatsachengericht solche allgemein akzeptierten MdE-Tabellen anwenden, sei revisionsrechtlich die Prüfung der Revisionsinstanz (BSG) darauf beschränkt, ob diese Tabellenwerte erkennbar falsch seien, etwa weil sie dem Stand des medizinischen Wissens oder des Erfahrungswissens anderer einschlägiger Wissenschaftsgebiete – wie hier beispielsweise auch der Arbeitsmarktforschung – widersprächen. Das LSG habe für eine MdE auf chirurgischem Fachgebiet den in den Standardwerken derzeit für eine Oberschenkelamputation gängigen MdE-Tabellenwert von 60 v. H. zugrunde gelegt, ohne danach zu differenzieren, ob eine Versorgung mit einer mikroprozessor-gesteuerten Prothese anstelle einer herkömmlichen möglich oder erfolgt sei. Es entspreche dem Stand des Erfahrungswissens in der unfallmedizinischen Literatur, bei Amputationen die Qualität der prothetischen Versorgung für die Einschätzung der Höhe der MdE nicht zu berücksichtigen, weil die derzeit gängigen Tabellenwerte keine Differenzierung nach der Qualität der Hilfsmittelversorgung enthalten würden, sondern sich vielmehr an der Amputationsstelle orientieren und den objektiven funktionellen Körperschaden unabhängig von dem Erfolg der prothetischen Versorgung beurteilen würden, weil eine Prothese den Verlust der Gliedmaßen nicht voll kompensieren könne. Zwar werde vereinzelt in der unfallmedizinischen Literatur bei einer Bemessung der MdE für Beinamputationen eine Differenzierung nach der Hilfsmittelqualität und im Falle einer mikroprozessor-gesteuerten Prothese ein geringerer MdE-Wert vorgeschlagen; eine dahingehende generelle Änderung der MdE-Tabellensätze sei in der medizinischen Literatur bisher jedoch noch nicht vorgenommen worden.

Kritisch anzumerken sei, dass die Tabellenwerte nicht transparent seien und es nicht erkennbar sei, welche medizinischen Referenzgrößen und welche arbeitsmarktpolitischen bzw. soziologischen Erkenntnisse die Verfasser der MdE-Tabellen in ihre Überlegungen grundsätzlich einzustellen hätten. Es wäre dem Gesetzgeber zu empfehlen, in § 56 Abs. 2 SGB VII eine Ermächtigung zum Erlass von MdE-Tabellen als Rechtsverordnung zu erlassen und dabei Inhalt, Zweck und Ausmaß, die Maßstäbe und das Verfahren der Erstellung der MdE-Tabellen zu bestimmen. Eine solche Verordnungsermächtigung würde zu Rechtssicherheit und Rechtsklarheit führen, wie es etwa durch die auf § 30 Abs. 17 BVG als Ermächtigungsgrundlage erlassene Versorgungsmedizin-Verordnung für die Bestimmung des Grades der Behinderung (GdB) im Recht des schwerbehinderten Menschen und des Grades der Schädigungsfolge (GdS) im sozialen Entschädigungsrecht geschehen sei.

V. Würdigung / Kritik

Dem Urteil des BSG ist zuzustimmen.

1. Keine Änderung der MdE aufgrund verbesserter prothetischer Versorgung

Zutreffend hat das BSG die Revision des Unfallversicherungsträgers mit der Begründung zurückgewiesen, dass eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen trotz Versorgung des bereits mit einer Prothese versorgten Klägers mit einem C-Leg nicht angenommen werden könne. Bei der Feststellung der MdE ist eine Änderung i. S. d. § 48 Abs. 1 SGB X nur wesentlich, wenn sie mehr als 5 v.H. beträgt, § 73 Abs. 3 SGB VII. Jedenfalls beim Verlust von Gliedmaßen ist nach Auffassung des BSG der objektive funktionelle Körperschaden unabhängig von dem Erfolg der prothetischen Versorgung zu beurteilen.

In den Standardwerken wird für die MdE auf chirurgischem Fachgebiet derzeit für eine Oberschenkelamputation ein MdE-Tabellenwert von 60 v.H. zugrunde gelegt, ohne dass danach differenziert werde, ob eine Versorgung mit einer mikroprozessorgesteuerten Prothese oder mit einer herkömmlichen Prothese erfolgt ist. Die gängigen Tabellenwerte zur Einschätzung der MdE bei einer Amputation der unteren Gliedmaßen sind bislang nicht grundsätzlich geändert worden und es entspricht nach wie vor dem Stand des Erfahrungswissens in der unfallmedizinischen Literatur, bei Amputationen die Qualität der prothetischen Versorgung für die Einschätzung der Höhe der MdE nicht zu berücksichtigen, weil die derzeit gängigen Tabellenwerte keine Differenzierung nach der Qualität der Hilfsmittelversorgung enthalten.[2] Zwar wird vereinzelt in der unfallmedizinischen Literatur bei einer Bemessung der MdE für Beinamputationen eine Differenzierung nach der Hilfsmittelqualität und im Falle einer mikroprozessorgesteuerten Prothese ein geringerer Wert vorgeschlagen.[3] Eine dahingehende generelle Änderung der MdE-Tabellensätze ist in der medizinischen Literatur bisher jedoch nicht vorgenommen worden.

Im sozialen Entschädigungsrecht und im Recht der behinderten Menschen wird nach der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) unter Teil B: GdS-Tabelle Nr. 18.14 der Verlust eines Beines im Oberschenkel mit einem GdS/GdB von 70 bewertet, mithin um 10 höher als im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung. Dies dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass der GdS und der GdB, die nach gleichen Grundsätzen bemessen werden, die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen – wie im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung – im allgemeinen Erwerbsleben bewerten.[4]

Der in der Anlage zu § 2 der VersMedV aufgeführte GdS/GdB für Gliedmaßenverlust eines Beines im Oberschenkel geht – soweit nichts anderes erwähnt ist – von günstigen Stumpfverhältnissen und der benachbarten Gelenke aus. Bei ausgesprochen ungünstigen Stumpfverhältnissen, bei nicht nur vorübergehenden Stumpfkrankheiten sowie bei nicht unwesentlicher Funktionsbeeinträchtigung des benachbarten Gelenkes ist der GdB-/GdS-Satz im Allgemeinen um 10 zu erhöhen, unabhängig davon, ob Körperersatzstücke getragen werden oder nicht. Körperersatzstücke, orthopädische und andere Hilfsmittel mindern bei Verlust und bei Funktionsstörungen der Gliedmaßen sowie bei Funktionseinschränkungen des Rumpfes die Auswirkungen der Behinderung, ohne dass dadurch der durch den Schaden allein bedingte GdS/GdB eine Änderung erfährt.[5]

2. Revisionsrechtliche Bindungswirkung der MdE-Tabellen

Zum anderen hat sich das BSG auseinandergesetzt mit der revisionsrechtlichen Bindungswirkung von den vom Tatsachengericht zugrunde gelegten MdE-Tabellenwerten. Da die Bemessung des Grades der MdE nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine tatsächliche Feststellung ist, die das Tatsachengericht unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles gem. § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen richterlichen Überzeugung trifft, kann das Revisionsgericht diese Feststellung grundsätzlich nur auf Rüge gem. § 163 SGG darauf prüfen, ob das Tatsachengericht die Grenzen seiner ihm durch § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG eingeräumten Befugnis verletzt hat und ob es gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstoßen oder das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend berücksichtigt hat.

In der vorliegenden Entscheidung hat das BSG grundlegend entschieden, dass diese Bindungswirkung nicht im vollem Umfang auch für die Überprüfung der in den MdE-Tabellen abstrakt niedergelegten MdE-Tabellenwerte gilt. Die den MdE-Tabellenwerten zugrundeliegenden allgemeinen bzw. wissenschaftlichen Erfahrungssätze unterliegen nach Auffassung des BSG jeweils der revisionsrechtlichen Überprüfung in dem Umfang einer Evidenzkontrolle, ob die Tabellenwerte offensichtlich falsch sind bzw. ob sie dem neuesten Stand der Wissenschaft entsprechen. Zur Begründung dieser Rechtsauffassung knüpft das BSG an seine grundlegende Entscheidung zur Feststellung von Berufskrankheiten an (Urteil vom 27.06.2006 – B 2 U 5/05 R): Rechtstatsachen, die für die Auslegung bzw. für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm (dort zu Berufskrankheit Nr. 1317 der Anlage 1 zur BKV) erforderlich sind, unterliegen nicht der in § 163 SGG angeordneten Bindung des Revisionsgerichts an tatrichterliche Feststellungen. Das BSG bewertet diese wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht als Tatsachen des Einzelfalls, sondern als allgemeine (generelle) Tatsachen – als „Rechtstatsachen“ -, die für alle einschlägigen BK-Fälle gleichermaßen von Bedeutung sind und die für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt werden. In Fortführung dieser Rechtsprechung bewertet das BSG nunmehr auch die MdE-Tabellenwerte als allgemeine (generelle) Rechtstatsachen, die für die Bestimmung des in § 56 Abs. 2 SGB VII verwendeten Begriffs der MdE als einer Rechtsnorm und damit für eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle relevant sind. Diese Evidenzkontrolle dient dem Zweck und der Aufgabe der Revisionsinstanz, die Einheitlichkeit des Rechts zu wahren und eine einheitliche Rechtsprechung zu gewährleisten.

3. Ermächtigung zum Erlass von MdE-Tabellen

Bereits in der Anmerkung zum Urteil des LSG Mecklenburg-Vorpommern vom 17.09.2014 – L 5 U 1/11 - [6] ist darauf hingewiesen worden, dass der Begriff der MdE, die sich gem. § 56 Abs. 2 S. 1 SGB VII nur auf die verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens bezieht, durch den Begriff „Grad der Schädigungsfolge“ ersetzt werden sollte, der sich auf alle Lebensbereiche und auf die gesamte unfallbedingt verletzte Persönlichkeit des Unfallverletzten bezieht. Beachtenswert – und als Aufforderung an den Gesetzgeber gerichtet – sind jedoch die Ausführungen des BSG im vorletzten Absatz in seiner Entscheidung, dass es ein Gewinn an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit darstelle, wenn der Gesetzgeber selbst in § 56 Abs. 2 SGB VII eine Ermächtigung i. S. v. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG zum Erlass von MdE-Tabellenwerten ausspreche, weil aufgrund der Regelungsstruktur des § 56 Abs. 2 SGB VII prinzipiell unklar bleibe, welche medizinischen Referenzgrößen und welche arbeitsmarktpolitischen bzw. soziologischen Erkenntnisse die Verfasser der MdE-Tabellen in ihre Überlegungen grundsätzlich einzustellen hätten. Hier scheint das BSG auf die Einführung des § 30 Abs. 17 BVG – jetzt 30 Abs. 16 BVG – zurückzugreifen, mit der eine Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) geschaffen worden ist, um die „rechtsnormähnlichen“ „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP) abzulösen. Dieser Vorschlag des BSG ist zu begrüßen, weil hierdurch der Gesetzgeber bzw. Verordnungsgeber auch berufen wäre, die allgemeinen Maßstäbe und ein transparentes Verfahren zum Erlass der MdE-Tabellen zu normieren.[7]

4. Änderung des Begriffs „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ in „Grad der Schädigungsfolge“

Es wäre zu begrüßen – und es wäre auch konsequent und längst überfällig – den Begriff der MdE durch den Begriff des Grad der Schädigungsfolge (GdS) zu ersetzen. Der bisher verwendete Begriff der „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ erweckt den Anschein, dass sich die Bewertung der gesundheitlichen Schädigung allein oder überwiegend nach deren Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit oder die Erwerbsaussichten der Beschädigten richtet. Durch den Begriff „Grad der Schädigungsfolgen“ wird einerseits der kausale Zusammenhang verdeutlicht und andererseits die sprachlich einseitige Betonung beruflicher bzw. wirtschaftlicher Aspekte aufgegeben.[8] Der Begriff der MdE ist im Schwerbehindertenrecht bereits 1986 durch den Begriff des „Grades der Behinderung“ (GdB) und im sozialen Entschädigungsrecht 2008 durch den Begriff „Grad der Schädigungsfolge“ (GdS) ersetzt worden, die beide übereinstimmend die Funktionsbeeinträchtigungen in sämtlichen Lebensbereichen bzw. die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§ 152 Abs. 1 Satz 4 SGB IX; § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX a. F.), § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG i. d. F. vom 26.07.2016) bewerten. Gleichermaßen spiegelt die MdE trotz der gesetzlichen Definition in § 56 Abs. 2 S. 1 SGB VII in der gesetzlichen Unfallversicherung – ähnlich wie vordem in dem sozialen Entschädigungsrecht und dem Schwerbehindertenrecht – tatsächlich die ideelle Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft – in allen Lebensbereichen – wider.[9] Auch der Unfallverletzte ist unzweifelhaft in seiner gesamten Persönlichkeit und in sämtlichen Lebensbereichen durch einen Arbeitsunfall oder durch eine Berufskrankheit betroffen.

Sollte sich der Gesetzgeber dazu entschließen, den Begriff der MdE durch den des GdS zu ersetzen und in § 56 Abs. 2 SGB VII eine Ermächtigung i. S. d. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG zum Erlass einer MdE-Tabelle zu normieren, wäre konsequenterweise zu erwägen, einverständlich die versorgungsmedizinischen Grundsätze der Anlage zu § 2 VersMedV als einheitliche transparente Tabelle für die Bewertung von Funktionsstörungen in sämtlichen Bereichen des Sozialrechts anzuwenden.

Beitrag von Dierk F. Hollo, Vorsitzender Richter LSG Celle i. R.

Fußnoten

[1] S. grundlegend BSG Urteil vom 27.06.2006 – B 2 U 5/05 R – juris.

[2] Vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, S 691.

[3] Vgl Ludolph/Schürmann, MedSach 2016, S 60, 68; Schürmann in Trauma und Berufskrankheit 2014, S 204, 207 ff; J. Becker, MedSach 2008, S 142, 145 f; Koss, MedSach 2004, S 92, 93; Plagemann, MedSach 2004, S 94, 96.

[4] Anlage zu § 2 der VersMedV Teil A: Allgemeine Grundsätze 2.a).

[5] Anlage zu § 2 der VersMedV Teil B: GdS-Tabelle 18.11.

[6] Hollo: Keine Herabsetzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen Versorgung mit einem C-Leg; Beitrag C 2 – 2016 unter www.reha-recht.de; 21.04.2016.

[7] Nusser/Spellbrink, Die Rechtsnatur der MdE-Tabellen im Recht der Gesetzlichen Unfallversicherung – ein Plädoyer für eine Verrechtlichung. SGb 2017, 550-556; Hebeler, Anmerkung zum Urteil des BSG vom 20.12.2016 – B 2 U 11/15 R - in: SGb 2017, 719-721

[8] Vgl. den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften des sozialen Entschädigungsrechts – BT-Drs. 16/6541 insbes. S. 1 f, 36.

[9] Hollo/Schiltenwolf/Thomann: Vorschläge für eine Angleichung von MdE und GdS/GdB – Ausführungen zur unterschiedlichen Bewertung von Gesundheitsschäden und Funktionsbeeinträchtigungen in der gesetzlichen Unfallversicherung, dem sozialen Entschädigungsrecht und dem Schwerbehindertenrecht. Beitrag C 1 – 2016 unter www.reha-recht.de; 11.02.2016; Hollo: Keine Herabsetzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen Versorgung mit einem C-Leg; Beitrag C2-2016 unter www.reha.recht.de; 21.04.2016.


Stichwörter:

Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE), Grad der Behinderung (GdB), Prothese, C-leg, Entschädigung, Bundessozialgericht (BSG), Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)


Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Mit * gekennzeichnete Felder müssen ausgefüllt werden.