09.09.2015 C: Sozialmedizin und Begutachtung Cibis: Beitrag C6-2015

Klassifikation der Personbezogenen Faktoren der ICF: Die Vertreibung aus dem „Paradies der Unwissenheit und Intransparenz“?

Im vorliegenden Beitrag befasst sich der Autor mit der Klassifikation von Personenbezogenen Faktoren in der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). Diese spielen in der Medizin und Rehabilitation zwar eine zentrale Rolle, ihre Erfassung sei jedoch nicht unproblematisch.

Die von der ICF-Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) entworfene Klassifikation solcher Personbezogener Faktoren für den deutschen Sprachraum werde daher noch als zu risikobehaftet und somit nicht umsetzbar angesehen.

Der Autor führt dazu einige Anmerkungen aus und beschreibt die mit der Klassifikation verbundenen Bedenken und Chancen. Der Autor begrüßt den Vorstoß der DGSMP-Arbeitsgruppe und erkennt einen Weiterentwicklungsbedarf in der Klassifikation der ICF.

(Zitiervorschlag: Cibis: Klassifikation der Personbezogenen Faktoren der ICF: Die Vertreibung aus dem „Paradies der Unwissenheit und Intransparenz“?; Forum C, Beitrag C6-2015 unter www.reha-recht.de; 09.09.2015)

 


I. Einleitung

Bei fast allen Fragen der Medizin und auch der Rehabilitation spielen sie eine Rolle: „Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, andere Gesundheitsprobleme, Fitness, Lebensstil, Gewohnheiten, Erziehung, Bewältigungsstile, sozialer Hintergrund, Bildung und Ausbildung, Beruf sowie vergangene oder gegenwärtige Erfahrungen (vergangene oder gegenwärtige Ereignisse), allgemeine Verhaltensmuster und Charakter, individuelles psychisches Leistungsvermögen und andere Merkmale, die in ihrer Gesamtheit oder einzeln bei Behinderung auf jeder Ebene eine Rolle spielen können“ (DIMDI, 2006). Kurz: die sogenannten Personbezogenen Faktoren.

II. Probleme der Klassifikation Person­bezogener Faktoren

Einige Aspekte sind dabei auf Anhieb als problematisch zu erkennen.

Wie will man erfolgreich bei der Rehabilitation sein ohne Berücksichtigung von Person­bezogenen Faktoren bei z. B. Menschen mit Diabetes mellitus, Adipositas, Alkoholabhängigkeit/Sucht, Krebserkrankungen oder Kinder und Jugendlichen. Wie soll berufliche Rehabilitation zielführend sein ohne Berücksichtigung von z. B. Eignung, Neigung, Talent, Qualifikation, Ausbildung, Erfahrung, Einstellung, Verhaltensweisen, Weltanschauung des betroffenen Menschen?

Die systematische Erfassung der erforderlichen „Sprachlichen Verständigung“ ist gegebenenfalls nicht nur bei Menschen mit Migrationshintergrund wichtig. Was macht oft zum größten Teil den Einzelfall aus, wie will man sich angemessen individuell ausrichten, ganzheitlich rehabilitieren und die Selbstbestimmung des Betroffenen gemäß § 1 SGB IX angemessen berücksichtigen? Wie will man jemanden „abholen von dort, wo er steht“, wenn ich nicht weiß, wo das ist bzw. was das ist. Was betrachtet der Psychologe selbstverständlich in der Rehabilitation? Immer ist es der „ganze Mensch“, der sozialmedizinisch begutachtet und rehabilitiert wird.

Der Entwurf der ICF-Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) (Grotkamp et al., 2006) einer Liste Personbezogener Faktoren der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) für den deutschen Sprachraum hat methodisch-formal und ethisch-moralisch begründete Widersprüche ausgelöst (Ostholt-Corsten M., 2013, Grotkamp et al., 2011). Beim gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse wird kein Bedarf gesehen, diese Klassifizierung weiterzuentwickeln, da die Nutzen-Schaden-Relation zum jetzigen Zeitpunkt ein Überwiegen der potentiellen Schäden wahrscheinlich macht. Diese Komponente der ICF wird sogar mit der „Büchse der Pandora“ verglichen, die man besser nicht öffnen sollte (Simeonsson, 2014).

Es dürfte unstreitig sein, dass die Person­bezogenen Faktoren in der Sozialmedizin und in der Rehabilitation eine wichtige Rolle spielen (Grotkamp et al., 2014). Gestritten wird aber, ob diese Personbezogenen Faktoren klassifiziert werden sollten.

III. Anmerkungen

Der „nationale Alleingang“ ist dem Umstand geschuldet, dass wegen der weltweit großen soziokulturellen Unterschiede die Person­bezogenen Faktoren nicht klassifiziert wurden. In der Umkehrung dieser Aussage sollte es doch möglich sein, innerhalb eines Kulturkreises die Klassifikation der Person­bezogenen Faktoren sinnvoll zu gestalten.

Als Widerspruch zu den taxonomischen Prinzipien werden doppelte Zuordnungsmöglichkeiten für gleiche Begriffe angeführt. Die Argumente richten sich aber nicht primär gegen die Inhalte. Hier besteht gegebenenfalls Entwicklungsbedarf. Dem Anwender wird von der ICF gestattet, für eigene Zwecke Anpassungen vorzunehmen, z. B. die Aktivitäten und Partizipation getrennt zu kodieren. Zu den Personbezogenen Faktoren wird ausgeführt: „Sie sind gegenwärtig in der ICF nicht klassifiziert, Benutzer können sie jedoch bei der Anwendung der ICF berücksichtigen“ (DIMDI, 2005).

Dass viele Aspekte nur abgeschätzt werden können, sollte kein grundsätzliches Problem ihrer Erhebung darstellen. Bei der „Feststellung“ von Schmerzen und anderen individuellen Ausprägungen wird dies auch akzeptiert.

Risiken und Nebenwirkungen der ICF sind vorhanden (Cibis, 2013). Mit der ICF werden aber nicht Menschen klassifiziert, sondern ihre Behinderungen bzw. Gesundheitszustände und mit der Gesundheit zusammenhängende Zustände. Bei den Person­bezogenen Faktoren aber nur die Auswirkung als Barriere oder Förderfaktor. Dafür bedarf es aber einer angemessenen Sprache bzw. passender Begrifflichkeiten. Es muss nicht „gemessen werden“, ob oder zu welcher speziellen gesellschaftlichen (Rand-)Gruppe ein Mensch gehört; es reicht die Erfassung und zielführende Berücksichtigung der Bedeutung/Auswirkung der „Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen“ auf die Funktionsfähigkeit (inklusive Teilhabe).

Es muss auch nicht „wissenschaftlich gemessen“ werden, ob oder wie oder in welchem Ausmaß ein Mensch der katholischen, evangelischen, sunnitischen, schiitischen, jüdischen, buddhistischen oder sonstigen religiösen Gemeinschaft angehört. Es reicht die Erkenntnis im Einzelfall, dass die Weltanschauung des Betroffenen für die Rehabilitationsziele hilfreich (Förderfaktoren) oder weniger hilfreich (Barrieren) ist und dies zielführend zu alternativen Lösungsansätzen führt. Das muss nicht operationalisiert werden. Hier reicht zum eigenverantwortlichen Erkenntnisgewinn in aller Regel das übliche anamnestische vertrauensvolle Gespräch mit selbstverständlicher Berücksichtigung der üblichen Datenschutzbestimmungen.

Bedeutung, Gültigkeit und Beständigkeit aller erhobenen Daten sind nicht nur zu späteren Zeitpunkten sachgerecht zu hinterfragen, sondern auch jeweils aktuell bei anderen Fragestellungen.

Bei dem Ansatz der ICF-Arbeitsgruppe der DGSMP spielt die „Normalität“ nur insofern eine Rolle, als nur die Eigenschaften und Aspekte in diesen Bereich gehören, die nicht Ausdruck einer Erkrankung sind.

Anerkannt wird die ICF als geeignete Systematik, als Ansatz für die Wissenschaft, als nützliche Sprache, die berufsgruppenunabhängig ist und vom Betroffenen (angeblich) auch verstanden wird. Core sets[1] werden mit größtem wissenschaftlichen und finanziellen Aufwand entwickelt, aber die Person­bezogenen Faktoren außen vor gelassen.

Was ist das „Paradies der Unwissenheit und Intransparenz“? Es ist die Möglichkeit der Ärzte und anderer an der Rehabilitation Beteiligten, ohne genaue standardisierte Begrifflichkeit in einer Art „Grauzone“ oder eben auch „im Dunkeln“ – im günstigen Fall paternalistisch – „vereinfacht“ Entscheidungen zu treffen, ohne z. B. den Betroffenen dazu einzubinden oder selbst genauer zu wissen, wovon man redet/schreibt oder auch gegebenenfalls unausgesprochen lässt, was diese Entscheidungen begründet. Im Rehabilitationsteam ist z. B. dann die Kommunikation dementsprechend intransparent, aber damit eben auch keiner Kritik ausgesetzt.

  • Jeder kann sich unsystematisch und in jedem Einzelfall das aus seiner Sicht „Passende“ an Merkmalen eines Menschen „heraussuchen“ und gegebenenfalls erfassen oder auch nicht.
  • Es wird „undurchsichtig“, was z. B. erlaubterweise bemerkt wird, was unerlaubterweise doch berücksichtigt wird.
  • Es fehlen oft einfach die passenden „Worte“.
  • Es fehlen die erforderlichen klaren Grenzziehungen bei der Ermittlung (Quellen, Umfang, Tiefgang) und Dokumentation (Datenschutzproblem).
  • Eine fehlende Systematik erschwert die Arbeit der Rehabilitationsexperten und verschließt gegebenenfalls den Betroffenen den zielführenden individuellen Zugang zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft.
  • Es gibt keinen systematischen Ansatz für die Wissenschaft oder für ein Kontrollsystem durch Peers oder Betroffene.
  • Ist das die wünschenswerte „Freiheit“ für die ärztliche Kunst?

Wie leicht werden die Personbezogenen Faktoren auch einfach vergessen, wenn man das bio-psycho-soziale Modell bzw. die ICF mit einem Schwarzen Kasten „im Kopf“ hat - die „Black Box“. Ist es wirklich die „Büchse der Pandora“, die man nicht öffnen sollte, weil sonst das bislang nicht vorhandene Unglück über die Menschen kommt (Abbildung 1)?

Abbildung 1: „ICF und die Personbezogenen Faktoren (Büchse der Pandora?, Black Box?)“

Die Büchse der Pandora enthielt, wie die griechische Mythologie überliefert, alle der Menschheit bis dahin unbekannten Übel wie Arbeit, Krankheit und Tod. Sie entwichen in die Welt, als Pandora die Büchse öffnete. Heute ist das Öffnen der Büchse der Pandora ein Inbegriff für das Stiften eines Unheils, das sich nicht wiedergutmachen lässt.

Nein, bei der Büchse der Pandora wusste niemand, was darin sein könnte. Hier weiß man aber, hier muss man sogar wissen, was sich hinter dem Begriff der Personbezogene Faktoren befindet oder sollte man sagen „versteckt“? Zudem ist es ja unstreitig, dass die „Inhalte der Personbezogenen Faktoren “ bereits „in der Welt“ sind. Sie müssen nicht erst „auf/in die Welt“ kommen. Im Zeitalter der Aufklärung und Wissenschaft gibt es diesbezüglich keine wirklichen Tabus mehr. Aber man sollte/darf nicht alles in jedem Fall machen, was machbar ist.

Ethische und politisch korrekte Ausdrucksweisen muss sich ohne Klassifikation der Personbezogenen Faktoren jeder selber einfallen lassen, wenn er z. B. von den Einflüssen der Religion sprechen möchte. Was schreibt man aber im Bericht? Eine geeignete Klassifikation der Personbezogenen Faktoren bietet Schutz vor „unglücklichen/unpassenden“ Begriffen. Personenzentrierte Ausgestaltung von Leistungen zur Eingliederung und Teilhabe werden zielführender möglich.

Derzeit kann man sich „davonstehlen“, unklar ausdrücken oder besser gar nichts sagen. Damit gehen Chancen für den Betroffenen verloren. Wer hier den einzelnen Betroffenen wirklich ganzheitlich wahrnehmen will, soll oder muss, darf diese Komponente nicht wegen „Sprachlosigkeit“ ausblenden.

Der Entwurf der ICF-Arbeitsgruppe der DGSMP ist ein wichtiger Versuch, wieder sprachlich ausdrucksfähig zu werden. Taxonomische Bedenken sind natürlich zu diskutieren, aber verbieten sollte man die Weiterentwicklung der Klassifikation der Person­bezogenen Faktoren nicht. Das Klassifizieren im Sinne der Kodierung mit Schweregradangaben (1. Beurteilungsmerkmal) gegebenenfalls schon.

Grundsätzlich sollte man sich für eine „Nutzung“ der ICF aussprechen und nicht für deren „Anwendung“ bzw. das Klassifizieren mit der ICF, gerade weil es generell noch keine geeigneten Mittel zur Operationalisierung der Schweregrade gibt und auch, um Datenmüll und Datenfriedhöfe zu vermeiden. Leider hat die ICF als Konstruktion einige logische Probleme. Bei den Personbezogenen Faktoren bestehen sie natürlich darin, dass die zur Person gehörenden Merkmale (characteristics) oder Attribute, wie Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Fitness, individuelles psychisches Leistungsvermögen als externe Einflussgrößen geführt werden, obwohl sie intrinsische Aspekte darstellen.

IV. Fazit

Personbezogene Faktoren spielen für die Rehabilitation eine wichtige Rolle und beeinflussen die Festlegung der Inhalte von Rehabilitationsbedarf, Rehabilitationsbedürftigkeit, Rehabilitationsfähigkeit, Rehabilitationsmotivation und Rehabilitationserfolgsprognose. Die von der DGSMP-Arbeits­gruppe vorgeschlagene Systematik und die Begrifflichkeiten bieten eine Chance, „Licht in das Dunkel“ der Personbezogenen Faktoren zu bringen. Fehlende Systematik und Begrifflichkeit können zu Sprachlosigkeit, Tabuisierung und Missverständnissen führen, die dem Betroffenen schaden und eher der unberechtigten Stärkung der Position der Entscheidungsträger dienen. Das „Paradies der Unwissenheit und Intransparenz“ ist verlassen. Ein systematischer Denkansatz fördert Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Plausibilität für alle Beteiligten. Die Verpflichtung der Beschränkung dabei auf das Notwendige, Erforderliche und Ausreichende und nur mit Einverständnis des Betroffenen Erlaubte ist dabei selbstverständlich.

Es besteht Bedarf, die Klassifikation der ICF allgemein weiterzuentwickeln und insbesondere die Klassifikation der Personbezogenen Faktoren überhaupt zu entwickeln. Gegebenenfalls gelingt das aber auch nur national, regional, kulturbezogen bzw. eben „eingeschränkt“.

Beitrag von Dr. med. Wolfgang Cibis, Facharzt für Innere Medizin, Sozialmedizin, Rehabilitationswesen, BAR Frankfurt/Main

Literatur

Cibis W.: Kontextfaktoren – Bedeutung für die Begutachtung – „Risiken und Nebenwirkungen der ICF“. MED SACH 104 3/2013, 108–112.

DIMDI (Hrsg.): ICF. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, Verlag MMI Medizinische Medien Information GmbH, 63263 Neu-Isenburg, 2005.

Grotkamp S., Cibis W., Behrens J. et al.: Personbezogene Faktoren der ICF – Entwurf der AG „ICF “ des Fachbereichs II der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP), Rehabilitation 2006; 45: 258-271 Georg Thieme Verlag KG Stuttgart New York DOI 10.1055/s−2006−940105.

Grotkamp S., Cibis W., Nüchtern E. et al.: Stellungnahme der Autoren zum Leserbrief von Rohwetter M. zu „Personbezogene Faktoren der ICF – Entwurf der AG „ICF“ des Fachbereichs II der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP). Gesundheitswesen 2010; 72: 908–916“, Gesundheitswesen 2011; 73: 389–395.

Grotkamp S., Cibis W., Nüchtern E. et al.: Bedeutung der personbezogenen Faktoren der ICF für die Nutzung in der Praktischen Sozialmedizin und Rehabilitation. Gesundheitswesen 2014; 76: 1–9.

Ostholt-Corsten M.: Kontextfaktoren – Bedeutung für die Begutachtung – Klassifikation personbezogener Faktoren – kritische Aspekte. MED SACH 104 3/2013, 104-107.

Simeonsson R. J., Lollar D., Björck-Åkesson E., Granlund M., Brown S. C., Zhuoying Q., Gray D. Pan Y.: ICF and ICF-CY lessons learnd: Pandora´s box of personal factors. DisabilRehabil, Early Online: 1–8, 2014 Informa UK Ltd. [1] Liste von ICF Kategorien, die für die Patientinnen und Patienten mit einer bestimmten Gesundheitsstörung oder in einer bestimmten Behandlungssituation relevant sind.


Stichwörter:

ICF, Personbezogene Faktoren, Bedarfsermittlung, Inklusive Teilhabe, Datenschutz, Kontextfaktoren


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