09.05.2018 D: Konzepte und Politik Boysen: Beitrag D13-2018

Barrierefreiheit digital – ein Überblick

Im vorliegenden Beitrag setzt sich Uwe Boysen mit dem Thema der digitalen Barrierefreiheit und ihrer rechtlichen Grundlagen auseinander. Er geht zunächst auf den Begriff der Barrierefreiheit ein und betont, dass diese sich nicht nur, wie häufig noch angenommen, auf das Überwinden physischer Barrieren beziehe, sondern gerade auch die Nutzung von technischen Geräten und Systemen der Informationsbearbeitung einschließe.

Anschließend gibt der Autor einen Überblick über die einschlägigen Rechtsgrundlagen, die sowohl auf nationaler, als auch auf supranationaler und Völkerrechtsebene verankert sind. Zentral sind neben dem § 12 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), nach dem die Träger öffentlicher Gewalt u. a. zur barrierefreien Gestaltung ihrer Internetauftritte und -angebote verpflichtet werden, die Landesgleichstellungsgesetze. Diese seien jedoch aufgrund der europäischen Richtlinie 2016/2102 zu überarbeiten. Ein entsprechender Gesetzesentwurf zur Änderung des BGG wurde von der Bundesregierung bereits beschlossen.

(Zitiervorschlag: Boysen: Barrierefreiheit digital – ein Überblick; Beitrag D13-2018 unter www.reha-recht.de; 09.05.2018)

I. Zum Begriff der digitalen Barrierefreiheit

Computer, Smartphones, Tabletts und andere Hardware sowie die dazu gehörigen Programme haben heute alle Bereiche unserer Gesellschaft durchdrungen. Damit ist eine barrierefreie Informations- und Kommunikationstechnik eine Grundvoraussetzung für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in einer digitalen Welt.

Dennoch wird Barrierefreiheit häufig immer noch lediglich mit dem Überwinden physischer Barrieren gleichgesetzt. Doch das stimmt nicht, wie ein Blick in § 4 des Gesetzes zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG) deutlich macht. Dessen erster Satz verlangt Barrierefreiheit nämlich auch für „technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche“. Diese müssen für „Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar“ sein.

Das wird in weiteren Vorschriften des BGG konkretisiert. Uns interessiert hier § 12 BGG, der sich mit barrierefreier Informationstechnik befasst. Er verpflichtet in seiner Fassung vom 19.07.2016 in Abs. 1 S. 1 Träger öffentlicher Gewalt im Sinne des § 1 Abs. 2 S. 1 BGG dazu, ihre Internetauftritte und -angebote sowie die von ihnen zur Verfügung gestellten grafischen Programmoberflächen, einschließlich Apps und sonstiger Anwendungen für mobile Endgeräte, die mit Mitteln der Informationstechnik dargestellt werden, nach Maßgabe der nach Satz 2 zu erlassenden Verordnung schrittweise technisch so zu gestalten, dass sie von Menschen mit Behinderungen grundsätzlich uneingeschränkt genutzt werden können. Damit geht die jetzige Fassung teilweise über den früheren § 11 BGG in der Fassung vom 27.04.2002 hinaus, der beispielsweise mobile Anwendungen noch nicht erwähnte. Auch ist nunmehr in § 12 Abs. 2 BGG das Intranet in den Anwendungsbereich der Vorschrift ebenso einbezogen wie elektronische Akten. Obwohl die Worte „schrittweise“ und „grundsätzlich“ den Anwendungsbereich der Norm einengen, stellt sie doch einen wichtigen Hebel zur Durchsetzung des Anspruchs auf digitale Barrierefreiheit dar.

Dabei umfasst die Verpflichtung aus § 12 Abs. 1 BGG den gesamten Internetauftritt einschließlich der zum Download angebotenen elektronischen Dokumente und Formulare. Gleichwohl sind PDF-Dateien auf den Internetseiten der Bundesministerien vielfach nicht barrierefrei (Erle, PDF/UA Real Life Check 2017, Studie zum Stand der PDF-Barrierefreiheit auf den Internetseiten deutscher Bundesministerien, www.pdfa.org/wp-content/uploads/2017/05/1145-170516_PDF-Days-Europe17_PDFU-Real-Life-Check_de_PDF-Association_.pdf, zuletzt abgerufen am 18.04.2018). Der Begriff der Programmoberflächen ist weit auszulegen (vgl. Bundestags-Drucksache 18/8428, 14 f). Er umfasst nunmehr ausdrücklich auch Apps und sonstige Anwendungen für mobile Endgeräte wie Tabletts und Smartphones.

II. UN-BRK als weitere Wurzel digitaler Barrierefreiheit

Hier ist insbesondere auf Art. 9 und 21 der Konvention aufmerksam zu machen.

Diese verpflichten die Vertragsstaaten dazu, alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderungen einen gleichberechtigten Zugang zu und eine selbstbestimmte Teilhabe an allen modernen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die elektronisch bereit gestellt werden oder zur Nutzung offenstehen, zu ermöglichen sowie vorhandene Zugangshindernisse und -barrieren zu beseitigen (Art. 4 lit. a i. V. m. Art. 9 Abs. 1 UN-BRK). Hierzu gehört auch, dass für die Allgemeinheit bestimmte Informationen Menschen mit Behinderungen in Formaten zur Verfügung stehen, die für sie zugänglich und nutzbar sind (Art. 21 UN-BRK). Außerdem verpflichtet die UN-BRK dazu, durch geeignete Gesetzgebungsmaßnahmen sicherzustellen, dass private Rechtsträger, die Einrichtungen und Dienste anbieten, die der Öffentlichkeit offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, alle Aspekte der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen berücksichtigen (Art. 9 Abs. 2 Buchst. B) UN-BRK). Gerade diese Verpflichtung umzusetzen, weigert sich die Bundesregierung bislang standhaft und wurde deshalb auch schon anlässlich der ersten Staatenprüfung Deutschlands vom Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der UN 2015 gerügt (vgl. Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands, CRPD/C/DEU/CO/1, Rn. 22 a)).

III. Weitere Vorschriften zur digitalen Barrierefreiheit

Inzwischen enthält aber auch eine Vielzahl anderer Gesetze konkrete Vorschriften zu diesem Thema. Genannt seien beispielhaft

  • die mit dem E-Justice-Gesetz (BGBl. I, 3786) schon 2013 eingeführten Vorschriften des § 191a des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG), bei dem in Abs. 3 verlangt wird, dass elektronische Dokumente barrierefrei zu erstellen sind dazu (Sorge/Krüger NJW 2015, 2764), sowie die Vorschriften in den Verfahrensordnungen, die eine Barrierefreiheit der elektronischen Übermittlungswege zu den Gerichten statuieren (beispielhaft § 130a Abs. 4 Nr. 4 ZPO in der seit 1.1.2018 geltenden Fassung),
  • § 16 EGovG (Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung) des Bundes, der – wenn auch sprachlich und inhaltlich unvollkommen – Barrierefreiheit verlangt,
  • § 121 Abs. 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), der als ein Kriterium bei der Bewerbung um den Zuschlag bei der Auftragsvergabe für Aufträge öffentlicher Auftraggeber Ausführungen zur Barrierefreiheit des Angebots fordert (dazu Carstens, ZRP 2015, 141 (141 ff.)) und
  • § 7 des Vertrauensdienstegesetzes (VDG), das das Signaturgesetz abgelöst hat und in dessen Abs. 1 Barrierefreiheit der Vertrauensdienste verlangt wird (siehe auch § 7 Abs. 2 und 3 sowie die Verordnungsermächtigung in § 20 Abs. 1 VDG).

IV. Landesgleichstellungsgesetze

Inhaltlich mit § 12 Abs. 1 BGG 2016 vergleichbare Regelungen enthalten auch die Behindertengleichstellungsgesetze der Länder:

Baden-Württemberg: § 10 L-BGG BaWü; Bayern: Art. 13 BayBGG i. V. m. BayBITV (GVBl. 2016, 314); Berlin: § 17 LGBG Bln i. V. m Nr. 3 der VV zur Schaffung Barrierefreier Informationstechnik (VVBIT) vom 23.8.2005 (ABl. S. 4020); Brandenburg: § 9 BbgBGG i. V. m. BbgBITV (GVBl. II 2004, 482); Bremen: § 9 BremBGG i. V. m. BremBITV (Brem.GBl. 2005, 531, zuletzt geänd. Brem.GBl. 2012, 506); Hamburg: § 10 HmbGGbM i. V. m. HmbBITVO (HmbGVBl. 2006, 543); Hessen: § 14 HessBGG i. V. m. HVBIT (GVBl. I 2007, 597, zuletzt geänd. GVBl. I 2012, 421); Mecklenburg-Vorpommern: § 13 LBGG M-V i. V. m. BITVO M-V (GVOBl. M-V 2007, 260); Niedersachsen: § 9 NBGG; Nordrhein-Westfalen: § 10 BGG NRW i. V. m. BITV NRW (GV. NRW 2004, 339); Rheinland-Pfalz: § 7 LGGBehM RhPf, Saarland: § 8 SBGG i. V. m. §§ 7–10 SBGVO (Amtsbl. 2006, 1698, zuletzt geänd. Amtsbl. I 2015, 856); Sachsen: § 7 SächsIntegrG; Sachsen-Anhalt: § 16 BGG LSA i. V. m. §§ 10–13 BGGVO LSA (GVBl. LSA 2012, 71); Schleswig-Holstein: § 12 LBGG SH; Thüringen: § 14 ThürGIG i. V. m. §§ 12–14 ThürGIGAVO (GVBl. 2007, 69, zuletzt geänd. GVBl. 2012, 139).

Die allermeisten dieser Behindertengleichstellungsgesetze verpflichten neben den Behörden der Landesverwaltung auch die kommunalen Gebietskörperschaften (Gemeinden, Städte, Landkreise, höhere Kommunalverbände) zu digitaler Barrierefreiheit ihrer Auftritte und Angebote im Internet sowie ihrer grafischen Programmoberflächen. Die Schlusslichter bilden hier lediglich Hessen, Niedersachsen und Sachsen, in deren Behindertengleichstellungsgesetzen die Kommunen bisher nicht verpflichtet werden. Abweichungen gibt es teilweise auch bei den einzuhaltenden Standards (kritisch dazu Welti, NVwZ 2012, 725 (727); ferner Warnke, ZfPR online, 12/2011, 36).

V. Verordnungen

Die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) vom 12.09.2011 (BGBl. I, 1843) wurde durch Verordnung vom 25.11.2016 (BGBl. I, 2659) an die Änderungen des BGG im Jahr 2016 angepasst. Sie gilt seither gemäß § 1 der BITV 2.0 für folgende Angebote der Behörden der Bundesverwaltung:

  • Internetauftritte und -angebote,
  • Intranetauftritte und -angebote, die öffentlich zugänglich sind und
  • mittels Informationstechnik realisierte grafische Programmoberflächen einschließlich Apps und sonstige Anwendungen für mobile Endgeräte, die öffentlich zugänglich sind.

Nach § 3 Abs. 1 S. 1 BITV 2.0 sind die Angebote des § 1 nach der Anlage 1 der BITV 2.0 so zu gestalten, dass sie die unter Priorität I aufgeführten Anforderungen und Bedingungen erfüllen. Weiterhin sollen gemäß § 3 Abs. 1 S. 2 BITV 2.0 zentrale Navigations- und Einstiegsangebote zusätzlich die unter Priorität II aufgeführten Anforderungen und Bedingungen berücksichtigen.

Die in der Anlage 1 normierten Standards für eine barrierefreie Informationstechnik basieren auf den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0, den internationalen Zugänglichkeitsrichtlinien für Webinhalte des World Wide Web Consortiums (W3C) vom 11.12.2008 (www.w3.org/TR/2008/REC-WCAG20-20081211, zuletzt abgerufen am 18.04.2018), denen sie weitgehend entsprechen (ausf. Begründung zur BITV 2.0, Kap. 2.3, abrufbar unter: www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/begruendung-bitv-2-0.pdf?__blob=publicationFile&v=2, zuletzt abgerufen am 18.04.2018).

Unbeschadet der in der Anlage 1 formulierten Anforderungen an barrierefreie Informationstechniken sind gemäß § 3 Abs. 2 BITV 2.0 auf der Startseite des Internet- oder Intranetangebotes (§ 1 Nrn. 1 und 2 BITV 2.0) einer Behörde i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 1 BGG gemäß Anlage 2 folgende Erläuterungen in Deutscher Gebärdensprache und in Leichter Sprache bereitzustellen:

  • Informationen zum Inhalt,
  • Hinweise zur Navigation sowie
  • Hinweise auf weitere in diesem Auftritt vorhandene Informationen in Deutscher Gebärdensprache oder in Leichter Sprache.

Nach § 4 der BITV 2.0 ist die Verordnung unter Berücksichtigung der technischen Entwicklung regelmäßig zu überprüfen und ggf. an veränderte Standards anzupassen (ausf. dazu die Begründung zur BITV 2.0, Kap. 2.5).

VI. Standards und ihre Umsetzung

Die WCAG 2.0 enthalten in ihrem normativen Teil neben den Grundprinzipien Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit sowie neben 12 allgemeinen Richtlinien insgesamt 61 nachprüfbare Erfolgskriterien (zu einer autorisierten deutschen Übersetzung der WCAG 2.0 (www.w3.org/Translations/WCAG20-de; ausf. Hellbusch/Probiesch, Barrierefreiheit verstehen und umsetzen – Webstandards für ein zugängliches und nutzbares Internet, 2011, S. 115 ff).

Für die Prüfung von Internetauftritten und –angeboten auf Barrierefreiheit gibt es den BITV-Test, der als entwicklungsbegleitender Test (bei der Erstellung barrierefreier Webseiten) und als abschließender Test angeboten wird (www.bitv-test.de). Außerdem existiert der WCAG-Test des Projekts „BIK für alle“, der den BITV-Test ergänzt (zu weiteren Angeboten siehe unter www.bik-fuer-alle.de und https://www.bit-inklusiv.de). Unterstützung bietet weiter der frei verfügbare „BITV-Lotse des Bundes“, der zahlreiche Praxishilfen und Umsetzungsbeispiele für die Kriterien der BITV 2.0 enthält (www.bitv-lotse.de). Hilfreich für alle, die ihre Web-Angebote prüfen wollen, ist auch das Dokumentations-Werkzeug „BaNu – Barrieren finden, Nutzbarkeit sichern“ des Bundes (www.banu.bund.de). Eine Liste mit Prüf-Tools bietet das W3C (www.w3.org/WAI/ER/tools). Automatische Testtools (z. B.: www.wave.webaim.org) sind zwar hilfreich, können aber nicht alle Aspekte der Barrierefreiheit prüfen.

Für die Barrierefreiheit von PDF-Dateien gibt es seit August 2012 den PDF/UA-Standard, der in Deutschland als DIN ISO 14289-1 veröffentlicht wurde. Er stellt sicher, dass PDF-Dateien den WCAG 2.0 entsprechen. Hilfe bei der praktischen Umsetzung geben verschiedene Leitfäden (z. B. von der FernUniversität in Hagen: www.fernuni-hagen.de/barrierefrei/pdf_word.shtml). Zur Überprüfung eignet sich der PDF Accessibility Checker (PAC 3.0), der kostenlos bei der Stiftung „Zugang für alle“ heruntergeladen werden kann (http://www.access-for-all.ch/ch/pdf-werkstatt/pdf-accessibility-checker-pac/download-pac-3.html). Eine ausführliche Barrierefreiheitsprüfung ermöglicht das kostenpflichtige Programm Adobe Acrobat Pro DC.

Zahlreiche Informationen und Hinweise zu weiterführenden Links enthalten auch die Praxishilfen zur Informationstechnik der Bundesfachstelle Barrierefreiheit (www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de).

VII. Veränderungsbedarf

Sowohl das BGG wie auch die Gleichstellungsgesetze der Länder werden in naher Zukunft auf Grund der Richtlinie 2016/2102 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016 über den barrierefreien Zugang zu Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen (ABl. L 327 vom 02.12.2016) geändert werden müssen. Die Bundesregierung hat hierzu am 07.03.2018 einen Gesetzentwurf beschlossen (BR-Drucks. 86/18, dessen Art. 3 Veränderungen des BGG vorsieht (zur Richtlinie und zur ausführlichen Kritik des vorangegangenen Referentenentwurfs siehe die Stellungnahme des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf [DVBS] vom 21.02.2018 unter http://www.reha-recht.de/infothek/beitrag/artikel/positionen-zum-referentenentwurf-eines-gesetzes-zur-arbeitsfoerderung-und-barrierefreiheit).

Beitrag von Uwe Boysen, Vorsitzender Richter am Landgericht Bremen i. R.


Stichwörter:

Barrierefreiheit, Barrierefreiheit (digital), § 12 BGG, EU-Richtlinie 2016/2102


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