17.05.2016 D: Konzepte und Politik Falk/Schimank: Beitrag D18-2016

VBG Fachtagung – Wege zu einer umfassenden Teilhabe – Good Practice und Perspektiven

Angelice Falk und Cindy Schimank berichten von der Fachtagung „Wege zur umfassenden Teilhabe – Good Practice und Perspektiven“. Veranstalter war die Verwaltungsberufsgenossenschaft (VBG). Den inhaltlichen Schwerpunkt bildete das Bundesteilhabegesetz (BTHG).

Aufbauend auf einem einführenden Vortrag von Dr. Rolf Schmachtenberg diskutierten die Referenten und Teilnehmer über die geplanten Änderungen in der Einkommens- und Vermögensanrechnung, Verfahren zur Bedarfsplanung, die vorgesehene Abschaffung der Gemeinsamen Servicestellen und die Schaffung unabhängiger Beratungsstellen. Themen waren zudem die Stärkung der Selbstbestimmung, trägerübergreifende Zusammenarbeit sowie Zuständigkeitsregelungen.

(Zitiervorschlag: Falk/Schimank: VBG Fachtagung – Wege zu einer umfassenden Teilhabe – Good Practice und Perspektiven; Beitrag D18-2016 unter www.reha-recht.de; 17.05.2016)


 

Am 22. April 2016 fand in Hamburg die Fachtagung „Wege zu einer umfassenden Teilhabe – Good Practice und Perspektiven“ statt. Veranstalter war die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG).

I. Themenblock 1 – Bundesteilhabegesetz und Weiterentwicklung des SGB IX

Dr. Rolf Schmachtenberg (Bundesministerium für Arbeit und Soziales [BMAS]) führte mit seinem Grundsatzvortrag „Das Bundesteilhabegesetz – Weiterentwicklung des Teilhaberechts – Reform der Eingliederungshilfe“ in den ersten Themenblock der Veranstaltung ein. Er gab einen Überblick über die aktuellen Reformen des Behindertenrechts und ordnete das Bundesteilhabegesetz (BTHG) in das Gesamtgefüge aktueller Reformvorhaben[1] ein. Ergänzend sprach der Referent aktuelle Vorhaben, Programme und Initiativen zur Teilhabe behinderter Menschen an, z. B. die „Initiative Inklusion II“, die „Rehainitiative“ im Bereich medizinischer und medizinisch-beruflicher Rehabilitation sowie die „Inklusionsinitiative II – AlleImBetrieb“[2], mit welcher die Erweiterung des Zugangs zu Integrationsprojekten und eine künftige Steigerung der Beschäftigtenzahlen erreicht werden soll. Darüber hinaus sei im Herbst der neue Teilhabebericht der Bundesregierung zu erwarten und ein Teilhabe-Survey geplant zur Erfassung der Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen.

1. Spannungsfeld: Entlastung der Kommunen und Bremsen der Ausgaben­dynamik

Im Anschluss wandte er sich der Reform der Eingliederungshilfe (EGH) zu. Anhand einer länderbezogenen Darstellung der Fallkosten verdeutlichte er deren gewachsenen Anteil am gesamten Sozialbudget sowie die länderspezifischen Unterschiede. Nach derzeitigen Prognosen sei bei unverändertem Fortgang für den Zeitraum 2012 bis 2020 mit einem weiteren Anstieg der Zahl der Leistungsberechtigten um etwa ein Viertel sowie mit einer Steigerung der Ausgaben für die EGH um ca. 30 Prozent zu rechnen. Für das BTHG ließen sich im Wesentlichen zwei große Ziele ableiten, die sich bereits im Koalitionsvertrag finden: Die Verbesserung der Selbstbestimmung[3] unter Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und das Bremsen der bisherigen Ausgabendynamik. Schmachtenberg ging in diesem Zusammenhang auf die im Koalitionsvertrag vorgesehene Entlastung der Kommunen im Umfang von fünf Milliarden Euro jährlich von der EGH ein und er verdeutlichte das Spannungsfeld bei der Umsetzung beider Ziele.[4]

2. Aufbau und Regelungsinhalte

Anschließend ging Schmachtenberg unter Bezugnahme auf den öffentlich gewordenen ersten Arbeitsentwurf des BMAS vom 18.12.2015[5] zum BTHG auf die Regelungsinhalte und die Neustrukturierung des SGB IX ein. Insgesamt werde es bei der geplanten Dreiteilung bleiben: Die Regelungen des allgemeinen Rehabilitations- und Teilhaberechts sollen unter Vornahme weniger Änderungen als 1. Teil des SGB IX im Wesentlichen bestehen bleiben. Daran wird sich das Eingliederungshilferecht als neugefasster 2. Teil anschließen. Den 3. Teil des SGB IX wird das Schwerbehindertenrecht als weiterentwickelter Bereich des vormaligen 2. Teils bilden. Im Folgenden stellte Schmachtenberg die vorgesehenen Regelungsinhalte der einzelnen Teile näher vor, die sich im Wesentlichen mit den bereits bekannt gewordenen Inhalten decken.[6]

„Turbo-Klärung“ und Teilhabeverfahrensbericht

Als Neuerung präsentierte Schmachtenberg das Prinzip einer sogenannten „Turbo-Klärung“ im Rahmen des geplanten verbindlichen Teilhabeplanverfahrens. Nach dieser ist eine schnelle und einvernehmliche Klärung der Leistungsverantwortung innerhalb der bereits in Gang gesetzten Frist möglich, sollte der zweitangegangene Rehabilitationsträger für keine der beantragten Leistungen zuständig sein.[7] Die Leistungserbringung durch die verschiedenen Reha-Träger soll dadurch beschleunigt werden und die Leistungserbringung wie aus einer Hand gewährleisten. Außerdem werde der Aufgabenbereich der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) um die Erstellung eines Teilhabeverfahrensberichts ausgeweitet.

Schaffung unabhängiger Beratungsstellen und Wegfall der Gemeinsamen Servicestellen

Das Gesetz verpflichte die Bundesregierung zur Förderung unabhängiger Beratungsstellen. Diese sollen in Kooperation mit den Ländern, aber ohne deren finanzielle Beteiligung entstehen. Aus Sicht des BMAS kompensiere die Einführung einer ergänzenden unabhängigen Beratung den geplanten Wegfall der bisher gesetzlich verpflichtend einzurichtenden Gemeinsamen Servicestellen. Das Konzept der Gemeinsamen Servicestellen habe sich laut Schmachtenberg in der Vergangenheit nicht bewährt und sei wegen deren geringer Inanspruchnahme entbehrlich. Die Abschaffung sei zudem erforderlich, da sonst Unklarheiten und Abweichungen bei der Beratung durch die verschiedenen Stellen zu befürchten seien. Generell ausschließen wollte Schmachtenberg Diskussionsbedarf um den Fortbestand Gemeinsamer Servicestellen aber nicht; bei einzelnen gut funktionierenden Servicestellen sei durchaus zu hinterfragen, ob deren Schließung sinnvoll sei. Flächendeckend sei das Konzept jedoch nicht länger erforderlich, daher werde die allgemeine gesetzliche Verpflichtung künftig abgeschafft. In dieser Frage bleibt aus Sicht der Autorinnen jedoch unberücksichtigt, dass es sich bei den Gemeinsamen Servicestellen um ein Beratungsangebot der Rehabilitationsträger handelt, bei den unabhängigen Beratungsstellen hingegen um ein Angebot der Selbsthilfe. Die jeweils unterschiedlichen Formen der Beratung, einerseits durch staatliche Stellen und andererseits durch unabhängige Selbsthilfeeinrichtungen, können einander nicht ersetzen. Der Anspruch auf unabhängige Beratung kann den Anspruch gegen den staatlichen Sozialleistungsträger in Gestalt der Gemeinsamen Servicestelle nicht ersetzen. Eine Gefahr von Überschneidungen, wie sie das BMAS befürchtet, wird nicht gesehen.

Veränderungen bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen – Vereinfachtes Prüfverfahren

Die Veränderungen bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen, vom BMAS als „Verbesserung“ bewertet, sollen in zwei Stufen zum 1. Januar 2017 und zum 1. Januar 2020 eingeführt werden. Neu angedacht ist ein vereinfachtes Prüfverfahren durch Vorlage des Steuerbescheides des Vorjahres. In der Konsequenz soll dies dazu führen, dass lediglich Steuerzahler von der Regelung profitieren. Wer keine Steuern zahlt, soll hingegen bewusst aus dem vereinfachten Verfahren herausfallen.

In späteren Diskussionsbeiträgen wurde die fortbestehende Einkommens- und Vermögensanrechnung ungeachtet der geplanten Vereinfachungen als nach wie vor benachteiligend deutlich kritisiert. Darauf hob Schmachtenberg hervor, dass jedenfalls die Anrechnung des Partnereinkommens vollständig wegfallen soll. Für diejenigen behinderten Menschen, die auch auf Hilfe zur Pflege angewiesen sind, werde es jedoch nicht zu den erhofften Verbesserungen kommen. Im Wesentlichen bleibe es hier bei den alten Anrechnungsregelungen. Damit muss sich der Entwurf auch weiterhin entgegenhalten lassen, dass die Regelungen nicht benachteiligungsfrei sind.

Weitere vorgesehene Änderungen

Zu den weiteren vorgesehenen Änderungen zählen nach Schmachtenberg u. a. Änderungen im Bereich Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA), so die Einführung eines Budgets für Arbeit (BfA) sowie bei WfbM-Beschäftigten eine geringere Anrechnung des Arbeitsentgelts auf die Grundsicherungsleistungen, sowie detailliertere Regelungen im Bereich Bildung, u. a. durch die eingeschränkt festgeschriebene Möglichkeit von Assistenzleistungen für ein Masterstudium.[8] Insoweit ist allerdings zu warnen, dass eine Beschränkung von Assistenzleistungen allein auf ein Masterstudium einen deutlichen Rückschritt im Hinblick auf gleichberechtigte Teilhabe auch während der späteren akademischen Qualifikation, z. B. Promotion oder Habilitation, darstellen würde.

Aktueller Zeitplan und Entwicklungsstand

Abschließend präsentierte Schmachtenberg den aktuellen Zeitplan und Entwicklungsstand des Gesetzgebungsvorhabens. Zum 1. Januar 2017 seien das Inkrafttreten von Vorschriften zur veränderten Einkommens- und Vermögensanrechnung im Bereich der EGH sowie vorgezogene Änderungen im Schwerbehindertenrecht zu erwarten. Das Inkrafttreten der Teile 1 und 3 sowie bestimmter, noch nicht näher benannter Regelungen, des künftigen 2. Teils des SGB IX sei zum 1. Januar 2018 geplant. Hierzu zählt z. B. die Einführung des Gesamtplanverfahrens. Das Inkrafttreten der Gesamtvorschriften des neuen Teils 2 – Eingliederungshilferecht ist zum 1. Januar 2020 geplant.

Am 13. April 2016 sei der Entwurf zuletzt im Koalitionsausschuss behandelt worden, die Abstimmung mit Ressorts, Verbänden und Ländern stehe derzeit aber noch aus. Der Kabinettsbeschluss werde noch vor der Sommerpause angestrebt, unmittelbar danach solle die Beratung in Bundestag und Bundesrat erfolgen, bevor das BTHG voraussichtlich gegen Jahresende verabschiedet werden soll. Der zeitliche Plan hänge jedoch von der Klärung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ab.

3. Statements zum Vortrag

Es folgte ein Kommentar von Markus Hofmann (Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB). Dieser kritisierte die Ankündigung, das BTHG mit dem Bund-Länder-Finanzausgleich zu verknüpfen, scharf und beschrieb die „Inhaftnahme des BTHG“ als Skandal. Es sei allen Akteuren von Beginn an bewusst gewesen, dass die Reform des Teilhaberechts Kosten verursacht.

Eine Stellungnahme zu einzelnen Aspekten des Referentenentwurfs sei leider nicht möglich, da dieser nicht vorliege[9]. Der im Dezember bekannt gewordene Arbeitsentwurf sei zudem bereits überholt. Hofmann forderte ausdrücklich die Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts im aktuellen Referentenentwurf. Im Arbeitsentwurf vom Dezember 2015 habe man dies verpasst. Er ging sodann auf Kernforderungen, die an das BTHG aus Sicht der Gewerkschaften zu stellen sind, ein. Zu diesen zählten keine Einkommens- und Vermögensanrechnung, keine Einschränkungen und Leistungskürzungen, ein zügiges Verfahrensrecht, das nicht hinter dem SGB IX zurückbleibt und dominant im Gesetz platziert ist, und mehr Teilhabe- und Wahlmöglichkeiten behinderter Menschen im Arbeitsleben.[10] Zudem müssten Leistungsträger stets zuerst auf den individuellen Bedarf des behinderten Menschen schauen und diesen danach unter das Gesetz subsumieren. Von erheblicher Bedeutung sei außerdem, die Datenbasis über die Lebenslagen behinderter Menschen zu verbessern. Schlussendlich gelte es, sowohl das BTHG als auch das PSG II noch in diesem Jahr auf den Weg zu bringen. Alles andere wäre ein erheblicher Rückschritt und berge die Gefahr, dass eine nachfolgende Regierung dies nicht leisten kann.

Ein weiterer Kommentar erfolgte durch Dr. Volker Hansen (Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, BDA). Arbeitgeber hätten insgesamt ein großes Interesse an einem funktionierenden Rehabilitations-System. Besonders wichtig hierfür sei die Stärkung der BAR, es sei jedoch fraglich, ob dies reiche, damit sie besser und effektiver arbeiten kann. Hansen sprach sich gegen einen Wegfall der Anrechnung von Einkommen und Vermögen aus, was in der späteren Diskussion auf scharfe Kritik stieß. Hansen argumentierte, dass auch bei nicht behinderten Menschen ihr Einkommen auf steuerfinanzierte Sozialleistungen angerechnet wird. In der späteren Diskussion trat ein Teilnehmer dieser Argumentation deutlich entgegen und verwies auf den wesentlichen Unterschied, dass nicht behinderte Menschen jedoch die Möglichkeit hätten, aus dem Sozialhilfesystem hinauszugelangen.

Hansen sprach sich weiterhin für die vorgesehene Streichung der Gemeinsamen Servicestellen aus. Die Erfahrung habe gezeigt, dass diese nicht in Anspruch genommen werden. Im Diskussionsverlauf wurde jedoch auf regional durchaus gut funktionierende Gemeinsame Servicestellen verwiesen. Trotz der Tatsache, dass es sich bei den Gemeinsamen Servicestellen nicht um einen anderen Träger handelt, sondern um eine spezialisierte Stelle eines Rehabilitationsträgers, so dass zwischen beiden formal nicht zu trennen ist, verwies der Referent darauf, dass die Reha-Träger selbst die besten Berater seien.

Letztlich biete das BTHG bei entsprechender inhaltlicher Ausgestaltung die Möglichkeit, ein gutes Gesetz zu werden, allerdings sei derzeit damit zu rechnen, dass es auf viel Unzufriedenheit stoßen wird.

II. Themenblock 2 – Umfassende Ermittlung des Bedarfs an Leistungen

Es folgte der zweite Themenblock mit einem Podiumsgespräch zwischen Gundula Roßbach (DRV Bund), Bernd Beyrle (Techniker Krankenkasse), Dr. Dirk Mellies (Bezirksamt Wandsbek) und Margarete Krause (VBG Duisburg). Die Teilnehmenden stellten zunächst die unterschiedlichen Vorgehensweisen bei der Bedarfsfeststellung in ihren Institutionen vor. Dabei zeigten sich sowohl bei der ersten Kontaktaufnahme mit den Rehabilitanden als auch hinsichtlich der Methoden zur Bedarfsermittlung deutliche Unterschiede bei der Vorgehensweise der jeweiligen Einrichtungen.[11] Kritisiert wurde vor allem die lange Verfahrensdauer von der Antragstellung bis zur Leistungserbringung. Verantwortlich hierfür sei häufig die späte Informationsweitergabe und Bedarfsmeldung der behandelnden Mediziner an die zuständigen Reha-Träger, im Besonderen an die Krankenkassen. Wichtigstes Instrument bei der personenorientierten Bedarfsfeststellung sei daher der enge persönliche Kontakt zwischen Reha-Trägern und Rehabilitanden. Weiterhin spiele die gut funktionierende trägerübergreifende Zusammenarbeit eine wichtige Rolle, um doppelte Feststellungsverfahren und Entscheidungsüberprüfungen zu vermeiden. Diskutiert wurden in diesem Zusammenhang bessere Vernetzungsmöglichkeiten der Reha-Träger untereinander.

Die hohen Anforderungen an den Datenschutz, die sich auch im neuen § 44 Abs. 4 SGB V (Sozialrechtliches Eingliederungsmanagement) finden, wurden insbesondere von Beyrle dabei als Einschränkung der patientenzentrierten Beratung gesehen. Diskutiert wurde daher die Veränderung sozialdatenschutzrechtlicher Regelungen durch das BTHG, um einen raschen trägerübergreifenden Informationsfluss und eine umfassende Bedarfsermittlung gewährleisten zu können. Schmachtenberg lehnte dies in einem späteren Redebeitrag jedoch ausdrücklich ab und warnte vor Gefahren für das Selbstbestimmungsrecht der Rehabilitanden.

Marc Nellen (BMAS) erklärte in seiner Stellungnahme, dass § 14 SGB IX die Koordination der Reha-Träger künftig optimieren soll. Angedacht sei zudem eine Soll-Vorschrift zum Zwecke der Vermeidung von Mehrfachbegutachtungen. Krause kritisierte die Regelung als „Soll-Vorschrift“ scharf. Diese werde keine Verbesserung bewirken, da es kein Regelungsproblem gebe, sondern ein praktisches Umsetzungsproblem.

Laut Nellen versuche das BTHG außerdem, die Vielzahl unterschiedlicher Instrumente der Bedarfsermittlung zusammenzubringen und zu vereinfachen. Eine Vereinheitlichung lehnte er aufgrund des gegliederten Systems und der unterschiedlichen Arbeitsweisen der Reha-Träger jedoch ab. In naher Zukunft solle die große Freiheit der verschiedenen Methoden zunächst noch bestehen bleiben, das BMAS wolle diese bundesweit evaluieren und die Wichtigsten anschließend bei der Verfahrensvereinfachung besonders berücksichtigen. In jedem Fall werde es aber für die EGH eine klare Regelung zur Orientierung an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) geben.

In der weiteren Diskussion wurde angeregt, das Case-Management mit dem BTHG für die Reha-Träger bundeseinheitlich zu normieren. Schmachtenberg erklärte, dass dies nicht im Rahmen des BTHG, durchaus aber für das neue soziale Entschädigungsrecht[12] vorgesehen sei. Aus dem Plenum wurde als sehr problematisch angemerkt, dass die Rolle der Sozialdienste in den vergangenen Jahren geschwächt wurde, dies gelte es künftig zu ändern.

III. Themenblock 3: Selbstbestimmung und Partizipation

Den ersten Vortrag des dritten Themenblocks hielt Marion Rink (Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Selbsthilfe). Die Referentin ging zunächst auf Voraussetzungen ein, die ihrer Ansicht nach erfüllt sein müssen, damit eine gleichberechtigte Teilhabe möglich ist. Demnach müssten Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen als Personen anerkannt werden, Armut und prekäre Lebenslagen bekämpft werden, Demütigung, Zwang und Missachtung vermieden werden sowie der Zugang zu allen staatlichen Sozialleistungen gewährleistet sein. Real sei es jedoch so, dass sich viele Rehabilitanden und Rehabilitandinnen unverstanden fühlen. Zwar gebe es eine Vielzahl rechtlicher Grundlagen, praktisch fehle es jedoch oftmals an deren Umsetzung. Für eine gelingende Rehabilitation sei eine aktive Beteiligung der Rehabilitanden auf Augenhöhe besonders wichtig. Diese müsse auch als Kriterium für die Qualitätsmessung herangezogen werden. Zentral seien die Einbeziehung von Kontextfaktoren und die Berücksichtigung der Sozial- und Lebenswelt; die Anwendung der ICF durch Hausärzte; ein funktionierendes Reha-Team sowie die Schaffung barrierefreier Kommunikation.

Es folgte ein Vortrag von Dr. Constanze Schaal (Rehazentren Deutsche Rentenversicherung [DRV] Baden-Württemberg [BaWü]). Die Partizipation der Rehabilitanden und Rehabilitandinnen beschrieb sie als unzureichend. Wesentlicher Gelingensfaktor sei, dass sich eine entsprechende Haltung innerhalb des Reha-Teams entwickelt. Zudem hob die Referentin die Bedeutung der ICF als „gemeinschaftliche Sprache“ hervor. Schaal stellte sodann zwei Forschungsprojekte der Rehazentren DRV BaWü vor. In der Rehaklinik Heidelberg-Königstuhl wird eine wissenschaftliche Studie mit dem Heidelberger Kompetenztraining (HKT) durchgeführt. Bei diesem handelt es sich um ein psycho-edukatives Verfahren, das praxistaugliche Strategien vermitteln soll, um individuelle Ziele besser zu erreichen.[13] In einem weiteren Projekt befassen sich die Forschenden mit der Nachsorge von Männern mit depressiven Störungen anhand eines internetbasierten Nachsorgeprogramms. Die Referentin schloss mit einem Plädoyer für mehr Partizipation in der Rehabilitation. Besonders sinnvoll wäre die flächendeckende Einführung von Fallmanagern, auch in der DRV.

Im darauffolgenden Podiumsgespräch diskutierten Marion Rink und Dr. Constanze Schaal gemeinsam mit Prof. Dr. Felix Welti (Universität Kassel) und Eckehard Froese (VBG). Thematisch ging es unter anderem um die Einbindung der Selbsthilfeverbände bei der Erstellung der Gemeinsamen Empfehlungen (GE) der BAR sowie im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Bei ersteren sei die Selbsthilfe über den Deutschen Behindertenrat (DBR) beteiligt. Im G-BA sei die Selbsthilfe vertreten, habe aber kein Stimmrecht. Diskutiert wurde auch das Auseinanderklaffen von geschriebenem Recht und dessen Umsetzung. Prof. Welti stellte in diesem Zusammenhang das Projekt „Partizipatives Monitoring der aktuellen Entwicklung des Rehabilitations- und Teilhaberechts“ vor, welches die Implementierung des BTHG wissenschaftlich begleitet.[14] Weiterhin wurde die Problematik der Zuständigkeitsstreitigkeiten aufgegriffen, die, trotz der im SGB IX geregelten Verfahrensvorschriften, immer wieder für rechtliche Auseinandersetzungen sorgen. Probleme werden hier besonders im Bereich der Hilfsmittelversorgung deutlich.[15] Eine Möglichkeit dies mit dem BTHG aufzulösen, wäre für Welti, die Zuständigkeit nur eines Trägers für die Versorgung mit Hilfsmitteln zu bestimmen. In der für das Plenum geöffneten Diskussion wurden weiterhin die Beratungspflichten der Sozialleistungsträger angesprochen, die dafür Sorge tragen müssen, dass behinderte Menschen mit ihnen und den Leistungserbringern auf Augenhöhe kommunizieren können. In diesem Zusammenhang ebenfalls aufgegriffen wurde das Erfordernis, Leichte Sprache flächendeckend zu verankern. Welti verwies darauf, dass mit der Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes des Bundes (BGG)[16] Bundesbehörden verpflichtet werden, Leichte Sprache stufenweise bis 2020 einzuführen. Zur Stärkung der Selbstbestimmung der Betroffenen könne darüber hinaus der Behandlungsvertrag nach § 630a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) beitragen, der auch im Verhältnis Rehabilitand/Rehabilitandin – Leistungserbringer gelte.[17]

IV. Themenblock 4: Trägerübergreifende Zusammenarbeit bei der Leistungs­erbringung

Im vierten Themenblock sprach Dr. Helga Seel (BAR) zur Bedeutung der Zusammenarbeit in der Rehabilitation. Durch eine funktionierende Kooperation könnten Doppelstrukturen vermieden werden. Grundvoraussetzung sei eine Verständigung über Schlüsselbegriffe. Im Reha-Prozess müsse stets der Kontakt mit dem Rehabilitand/der Rehabilitandin am Anfang stehen. Ein wichtiges Instrument zu Ausgestaltung stellen die Gemeinsamen Empfehlungen (GE) der BAR dar. Hierbei gebe es GE, die sehr gut genutzt werden, wie die GE zur Zuständigkeitsklärung oder die GE Unterstützte Beschäftigung. Andere wiederum werden seltener herangezogen. Eine zentrale Rolle im Reha-Prozess komme zudem dem/ der Reha-Berater/in zu. Mit dem BTHG verbindet die Referentin die Hoffnung, dass die Position der BAR gestärkt wird. Die Gemeinsamen Servicestellen betreffend äußerte Seel, dass die Grundidee sehr gut sei. Bei der Implementierung der Stellen für unabhängige Beratung warnte die Referentin davor, nicht dieselben Fehler wie bei den Gemeinsamen Servicestellen zu machen. Hierzu zählten mangelnde Bewerbung der Gemeinsamen Servicestellen sowie deren fehlende Erkennbarkeit nach außen anhand einer eindeutige Bezeichnung So lasse der Name „Gemeinsame Servicestelle“ nicht erkennen, dass in diesen Einrichtungen der Rehabilitationsträger die Beratungen trägerübergreifend erfolgen. Abschließend betonte die Referentin die Bedeutsamkeit der Motivation der einzelnen Akteure bei der trägerübergreifenden Zusammenarbeit. Der Gesetzgeber könne und solle lediglich die Rahmenbedingungen für eine funktionierende und nachhaltige Zusammenarbeit schaffen.

Anschließend referierte Jan Miede (DRV Braunschweig-Hannover) und ging zunächst auf die Rahmenbedingungen, Anforderungen und Grenzen der Zusammenarbeit ein. Er präsentierte Strategien zur beruflichen (Re-)Integration und stellte ein Fallmanagementkonzept der DRV Braunschweig-Hannover im Bereich der medizinisch-beruflichen Rehabilitation (MBOR) vor. Zu weiteren Aktivitäten der DRV Braunschweig-Hannover zählen die Projekte „Integrationsnetzwerk Niedersachsen Stufe 3“; und „Wirtschaft inklusiv“ sowie ein Kooperationsprojekt mit der Berufsgenossenschaft Bau. Der Referent präsentierte zudem ein Kooperationsmodell für trägerübergreifendes Firmenmanagement, wies zugleich aber auch auf Schwachstellen hin. Künftig wolle man zur weiteren Schnittstellenoptimierung aus dem Fallmanagement der DRV Braunschweig-Hannover heraus systematisch Betroffene ausfindig machen, die derzeit noch nicht erfasst werden konnten und auf diese Weise gezielt Hindernisse identifizieren und in der Konsequenz Lösungsansätze ausarbeiten.

Am abschließenden Podiumsgespräch beteiligten sich Dr. Helga Seel, Jan Miede, Hans-Joachim Prassel (Zertifizierter Disability Manager) und Maureen Podiwin (VBG). Diskutiert wurden strukturelle Probleme im System, wie die nur gering zur Verfügung stehende Zeit der einzelnen Akteure im Rehabilitationsgeschehen. Darüber hinaus berichtete Frau Podiwin von positiven Erfahrungen mit den Gemeinsamen Servicestellen in Bielefeld. Im Gesprächsverlauf sahen die Diskutierenden als eine Ursache für das Scheitern der Gemeinsamen Servicestellen u. a. die fehlende Werbung an. Obwohl eine bessere Bewerbung und Unterstützung der Gemeinsamen Servicestellen naheliegender erscheint, wurde in der Diskussion lediglich darauf verwiesen, dass man bei der Einführung der geplanten unabhängigen Beratungsstellen diesen Fehler auf keinen Fall wiederholen dürfe. Es sei zudem wichtig, sich nicht ausschließlich auf die gesetzlichen Regelungen zu verlassen, Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung sei in erster Linie die Bereitschaft der Reha-Träger, kooperativ zu arbeiten.

Beitrag von Dipl. jur. Angelice Falk und Cindy Schimank, LL.M; beide Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Fußnoten:

[1] Hierzu zählen die Reform des Behindertengleichstellungsrechts, des Pflegeversicherungsrechts und des Sozialen Entschädigungsrechts sowie die Erarbeitung des Nationalen Aktionsplans 2.0.

[2] Siehe hierzu: BAnz AT 21.04.2016 B1.

[3] Im Sinne von Inklusion, Selbstbestimmung, Personenzentrierung, Assistenz und Ressourcenorientierung.

[4] Siehe hierzu auch die Präsentation von R. Schmachtenberg beim Diskussionsforum „Teilhabegesetz auf dem 25. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquium in Aachen, abrufbar unter: http://www.reha-recht.de/fileadmin/user_upload/Infothek/Politik/2016/Pr%C3%A4sentation_Teilhabegesetz_Schmachtenberg_Reha-Kolloqu_Aachen.pdf sowie zusammengefasst in Giese/ Rambausek/ Ramm/ Schülle: Bericht zum „Diskussionsforum Teilhabegesetz“ beim 25. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquium in Aachen; Beitrag D10-2016 unter www.reha-recht.de; 29.03.2016.

[5] Abrufbar unter www.dgsp-sh.de/download/2015-12-Arbeitsentwurf-BTHG.pdf.

[6] Siehe hierzu auch die Präsentation von R. Schmachtenberg beim Diskussionsforum „Teilhabegesetz auf dem 25. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquium in Aachen, abrufbar unter: http://www.reha-recht.de/fileadmin/user_upload/Infothek/Politik/2016/Pr%C3%A4sentation_Teilhabegesetz_Schmachtenberg_Reha-Kolloqu_Aachen.pdf sowie zusammengefasst in Giese/ Rambausek/ Ramm/ Schülle: Bericht zum „Diskussionsforum Teilhabegesetz“ beim 25. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquium in Aachen; Beitrag D10-2016 unter www.reha-recht.de; 29.03.2016.

[7] Siehe hierzu Arbeitsentwurf zum BTHG v. 18.12.2015, B – Besonderer Teil zu § 14, S. 8 ff.

[8] Weiterführend siehe Präsentation von R. Schmachtenberg beim Diskussionsforum „Teilhabegesetz auf dem 25. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquium in Aachen sowie Giese/ Rambausek/ Ramm/ Schülle: Bericht zum „Diskussionsforum Teilhabegesetz“, vgl. Fn. 3.

[9] Stand 22.04.2016. Der Entwurf wurde am 26.04.2016 veröffentlicht.

[10] Im Einzelnen u. a. nachzulesen in der gemeinsamen Stellungnahme von DGB und BDA „Zusammenarbeit der Reha-Träger verbessern“ vom 01.09.2015, abrufbar unter www.dgb.de/themen/++co++3ef6b63a-6696-11e5-a955-52540023ef1a sowie im gemeinsamen Forderungspapier von DGB, Deutschem Behindertenrat, der Behindertenbeauftragten des Bundes und weiteren Verbänden „Sechs Kernforderungen zum Bundesteilhabegesetz“ vom 11.05.2016, abrufbar unter www.dgb.de/themen/++co++30c43798-0c5b-11e6-8c22-52540023ef1a.

[11] Insgesamt stehen ca. 400 verschiedene Methoden zur Bedarfsfeststellung zur Verfügung.

[12] Geplant ist, das BVG in ein SGB XIV zu überführen. Diese Regelung bedarf der Zustimmung der Länder.

[13] Weitere Informationen zum Projekt finden Sie unter: www.rehazentren-bw.de/forschung-kooperationen/forschungsprojekte/. Siehe auch: Nechwatal, Heidelberger Kompetenztraining zur nachhaltigen Lebensstiländerung in der kardiologischen Prävention und Rehabilitation, in: Neurol Rehabil 2016; 22 (1): 28–34.

[14] Für weiterführende Hinweise siehe: www.reha-recht.de/monitoring/; Projektergebnisse werden in Form von Beiträgen laufend über das Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht (www.reha-recht.de) veröffentlicht.

[15] Siehe hierzu die Moderierte Online-Diskussion Fragen – Meinungen – Antworten (FMA) zum Thema „Praktische und rechtliche Fragen der Hilfsmittelversorgung“, abrufbar unter: www.reha-recht.de/diskussionen/.

[16] Zum aktuellen Stand siehe: Ramm, Kurzbericht zur öffentlichen Anhörung zum Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts am 25. April 2016 in Berlin, Beitrag D15-2016 unter www.reha-recht.de.

[17] Vgl. Nebe, Verbraucherschutz in der medizinischen Rehabilitation. Der Behandlungsvertrag nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch, in: RP Reha Heft 1/2016, S. 43–53.


Stichwörter:

Bedarfsermittlung, Bundesteilhabegesetz (BTHG), Gemeinsame Servicestellen, Inklusion, Kooperation der Rehabilitationsträger, Teilhabeanspruch, Unabhängige Beratung, Zuständigkeit, Inklusionsbetrieb (Integrationsprojekt, Integrationsunternehmen)


Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Mit * gekennzeichnete Felder müssen ausgefüllt werden.