02.06.2016 D: Konzepte und Politik Ertl/Möller/Narr/Weber: Beitrag D20-2016

Tagungsbericht „Der Beitrag des Sozialrechts zur Realisierung des Rechts auf Gesundheit und des Rechts auf Arbeit für behinderte Menschen“ am 26. und 27. November 2015 in Hamburg – Teil 2

Christian Ertl, Julia Möller, Anja Narr und Susanne Weber berichten in dem zweiteiligen Beitrag über die Veranstaltung „Der Beitrag des Sozialrechts zur Realisierung des Rechts auf Gesundheit und des Rechts auf Arbeit für behinderte Menschen“, die am 26. und 27. November 2015 in Hamburg stattfand.

Der zweite Teil fasst dabei die wesentlichen Inhalte des zweiten Veranstaltungstages zusammen. Im Fokus stand das Recht auf Arbeit behinderter Menschen im Sozialrecht sowie aus Art. 27 UN-Behindertenrechtskonvention. Dazu wurde insbesondere vertieft, welchen Beitrag eine betriebliche oder betriebsnahe Rehabilitation leisten kann, welche Bedeutung Instrumente wie das Betriebliche Eingliederungsmanagement in diesen Prozessen haben und welche Barrieren grundsätzlich für Personen, die als nicht erwerbsfähig gelten, bestehen.

(Zitiervorschlag: Ertl/Möller/Narr/Weber: Tagungsbericht „Der Beitrag des Sozialrechts zur Realisierung des Rechts auf Gesundheit und des Rechts auf Arbeit für behinderte Menschen“ am 26. und 27. November 2015 in Hamburg – Teil 2; Beitrag D20-2016 unter www.reha-recht.de; 02.06.2016)

IV. Das Recht auf Arbeit behinderter Menschen im Sozialrecht (Teil 1)

Prof. Dr. Wiebke Brose (Universität Duisburg-Essen) referierte über die Auslegung der Begriffe Arbeit und Arbeitsmarkt im Sinne des Art. 27 UN-BRK. Sie führte aus, die UN-BRK sei insoweit lediglich ein Auftrag an den deutschen Gesetzgeber und habe keine unmittelbare Geltung. Dennoch müsse Art. 27 UN-BRK im deutschen Sozialrecht ernsthaft gewürdigt und einbezogen werden. Im Gegensatz zum deutschen Sozialrecht, wo zwischen erwerbsgemindert und nicht erwerbsgemindert differenziert werde, gelte Art. 27 UN-BRK unabhängig von Art und Schwere der Behinderung. Weiter ging Brose der Frage nach, ob Art. 27 UN-BRK die Abschaffung der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) fordere. Dies sei weder nach Wortlaut, noch nach Sinn und Zweck des Art. 27 UN-BRK erforderlich. Die Abschaffung der WfbM würde zu einer Totalinklusion von Menschen mit Behinderung in den allgemeinen Arbeitsmarkt führen. Dies sei problematisch, da auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt der Fokus auf der Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liege und somit Menschen mit schweren Behinderungen ausgeschlossen werden könnten. Allerdings sei für eine Umsetzung von Art. 27 UN-BRK eine Umgestaltung der WfbM notwendig, beispielsweise durch eine stärkere Öffnung der Werkstätten für den allgemeinen Arbeitsmarkt und somit auch für nicht behinderte Menschen. Gleichzeitig müsse man die Rechtsstellung von WfbM-Beschäftigten stärken. Dazu gehörten die stärkere Einbindung in den arbeitsrechtlichen Schutz sowie Maßnahmen zur Rentenaufstockung, da WfbM-Beschäftigte rechtlich bislang als „Wie-Beschäftigte“ gesehen werden. Hierbei müsse jedoch dem einzelnen Menschen Rechnung getragen werden, um insbesondere Menschen mit schweren Behinderungen nicht auszuschließen.

Dr. Bettina Weinreich (Hochschule der Bundesagentur für Arbeit, Campus Schwerin) schloss sich ihrer Vorrednerin darin an, dass eine vollständige Abschaffung der WfbM nicht sinnvoll sei, da eine vollständige Inklusion aller Menschen mit Behinderung in den allgemeinen Arbeitsmarkt wohl nicht realisierbar sei. Sie referierte zum Thema „Das Recht auf Arbeit: Realisierungen und Defizite für Personen, die nicht als erwerbsfähig gelten“. Weinreich führte aus, dass wesentliche Teile des Art. 27 UN-BRK bereits im SGB IX umgesetzt worden seien. Dennoch bestehe weiterhin Handlungsbedarf. So sei es notwendig, so wenige Sonderarbeitswelten wie möglich zu haben. In diesem Zusammenhang seien WfbM problematisch, da der Zugang zu den Werkstätten nach § 136 Abs. 2 SGB IX auf werkstattfähige Personen beschränkt sei. Das Ziel von Art. 27 UN-BRK sei jedoch, jedem Menschen mit Behinderung die Möglichkeit zu geben, durch persönlichen Beitrag seinen Lebensunterhalt durch Arbeit selbst zu verdienen. Dies müsse auch für Menschen mit hohem Hilfebedarf gelten, selbst wenn dies mit einem höheren Kostenaufwand verbunden sei. Dementsprechend sei der Gesetzgeber gefordert, die „Werkstattfähigkeit“ als Zugangsvoraussetzung für Teilhabe am Arbeitsleben nach § 136 Abs. 2 SGB IX ersatzlos zu streichen, um eine Vereinbarkeit der WfbM mit Art. 27 UN-BRK sicherzustellen. Ebenfalls problembehaftet sei die Tatsache, dass Werkstattbeschäftigte lediglich in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis stehen und somit nicht vom besonderen Kündigungsschutz nach § 85 SGB IX umfasst sind. Auch dies sei im Hinblick auf Art. 27 UN-BRK zu überdenken. Außerdem seien Maßnahmen notwendig, um behinderte Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt konkurrenzfähig zu machen und Diskriminierungen zu vermeiden. Sie hob hervor, dass es mit Art. 27 UN-BRK nicht vereinbar sei, dass Werkstattbeschäftigte als arbeitnehmerähnliche Personen vom Mindestlohn und somit auch in puncto Einkommen von der Inklusion ausgeschlossen werden. Weinreich kam zu dem Schluss, dass zur Umsetzung der UN-BRK jedes einzelne Gesellschaftsmitglied gefordert ist, damit eine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz geschaffen werden könne.

Im Anschluss folgte ein Kommentar von Dr. Johannes Reimann (Schleswig-Holsteinischer Landkreistag) aus kommunaler Sicht. Insbesondere Menschen mit Behinderung in strukturschwachen Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit seien bei der Inklusion benachteiligt. Hier sei eine Vernetzung zwischen den kommunalen und örtlichen Leistungsträgern sowie ortsansässigen Unternehmern notwendig, um die Inklusion von Menschen mit Behinderung zu fördern. Laut Reimann sollten die kommunalen Träger hierbei Ansprechpartner sein, um die möglichen Risiken für die Unternehmer zu verringern und die Bereitschaft der Leistungsberechtigten zur Erprobung des Übergangs in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu erhöhen.

Aus Sicht der Leistungserbringer stellte Dr. Jan Wulf-Schnabel (Stiftung Drachensee, Kiel) fest, dass der Arbeitsmarkt Menschen mit schweren Behinderungen exkludiere, da Unternehmen im Wettbewerb die Ware „Arbeitskraft“ optimal verwerten wollten. Hier bildeten die WfbM die „gesellschaftliche Klammer“. Das Maß der wirtschaftlichen Verwertbarkeit nach § 136 Abs. 2 SGB IX dürfe das Recht auf Arbeit gemäß Art. 27 UN-BRK jedoch nicht beschneiden, denn von der UN-BRK seien alle Menschen erfasst, unabhängig vom Ausmaß ihres Unterstützungsbedarfes im Lebenslauf.

Ingrid Körner (Senatskoordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen, Hamburg) berichtete aus ihrer täglichen Praxis von der Diskrepanz zwischen dem Anspruch aus der UN-BRK und den geltenden Gesetzen sowie der Rechtsprechung. Diese Diskrepanz führe dazu, dass die Inklusion eher behindert als gefördert werde. Als Beispiel führte Körner an, dass ein hoch qualifizierter Mensch mit Beeinträchtigung, der auf eine persönliche Assistenz angewiesen ist, trotz eines sehr guten Jobs als Angestellter lediglich bis zu einer Grenze von 2.600 Euro frei über sein Gehalt verfügen könne. Den Rest müsse er für seine Assistenz an den Sozialhilfeträger im Rahmen der Anrechnung eigenen Einkommens abführen. Dies sei für Menschen mit Behinderung unerträglich sowie diskriminierend und führe dazu, dass jegliche Motivation, eine gut bezahlte Arbeit anzunehmen, genommen werde. Von Gleichstellung sei dies weit entfernt.

Den Kommentarteil schloss Dr. Hans-Günter Ritz (Hamburger Behörde für Soziales und Familie) mit der These, nach § 2 Abs. 2 SGB IX seien behinderte Beschäftigte mit einer Wochenarbeitszeit von unter 15 Stunden von der Gleichstellung gänzlich ausgeschlossen. Dies betreffe vor allem Menschen, die Rente wegen voller Erwerbsminderung erhalten. Diesen Menschen bleibe die notwendige persönliche Unterstützung durch die Integrationsfachdienste verwehrt. Dies sei insbesondere deshalb problematisch, da diese Menschen im Alter von Armut bedroht sind. Er schlug daher vor, eine spezielle schwerbehindertenrechtliche Beschäftigungspflicht für Minijobs neu zu regeln.

V. Das Recht auf Arbeit behinderter Menschen im Sozialrecht (Teil 2)

Prof. Dr. Katja Nebe (Universität Halle-Wittenberg) führte zunächst an, dass empirische Untersuchungen weitere Möglichkeiten in der Rechtsumsetzung und -wirkung für einen inklusiven Arbeitsmarkt deutlich machen. Zwar gebe es Detailregelungen, die behinderungsbedingte Diskriminierungen verböten und zum Abbau von Barrieren und angemessenen Vorkehrungen verpflichteten, allerdings hätten sich im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung noch weitere Kritikpunkte offenbart. Die Prüfung des Aktionsplans durch den UN-Fachausschuss für die Rechte behinderter Menschen habe den sichtbaren Handlungswillen positiv bewertet, im Bereich Arbeit könne aber beim Abbau von Sonderbildungs- und Sonderarbeitswelten sowie bei der Sensibilisierung und stärkeren Menschenrechtsorientierung mehr getan werden. Diese Kritik könne den angestoßenen Reformprozess weiter vorantreiben und dazu beitragen, bewährte Modelle rechtlich zu verankern und finanziell zu stärken. Es werde zudem deutlich, wie wichtig ein offener Arbeitsmarkt mit veränderten Einstellungen, Prozessen und gestärkten Ressourcen zur Gestaltung von Übergängen aus Sonderarbeitswelten (z. B. durch ein Budget für Arbeit) sei. Für den Abbau der Sonderarbeits- und Sonderlebenswelten sei es notwendig, dass das Sozialrecht Wiedereingliederungs- und Rehabilitationsmaßnahmen möglichst direkt am Arbeitsmarkt fördere. Nebe wies daher darauf hin, dass die Vorteile einer betrieblichen oder betriebsnahen Rehabilitation sowohl für die medizinische als auch für die berufliche Rehabilitation erkannt worden seien, was bereits in verschiedenen Leistungsansprüchen deutlich werde. Als Beispiel für die medizinische Rehabilitation führte sie die Stufenweise Wiedereingliederung an, die es längerfristig erkrankten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ermöglicht, schrittweise Arbeitsumfang und -inhalte zu erhöhen. Bereits im Rehabilitationsprozess sei das Ziel, möglichst früh und nachhaltig an den Arbeitsplatz zurückzukehren, was eine frühzeitige Kommunikation über Arbeits(platz)bedingungen und Arbeitsschutz notwendige mache. Als weitere Instrumente, die sich am allgemeinen Arbeitsmarkt ausrichteten, nannte Nebe die Verpflichtung der Reha-Einrichtungen, Teile der beruflichen Ausbildung in Betrieben und Dienststellen durchzuführen sowie das Modell „Budget für Arbeit“. Zwar seien WfbM schon heute verpflichtet, Übergänge in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen, was aber tatsächlich nur selten stattfinde. Das „Budget für Arbeit“ werde in einigen Bundesländern erprobt und sehe einen dauerhaften Minderleistungsausgleich dar.

Nachfolgend wies Steffen Dannenberg (Deutsche Rentenversicherung Nord) in seinem Kommentar darauf hin, dass die Zahl der Umschulungen in den letzten Jahren um 47 Prozent gesunken sei, da klassische berufliche Umschulungsmaßnahmen nicht immer den gewünschten Erfolg zeigten, wenn es etwa darum gehe, psychische Belastungen zu senken. Stattdessen seien ein frühzeitiger Reha-Zugang und Maßnahmen mit einem wesentlich höheren betrieblichen Anteil das Ziel. Neben dem Firmenservice, der unter anderem individuelle Beratung, Vorträge, Sprechtage sowie Demographieberatung umfasse, wurden die intensivere Zusammenarbeit mit Betriebs- und Werkärzten sowie verschiedene Präventionsleistungen als geeignete Maßnahmen und Leistungen genannt. Ziel der Präventionsleistungen sei die Verbesserung leichter Beschwerden durch gesunde Ernährung, Bewegung und Entspannung bevor sich daraus ernsthafte Erkrankungen entwickelten.

In dem anschließenden Kommentar befasste sich Detlef Baade (Eurogate – Schwerbehindertenvertretung) mit dem Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM). Im Rahmen des BEM werde die Schwerbehindertenvertretung lediglich bei schwerbehinderten oder ihnen gleichgestellten Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen hinzugezogen. Praktisch bedeutsam sei insbesondere die Frage, wer die Kosten für das BEM trage. Betriebliche Barrieren wie beispielsweise mangelnde Informationen über das Bestehen und den Verfahrensablauf des BEM müssten abgebaut werden, so Baader. Weiterhin zeigte Baade anhand von Praxisbeispielen auf, wie der Arbeitsplatz individuell angepasst werden könne. Dies kann z. B. durch die Unterstützung des Integrationsamtes oder technische Hilfsmittel erfolgen. Wie Baade abschließend hervorhob, sei hierbei insbesondere bei psychischen Erkrankungen die Kommunikation von herausragender Bedeutung.

Prof. Dr. Karl-Jürgen Bieback (Universität Hamburg) kam in seinen Ausführungen in der Abschlussrede zu der Schlussfolgerung, dass WfbM zwar in das Konzept der UN-BRK passten, sich allerdings anpassen und flexibler werden müssten. Als sinnvolle Instrumente führte Bieback Quoten, disability mainstreaming sowie die zunehmend nachgefragte Firmenberatung der Deutschen Rentenversicherung (DRV) an, was einen Wandel bei der Orientierung auf Rehabilitation in den Betrieben deutlich mache. Diese Orientierung auf Betriebe werde auch durch die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben der DRV deutlich. In der anschließenden Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass das Fallmanagement der GKV in der Praxis oft problematisch und nicht auf den Einzelfall abgestimmt sei.

Die Tagung hat einen regen Diskurs über die UN-BRK und die in ihr garantierten Rechte ergeben. Der Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis hat dabei gezeigt, dass es (noch) eine große Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis gibt, deren Ausräumung für eine Verwirklichung der Rechte auf Gesundheit und Arbeit unbedingt notwendig ist.

Beitrag von Christian Ertl, B.A., Julia Möller, LL.B., Anja Narr, B.A., Susanne Weber, Dipl. Soz.juristin (alle Universität Kassel, Masterstudiengang Sozialrecht und Sozialwirtschaft)


Stichwörter:

Betriebliche Gesundheitsförderung (Prävention), Betriebliches Gesundheitsmanagement, Gesundheitsprävention, Gesundheitsschutz, Krankheit und Behinderung, Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE), UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)


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