08.06.2017 D: Konzepte und Politik Schülle: Beitrag D23-2017

Bericht zum 26. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquium – Teil II: Schwerpunkt Rehabilitation und Migration

Im zweiten Teil des Berichts zum 26. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquium der Deutschen Rentenversicherung Bund, das im März 2017 stattfand, befasst sich Mirjam Schülle mit Vorträgen und Diskussionen zum Schwerpunkt Migration. Einführend gab der erste Plenarvortrag zunächst einen Überblick über die gesundheitliche Lage von Menschen mit Migrationshintergrund, die Inanspruchnahme medizinischer Rehabilitationsleistungen, wesentliche Zugangs- und Wirksamkeitsbarrieren sowie mögliche Strategien einer nutzerorientierten Versorgungsgestaltung (I.).

Anknüpfend hieran stellten die Referenten im Rahmen des Panels Reha-System Projekte, konzeptionelle Ansätze zum Umgang mit Diversität sowie Einflussfaktoren auf die Implementierung migrationssensibler Versorgungskonzepte vor (II.). Der abschließende Beitrag ging der Frage nach, inwieweit eine Auflockerung des sozialrechtlichen Territorialitätsprinzips im Schwerbehindertenrecht notwendig erscheint (III.).

(Zitiervorschlag: Schülle: Bericht zum 26. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquium – Teil II: Schwerpunkt Rehabilitation und Migration; Beitrag D23-2017 unter www.reha-recht.de; 08.06.2017.)


Thema des diesjährigen Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquiums war "Prävention und Rehabilitation in Zeiten der Globalisierung". Entsprechend berichtet dieser zweite Teil des Beitrags über Vorträge und Diskussionen zum Schwerpunkt Migration.[1]

I. Plenarvortrag: Rehabilitation und Migration: Zugang, Wirksamkeit, Herausforderungen

Der Plenarvortrag im Rahmen des Kolloquiums widmete sich der – bisher wenig beachteten – Schnittstelle von Rehabilitation und Migration. Der Gesundheitswissenschaftler Prof. Dr. Oliver Razum (Universität Bielefeld) gab dazu einen grundlegenden Überblick.

1. Gesundheitliche Lage von Menschen mit Migrationshintergrund

Razum begann damit einen Überblick über die Personengruppe zu geben. Rund ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland (17,1 Millionen laut Mikrozensus) hat einen Migrationshintergrund, das heißt, dass diese Menschen selbst nach Deutschland zugewandert sind oder aber Kinder oder Enkelinnen und Enkel von Eingewanderten sind. Die größte Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund sind nach den (Spät)-Aussiedlerinnen und Aussiedlern türkischstämmige Menschen. Allerdings gilt Deutschland erst seit 2001, nach dem so genannten Süssmuth-Bericht, als "Einwanderungsland".

Problematisch sei v. a. dass in den erfassten Routinedaten – auch diejenigen der Deutschen Rentenversicherung Bund [DRV Bund] – das Merkmal Menschen mit Migrationshintergrund nicht auftritt, sondern lediglich die Staatsangehörigkeit erfasst werde. Daher könne auch die Gesundheitsberichterstattung keine umfassenden Aussagen zur gesundheitlichen Lage von Menschen mit Migrationshintergrund geben. Dennoch sei aus den wenigen gesundheitswissenschaftlichen Studien bekannt, dass Menschen mit Migrationshintergrund ein ähnliches Krankheitsspektrum wie die Mehrheitsbevölkerung haben, allerdings mit Unterschieden im Verlauf und in der Häufigkeit von Erkrankungen. So erkranken Menschen mit Migrationshintergrund häufiger in jüngeren Jahren an chronischen Erkrankungen wie Diabetes Mellitus sowie an altersbedingten Verschleißerkrankungen. Auch sind psychische Erkrankungen häufiger, was möglicherweise auf den ungünstigeren sozialen Status, die Informationsdefizite und unzureichende Kenntnisse der deutschen Sprache sowie die körperlich erhöhten belastenden Arbeitsbedingungen zurückzuführen sei. Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit haben, so der Referent, eine fast doppelt so hohe Erwerbsminderungsquote wie deutsche Staatsangehörige, sowohl die Berufserkrankungen als auch die Erwerbsminderungsquoten werden mit zunehmendem Alter größer.

Eine adäquate rehabilitative Versorgung für alle Menschen mit Migrationshintergrund sei daher besonders wichtig, zumal auch diese Bevölkerungsgruppe altert.

2. Inanspruchnahme und Wirksamkeit von medizinischer Rehabilitation

Auch zu der Versorgungssituation gebe es keine verlässlichen Daten. Wissenschaftlich nachgewiesen sei, dass Menschen mit Migrationshintergrund durch präventive Angebote oft schlechter erreicht werden als die Mehrheitsbevölkerung. Besonders deutlich sei dies in der medizinischen Rehabilitation zu sehen. So nahmen von 2002 bis 2004 ca. 4,9 % der Menschen ohne Migrationshintergrund Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation in Anspruch, bei Menschen mit Migrationshintergrund war der Anteil mit 3,0 % wesentlich geringer. Diese unterschiedliche Nutzung lasse sich allein durch die Unterschiede in Alter, sozialer Lage und Gesundheitszustand nicht erklären. Zudem seien die Rehabilitationsergebnisse bei Menschen mit Migrationshintergrund oft ungünstiger. So zeigten sich eine geringere berufliche Leistungsfähigkeit, ein geringerer Anteil von verbesserten Behandlungsergebnissen sowie ein höheres Risiko für eine Erwerbsminderungsrente nach Reha-Abschluss. Dieses Risiko liege beispielsweise für Menschen mit einer Staatsangehörigkeit aus der Türkei oder dem ehemaligen Jugoslawien um 70 % bzw. 41 % höher (nach Adjustierung für Alter, ökonomische und gesundheitliche Faktoren) als bei deutschen Staatsangehörigen.

3. Zugangs- und Wirksamkeitsbarrieren

Menschen mit Migrationshintergrund würden im Gesundheitswesen allgemein, insbesondere aber auch in Rehabilitationseinrichtungen auf hohe Zugangsbarrieren treffen, welche die Inanspruchnahme und Qualität ihrer Versorgung nachteilig beeinflussen können. Neben sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten gehörten dazu fehlende bedarfsgerechte Informationen (mehrsprachig) über Angebote und sozialrechtliche Ansprüche. Daneben könnten kulturelle und religiöse Bedürfnisse, denen von den Versorgungsinstitutionen nicht ausreichend Rechnung getragen wird, die Kommunikation erschweren. Beispielsweise wenn Einrichtungen ein entsprechendes Essensangebot nicht gewährleisten oder einen zeitlichen wie örtlichen Raum zur entsprechenden gewünschten religiösen Praxis nicht ermöglichen. Ferner könnten durch Sprachbarrieren kulturspezifische Symptombeschreibungen, subjektive Krankheitsvorstellungen und Krankheitsausbrüche zu Missverständnissen zwischen Rehabilitandinnen bzw. Rehabilitanden und dem Personal in den Einrichtungen eine optimale Versorgung hemmen, wenn die Versorgungseinrichtungen diese Aspekte nicht ausreichend berücksichtigen. Schließlich könnten auch die vorurteilbehafteten Einstellungen der Einrichtungen und Dienste zu einer wesentlichen Barriere für die Betroffenen werden.

4. Strategien einer nutzerorientierten Versorgungsgestaltung

Zu den Herausforderungen zählte Razum insbesondere das Schnittstellenmanagement zu verbessern, die Angebote bedarfsgerecht zu gestalten und die Regeldienste diversitätssensibel zu öffnen, was beispielsweise in der Pränatalversorgung gut gelungen sei. Auf Ebene der Versorgungsstruktur könnten Unterstützungsangebote mit einer Case-Management-Funktion dabei helfen, Zugangsbarrieren zur Rehabilitation zu senken. Auch könne mit aufsuchenden Versorgungsstrukturen wie z. B. der Mobilen Reha die Versorgung aktiv an die Zielgruppe herangetragen werden. Maßnahmen auf Ebene der Versorgungspraxis mit migrations- und kultursensiblen Angeboten, bspw. mehrsprachige Schulungsangebote und Informationen, seien sicherlich – auf den ersten Blick – sinnvoll. Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen sei i. d. R. aber nicht überprüft, zudem sei die Bevölkerung mit Migrationshintergrund äußerst heterogen, das heißt eine flächendeckende Umsetzung sei mit diesen Maßnahmen äußerst schwierig sicher zu stellen. Zielführend könne deshalb insbesondere die Förderung interkultureller Handlungskompetenzen von Gesundheitspersonal sein, der Einsatz von Sprach- und Kulturmittlern oder idealerweise Maßnahmen eines Diversity-Management-Versorgungs­ansatzes strukturell in der Organisation zu verankern. Ein solcher Ansatz beachte den wichtigen Aspekt, dass alle Patientinnen und Patienten unterschiedliche Bedürfnisse haben, die berücksichtigt werden müssen. Eine „neue Normalität“ werde somit gefördert anstatt „Migrationshintergrund versus Einheimisch“ zu verfestigen. Damit könne nicht nur das Merkmal von Andersartigkeit wahrgenommen werden, sondern ebenso die Merkmale Geschlecht, Alter, sozialer Status mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen und Bedarfen. Für einen solchen Ausgestaltungsprozess seien insbesondere die Kliniken als auch die Sozialgesetzgebung gefordert.

5. Podiumsdiskussion und Meinungen aus dem Plenum

In der anschließenden Podiumsdiskussion wurde insbesondere die Aufgabe der Kliniken und Einrichtungen erörtert. Eine breite Meinung im Podium wie auch im Plenum betonte, dass die "Kliniken nicht überfordert werden dürften", bei der Umsetzung ein bedarfsgerechtes Angebot für alle Anspruchsgruppen, insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund, zu schaffen. So sei es bspw. nicht ratsam, wenn der Anteil der Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund auf über 20 % aller Rehabilitandinnen und Rehabilitanden steige, der Grund für diese Aussage wurde nicht genannt. Auf der Gegenseite der Argumente wurde lediglich dezent erwähnt, dass auch der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen wiederholt klargestellt hat, dass alle Menschen das Recht auf einen gleichen Zugang haben (müssen) und es auch die Pflicht der Einrichtungen ist, dies sicher zu stellen. Vonseiten der DRV wurde versichert, dass die Bewilligungs- und Ablehnungsquoten bei Menschen mit Migrationshintergrund und der Allgemeinbevölkerung gleich seien. Offen blieben die Fragen an die Praxis und Wissenschaft, mit welcher diversitätssensiblen Kompetenz die Reha-Fachberaterinnen und -Fachberater aufgestellt sind und welche Erwartungen die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit Migrationshintergrund an die Einrichtungen haben. Abschließend wurde die Wichtigkeit der Thematik in Aus- und Weiterbildung aller Berufe im Gesundheitswesen betont.

II. Aus dem Panel Reha-System:

Im Rahmen des Panels Reha-System, unter der Moderation von Prof. Dr. Felix Welti (Universität Kassel) und Dr. Ralf Bürgy (MediClin GmbH) wurden die folgenden drei Vorträge mit Bezügen zwischen Rehabilitation und Migration vorgestellt.

1. Veränderungen subjektiver Zugangsbarrieren und Antragsintention zur Rehabilitation von Migrantinnen und Migranten – Abschließende Ergebnisse aus MiMi-Reha

Daniel Nowik (Medizinische Hochschule Hannover) stellte das MiMi-Reha (Mit Migranten für Migranten) Projekt vor, in dem muttersprachliche Informationsveranstaltungen durch speziell geschultes Personal aus der sog. Peer-Group durchgeführt und evaluiert wurden. Methodisch wurde mit einem prä-post Design gearbeitet, indem die Studienteilnehmenden Fragebögen vor und nach den Informationsveranstaltungen ausfüllten. Die Fragen waren auf Zugangsbarrieren, Vorstellungen über Rehabilitation, Antragsintention und subjektiven Bedarf fokussiert. Zusätzlich wurden zehn muttersprachliche Interviews mit Teilnehmenden sowie Fokusgruppen mit acht Expertinnen und Experten durchgeführt und qualitativ-zusammenfassend ausgewertet. Ein wichtiges Ergebnis der knapp 1.400 ausgewerteten Fragebögen war, dass sich eine Vielzahl subjektiv wahrgenommener Zugangsbarrieren für die Menschen vor der Informationsveranstaltung ergeben. Nach den Informationsveranstaltungen stieg die Wahrscheinlichkeit einer Antragsintension. Der Anteil derjenigen mit der Antragsintention nach den Veranstaltungen entspreche derer mit subjektivem Rehabilitationsbedarf. In den ergänzenden qualitativen Interviews konnten diese Ergebnisse bestätigt werden. Die Expertengruppen sahen Optimierungspotentiale in einem noch stärkeren Einbezug der Leistungsträger und Arbeitgeber, sowie einer stärkeren Vernetzung zwischen Projekt und Fachkräften. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Ergebnisse eine Wirksamkeit des MiMi-Reha-Ansatzes sehr nahe legen. Allerdings ließen sich aufgrund des Studiendesigns die Veränderungen nicht zweifelsfrei auf die Intervention zurückführen.

2. Konzeptionelle Ansätze zum Umgang mit der Diversität von Versorgungsnutzerinnen und Versorgungsnutzern– Eine systematische Literaturrecherche

Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche zu bestehenden Diversity Management (DiM)-Ansätzen wurden von Nurcan Akbulut (Universität Bielefeld) vorgestellt. Diese Ergebnisse wurden zudem auf ihre Umsetzbarkeit in Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation beurteilt. Als Hintergrund dient die Annahme, dass eine zunehmend diverser werdende Gesellschaft auch im Gesundheitswesen Konzepte und Strategien benötigt, um die Vielfalt von Versorgungsnutzerinnen und -nutzern bedarfsgerechter berücksichtigen zu können. Untersuchungen aus mehreren Ländern (u. a. USA und Großbritannien) zeigten bisher, dass eine diversitätssensibel gestaltete Versorgung sich positiv auf Versorgungsergebnisse auswirken kann. Ziel des DiM in Gesundheitseinrichtungen sei es, eine Synthese zwischen der organisatorischen Effektivität und Effizienz – häufig durch einseitige Wirkung auf Ebene der Mitarbeitenden – und der Erhörung gesundheitlicher Gerechtigkeit auf der Patientenebene zu schaffen.

In der Literatur ließen sich diversitätssensible Ansätze finden, die eine punktuelle Umsetzung des DiM im Fokus anstreben, bspw. Geschlecht und Behinderung. Es gebe wenig evaluierte operative Ansätze, die eine ganzheitliche Konzeptualisierung von DiM unter Berücksichtigung aller (oder zumindest mehrerer) relevanter Diversitätsdimensionen verfolgen. Vor diesem Hintergrund, der häufig einseitig und verkürzten Ausrichtung der DiM-Ansätze, ergebe sich in konzeptueller Hinsicht die Forderung, DiM als regulatives Prinzip in der Organisationskultur von Gesundheitseinrichtungen zu etablieren, welches in seiner Wirksamkeit durch eine wissenschaftliche Evaluation überprüft werden sollten.

3. Hindernde und fördernde Faktoren der Implementierung von migrationssensiblen Versorgungskonzepten in Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation – eine leitfadengestützte Fokusgruppenbefragung von Gesundheitspersonal

Die Ergebnisse einer Untersuchung zu hindernden und fördernden Faktoren der Implementierung von migrationssensiblen Versorgungskonzepten in Rehabilitationseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein stellte Tuba Aksakal (TU Chemnitz) vor. Es wurden insgesamt acht leitfadengestützte Fokusgruppenbefragungen im Frühjahr 2016 mit vier bis neun Mitarbeitenden der Einrichtungen durchgeführt. Laut den Befragten seien die größte Herausforderung bei der Reha von Menschen mit Migrationshintergrund die Verständigungsschwierigkeiten, welche nicht nur die sprachlichen Barrieren betreffen, sondern ebenso die persönlichen und kulturellen Unterschiede. Wichtig sei insbesondere die ausreichende Information über die bevorstehende Rehabilitation für die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, sonst könnten unerfüllte Erwartungen die Zufriedenheit und den Rehabilitationserfolg verringern. Ein hoher Stellenwert wurde von den Befragten einer migrationssensiblen Ausrichtung des Personals und der Einrichtungen beigemessen. Vor allem fehle es an finanziellen Ressourcen zur Implementierung von migrationssensiblen Konzepten, bemängelte das befragte Personal. Weitere Hürden seien die strukturellen und organisatorischen Schwierigkeiten, ebenso wie die teilweise fehlende Sensibilität des Personals im Umgang mit persönlichen und kulturbedingten Gegebenheiten der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden. Es bedürfe der Schulung und Sensibilisierung des Gesundheitspersonals und ebenso eines Bewusstseins von Seiten der Versorgungsträger und Anbieter, dass sich Investitionen in die Qualität des Personals langfristig als erfolgreich und kosteneffizient erweisen können.

III. Aus der Session Rechtswissenschaft: Konsequenzen der Globalisierung: Die Auflockerung des Territorialitätsprinzips im Schwerbehindertenrecht

In der Session Rechtswissenschaft am Mittwoch, den 22. März 2017 nahm Prof. Dr. Wolfhard Kohte (Zentrum für Sozialforschung Halle [ZSH], eh. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) die rechtswissenschaftliche Diskussion um eine notwendige Auflockerung des Territorialitätsprinzips im Schwerbehindertenrecht auf.

Beitragsabhängige Sozialleistungen sind im deutschen Sozialrecht durch das Territorialitätsprinzip gekennzeichnet, so der Referent. § 2 Abs. 2 SGB IX verlangt für schwerbehinderte Menschen, dass sie ihren Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben. Damit steht ein Wohnsitz außerhalb dieses Territoriums entgegen. Allerdings modifizierte 2007 das Bundessozialgericht (BSG)[2] diese Aussage mit der Begründung, auch der auf Dauer im Ausland lebende Kläger könne ein rechtlich geschütztes Interesse an der Beibehaltung der Schwerbehinderteneigenschaft haben, dazu benötige er lediglich den Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft. Diese Auflockerung entspricht auch der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.[3]

Eine weitere Auflockerung hat sich in den vergangenen Jahren durch die Migration selbst entwickelt. Der gewöhnliche Aufenthalt in Deutschland ist hier unproblematisch, da der tatsächliche Aufenthalt maßgeblich ist. Dies erwecke den Eindruck, dass die Schwerbehinderteneigenschaft eine rechtsgültige Aufenthaltserlaubnis voraussetzt. Eine solche Restriktion lehnte das BSG allerdings 2010 ab mit der Begründung, dies widerspreche dem menschenrechtlichen Gehalt der UN-BRK.[4] Im Übrigen zeige die Rechtswirklichkeit, dass auch ohne Aufenthaltserlaubnis doch mit aufenthaltsrechtlicher Duldung, eine wachsende Anzahl von Menschen am Arbeitsmarkt und am alltäglichen Leben teilnehmen. Zumindest für eine Duldung, die voraussichtlich mehr als sechs Monate dauert, könne die Schwerbehinderteneigenschaft anerkannt werden.

Außerdem haben sich in den vergangenen Jahren die realen und rechtlichen Verhältnisse geändert. Während vor wenigen Jahren der Mehrzahl der geduldeten Menschen erst nach längerer Wartezeit der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wurde, sind diese Wartezeiten derzeit auf teilweise drei Monate verkürzt worden (z. B. durch eine sog. "Qualifizierungsduldung" nach § 60a Abs. 2 Aufenthaltsgesetz). Dieses geänderte rechtliche Umfeld verlange auch im Schwerbehindertenrecht eine weitere Auflockerung des Territorialitätsprinzips und den Abschied vom Prognosezeitraum einer Duldung von wenigstens sechs Monaten.

Beitrag von Mirjam Schülle, M. S. Public Health, Universität Kassel

 


Fußnoten:

[1] Der erste Teil des Tagungsberichts wurde als Beitrag D22-2017: Liebsch/Schimank/Falk: Bericht zum 26. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquium – Teil I: "Meet the experts – BTHG" und weitere Beiträge mit Bezug zum BTHG; unter www.reha-recht.de veröffentlicht. Vergleiche außerdem Köhler: Vulnerable Zielgruppen in der Rehabilitation am Beispiel Migration: Herausforderungen und Lösungsansätze; Beitrag C4-2016 unter www.reha-recht.de; 22.09.2016.

[2] BSG, Urteil vom 05.07.2007 – B 9/9a SB 2/07 R.

[3] Vgl. Davy, European social citizenship: Ein Zwischenstand, ZESAR 2010, 307 ff.

[4] BSG, Urteil vom 29.04.2010 – B 9 SB 2/09 R – Vgl. auch Gagel, Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention – hier: Recht auf Feststellung des GdB und des Schwerbehindertenstatus für lediglich geduldete Ausländer, in Diskussionsforum A 13/2010 unter www.reha-recht.de.


Stichwörter:

Migration und Behinderung, Migration, Medizinische Rehabilitation, Versorgungsmanagement, Zugangsbarrieren, Territorialitätsprinzip, Schwerbehindertenrecht


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