28.09.2017 D: Konzepte und Politik Richter, Schülle: Beitrag D42-2017

Tagungsbericht über die Fachtagung des Sozialrechtsverbundes Norddeutschland e.V. "Die Integration Geflüchteter als Herausforderung für das Sozialrecht" Teil II: Gesundheitsversorgung, Auswirkungen für die Sozialversicherungen und Reformbedarfe

Die Autorinnen Alexandra Richter und Mirjam Schülle berichten in ihrem zweiteiligen Beitrag ausführlich von der Fachtagung des Sozialrechtsverbundes Norddeutschland e.V., die am 16. und 17. Februar 2017 in Schwerin veranstaltet wurde. Titel der Veranstaltung war die "Die Integration Geflüchteter als Herausforderung für das Sozialrecht".

Im ersten Beitragsteil wird über die berufliche Integration von Geflüchteten und dem Ausländerrechtlichen Status im Zusammenhang mit dem Zugang zum Sozialsystem berichtet.

Im zweiten Beitragsteil werden intensiv der Zugang zu Gesundheitsleistungen und die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Flüchtlingsentwicklung für die Sozialversicherungssysteme erörtert, abschließend werden die Reformbedarfe für die Integration Geflüchteter aufgezeigt.

(Zitiervorschlag: Richter/Schülle: Tagungsbericht über die Fachtagung des Sozialrechtsver-bundes Norddeutschland e.V. "Die Integration Geflüchteter als Herausforderung für das Sozialrecht" – Teil II: Gesundheitsversorgung, Auswirkungen für die Sozialversicherungen und Reformbedarfe; Beitrag D42-2017 unter www.reha-recht.de; 28.09.2017.)


Nachdem im ersten Beitragsteil[1] die Aspekte der allgemeinen sozialrechtlichen Integration Geflüchteter und besonders mit dem Schwerpunkt der Arbeitsmarktintegration vorgestellt wurden, werden in diesem zweiten Teil der Zugang zur Gesundheitsversorgung für Geflüchtete, die volkswirtschaftlichen Auswirkungen für die Sozialversicherungen und zuletzt die Reformbedarfe dargestellt.

IV. Gesundheitsversorgung: Rechtliche Gestaltungsvorgaben für die Gesundheitsversorgung Geflüchteter

Lars Hillmann (Universität Bayreuth) erörterte in seinem Vortrag sehr umfassend und detailliert die Regelungen zur Gesundheitsversorgung Geflüchteter innerhalb der ersten 15 Monate ihres Aufenthalts.[2] Zunächst stellte er den Status Quo der Gesetzeslage mit seiner Rechtsanwendung durch Verwaltung und Gerichte dar. Die Generalnorm zur Gesundheitsversorgung Geflüchteter ist § 4 AsylbLG, indem bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen die erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandsmitteln sowie die zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen zu gewähren sind. Die Behandlung chronischer Erkrankungen sei durch diesen abgesenkten Leistungsanspruch der Norm nicht gedeckt. Diese Abstufung sei vom Gesetzgeber deutlich gewünscht. Die Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe in der Norm sei in der Praxis sehr verwirrend, dadurch extrem unterschiedlich und im Wesentlichen abhängig von der Politik der Behörden und Gerichte. Insbesondere bei posttraumatischen Belastungsstörungen sei die Kostenübernahme sehr strittig und uneinheitlich. Neben dieser Generalnorm ermöglicht allerdings die Öffnungsklausel § 6 AsylbLG eine Leistung, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung […] der Gesundheit unerlässlich […] erforderlich ist. Darüber kann u. a. bei chronischen Erkrankungen ein Leistungsanspruch entstehen. Auch Eingliederungshilfeleistungen für Menschen mit Behinderungen[3] können über § 6 AsylbLG im Einzelfall gewährt werden.[4]

Hillmann machte in seinem zweiten Gliederungsschritt deutlich, dass die Generalnorm § 4 AsylbLG als verfassungswidrig zu beurteilen ist, da sie keine chronischen Erkrankungen miteinschließe und durch die Korrektivnorm § 6 AsylbLG dies auch nicht hinreichend rechtlich verankert sei. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG erfordere die Absicherung der "physischen Existenz" und umfasse daher auch Gesundheitsleistungen. Der pauschale Ausschluss chronischer (und damit insbesondere auch psychischer) Erkrankungen durch das AsylbLG sei damit unvereinbar. Zudem folge auch aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eine Gewährleistungskomponente. Im sog. Nikolausbeschluss[5] stellte das BVerfG fest, dass sich aus diesem Grundrecht und der Entscheidung des Staates, Verantwortung für Leben und körperliche Unversehrtheit der Versicherten zu übernehmen, die Pflicht des Staates ergibt, "Vorsorge in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung" zu treffen. Dieser Gedanke sei auch auf Asylsuchende anzuwenden, denen der Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen der Gesetzlichen Krankenversicherung und Pflegeversicherung verwehrt ist. Verfassungsrechtlich sei nach Art. 3 Abs. 1 GG eine Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der Asylsuchenden und gegenüber Nichtasylsuchenden in dieser Art und Weise nicht möglich. Eine Differenzierung im Umfang des Leistungsspektrums je nach Zugehörigkeit einer bestimmten Gruppe sei im Grundsatz zwar möglich, müsse sich jedoch an den strengen Anforderungen des Art. 3 Abs. 3 GG messen lassen und benötige eine genauere Analyse hinsichtlich der Besonderheiten der Gruppe und der Zielsetzung der Ungleichbehandlung. Die schlichte Differenzierung zwischen (nur) akut Kranken und (nur) chronisch Kranken, die sich zu Lasten der chronisch Erkrankten auswirkt, werde den Anforderungen an eine sachliche Differenzierung nicht gerecht. Insbesondere da die individuell zu (er)tragende Belastung von (rechtlich bereits bei Grenzübertritt) Asyl- und Schutzberechtigten nicht im angemessenen Verhältnis zu dem Ziel steht, Zuwendungen von Nicht-Schutzberechtigten zu begrenzen. Die Leistungsabsenkung nach § 1a AsylbLG für geduldete Menschen (§ 60a AufenthG) und vollziehbar Ausreisepflichtige und deren Familienangehörige, eingeschlossen Kindern, sei verfassungsmäßig äußerst fragwürdig. Für die Gesundheitsleistungen bedeute dies einen Leistungsausschluss für § 6 AsylbLG, d. h. lediglich eine absolute Minimalversorgung bei Krankheit.

Neben dem Verfassungsrecht seien zudem die europarechtlichen Vorgaben mit den §§ 4 und 6 AsylbLG nicht hinreichend umgesetzt. Die EU-Grundrechtecharta mit Art. 35 und 26 gewähre ein hohes Gesundheitsniveau, woran sich die EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33 (EU-RL) messe. Diese EU-RL (und die Vorgängerrichtlinie) sind seit über 15 Jahren nicht vollständig ins innerdeutsche Recht implementiert worden, was einen Verstoß gegen Europarecht darstellt. Demnach müssten die Inhalte des Art. 19 EU-RL[6] im AsylbLG verankert sein. Auch das Europarecht ermögliche, den Standard der medizinischen Versorgung (im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung) abzusenken, einzelne Aspekte wie bspw. die Behandlung chronischer Erkrankungen könnten allerdings nicht herausgenommen werden. Die Absenkung nach § 1a AsylbLG verstoße zudem auch gegen das Europarecht, welches lediglich eine materielle Leistungsabsenkung zulasse, Gesundheitsversorgung stelle allerdings keine materielle Leistung dar, sondern eine existenzsichernde und ggf. lebensnotwendige Leistung.

Aus den völkerrechtlichen Vorgaben, dem Internationalen Pakt für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte (Art. 12[7] und 9), der UN-Behindertenrechts­konvention[8] (v. a. Art. 25) und dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Art. 24[9] und 27) seien keine direkten subjektiven Ansprüche ableitbar. Die Beschränkung des Zugangs zu Gesundheitsleistungen trotz vorhandener tatsächlicher Möglichkeiten und Kapazitäten verstoße dennoch gegen diese internationalen Verpflichtungen Deutschlands.

Abschließend resümierte Hillmann, das die seit Jahren bestehenden Regelungen zur Gesundheitsversorgung nach dem AsylbLG verfassungs-, europarechts-, und völkerrechtswidrig sind und zudem ein Hindernis in der Integration schutzbedürftiger Menschen in das Gesundheitssystem darstellen. Für die Sozialgerichte bedeute dies in der Folge, einen solchen Fall an den Europäischen Gerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht vorzulegen.

Die DAK-Gesundheit unterstütze die frühzeitige Ausgabe der Gesundheitskarte für Geflüchtete nach der Zuweisung in die Kommunen, stellte Dr. Eckhard Bloch (DAK-Gesundheit) zu Beginn seines Kommentars klar. Das Verfahren mit der Gesundheitskarte sei für alle Beteiligten einfacher, sowohl für die Betroffenen als auch die Verwaltungen in den Kommunen. So können im Krankheitsfall die Geflüchteten mit der Gesundheitskarte direkt zu den Leistungserbringern gehen, die dann über die Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung entscheiden. Das bisherige Verfahren mittels der Behandlungsscheine habe wesentliche Nachteile; insbesondere den erhöhten organisatorischen Aufwand in den Kommunen und die hohen Verwaltungskosten der Kommune im Vergleich zu den Krankenkassen. Wichtig sei, wer de facto über den Leistungsumfang nach §§ 4 und 6 AsylbLG entscheidet. Nicht zuletzt sei es problematisch, dass nicht medizinisch ausgebildete Mitarbeitende der Kommunen über die Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung entscheiden. Mit der Gesundheitskarte trifft der oder die behandelnde Ärztin diese Entscheidung. In neun Bundesländern bestehen Rahmenvereinbarungen zwischen den Ländern und den Landesverbänden der Krankenkassen bzw. Ersatzkassen auf der Grundlage des § 264 Abs. 1 SGB V. Allerdings ist die Umsetzung in den Ländern und teilweise den Kommunen sehr unterschiedlich. So haben beispielsweise Schleswig-Holstein und Thüringen als einzige Flächenländer die Gesundheitskarte in allen Kommunen umgesetzt, in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Brandenburg und Niedersachsen sind nur einige wenige Kommunen der Rahmenvereinbarung beigetreten und haben entsprechend die Gesundheitskarte eingeführt. Der Umfang der medizinischen Leistungen richtet sich in allen Rahmenvereinbarungen nach den §§ 4 und 6 AsylbLG, allerdings sind die Interpretationen der Normen unterschiedlich ausgestaltet. So werden bspw. psychotherapeutische Leistungen[10] vielerorts in den Rahmenvereinbarungen als genehmigungspflichtig vermerkt, in Thüringen sind diese Leistungen grundsätzlich eingeschlossen.

In der anschließenden Diskussion wurde insbesondere der Frage nachgegangen, wie die Rechtsauslegung von §§ 4, 6 AsylbLG denn in den Behörden tatsächlich laufe. In Schleswig-Holstein sei die Umsetzung der Gesundheitskarte positiv erwirkt worden mit einem Leistungsniveau, welches die Normen sehr breit auslege, sodass annähernd das GKV-Niveau erreicht werde. Diese Aussage führte schnell zu dem prägnanten Schluss "Die Praxis wird’s richten, wenn es der Gesetzgeber nicht tut". Allerdings wurde diese Meinung nicht von allen Anwesenden geteilt, der überwiegende Teil der Kommunen, insbesondere diejenigen mit dem Behandlungsschein-Verfahren (also vorwiegend in Süd- und Ostdeutschland), interpretiere die Normen sehr restriktiv im Sinne einer absoluten Notfallversorgung und lege den Betroffenen große Hürden im Zugang auf.

V. Der Sachverhalt

a) Volkswirtschaftliche Auswirkungen der Flüchtlingsentwicklung für die Sozialversicherung

Ohne eine Zu- und Abwanderung – also im Status Quo – würden die deutsche Bevölkerungszahl und das Arbeitskräftepotential kräftig sinken, was negative Auswirkungen auf die Wirtschaftskraft des Standortes Deutschland, die Finanzierung öffentlicher Güter und die sozialen Sicherungssysteme hätte. Diese klare Aussage stand bei Prof. Dr. Arne Heise (Universität Hamburg) im Kern seines Beitrages. Die bisher in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund hätten bereits dazu beigetragen, dass der demografische Wandel und die damit einhergehenden Auswirkungen auf die Wirtschafts- und Sozialsysteme gemildert wurden. Im Durchschnitt zahle jeder in Deutschland lebende Mensch mit Migrationshintergrund über 3.000 Euro pro Jahr mehr in die sozialen Sicherungssysteme ein, als er daraus in Anspruch nehme. Um den Status Quo des Bevölkerungsstandes und des Arbeitskräftepotentials aufrecht zu erhalten benötige die BRD eine Netto-Zuwanderung von durchschnittlich mindestens 300.000 Menschen. Seit den 1990er Jahren blieb die Abwanderung bei 700.000 bis 800.000 jährlich konstant. Vor diesem demografischen Hintergrund sei die gegenwärtige Zuwanderung durch Geflüchtete als wünschenswert anzusehen.

Bei der Bestimmung der Auswirkungen der Geflüchteten auf die Sozialversicherung müsse allerdings zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Betrachtungen unterschieden werden. Kurzfristig, also in den nächsten ein bis zwei Jahren, würden beträchtliche finanzielle Belastungen auf die staatlichen Haushalte und die Sozialversicherungen zukommen. Die langfristigen finanziellen Auswirkungen auf die Sozialversicherungen seien allerdings von verschiedenen Faktoren abhängig: Der tatsächlichen Anzahl der Geflüchteten, den Anerkennungs- und Bleiberaten, der Gesundheitsentwicklung und Altersstruktur, der Arbeitsmarktintegration sowie der Qualifikation und dem Einkommensstatus. Daher lassen sich (pessimistische) Szenarien vorstellen, die eine dauerhafte negative Auswirkung auf die Sozialversicherungen erwarten lassen, aber auch solche, – der überwiegende Teil der Szenarien (optimistische und realistische) – in denen die Geflüchteten bereits recht schnell einen positiven Beitrag für die Finanzierung der Sozialversicherungen leisten könnten. Welches dieser Szenarien realistischer sei, hänge einerseits von den unkontrollierbaren Faktoren (u. a. Bleibedauer, Qualifikationsniveau, Altersstruktur), andererseits aber auch von beeinflussbaren Faktoren (u. a. Arbeitsmarktintegration, Qualifikationsentwicklung, Gesundheitsversorgung) ab. An der positiven Beeinflussung dieser Faktoren müsse sich der Erfolg der Geflüchteten- und Migrationspolitik messen lassen.

b) Weiterer Reformbedarf für die Integration Geflüchteter

Dr. Gabriele Buchholz (Bucerius Law School Hamburg) stellte zusammenfassend die arbeits- und sozialrechtlich relevanten Neuerungen der Integrationsgesetzgebung dar und bewertete diese gemessen an ihrer Zielsetzung. Die Integrationsgesetzgebung verspreche – getreu dem Motto "Fördern und Fordern" – Abhilfe bei Sprach- und Qualifikationsdefiziten und erleichtere den Zugang zum Arbeitsmarkt. Für all diese Regelungen gelte aber: "Gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht!" Sowohl punktuell als auch strukturell bestehe wesentlicher Nachbesserungsbedarf, um die Integration erfolgreich zu gestalten. Systematischer Reformbedarf bestehe insbesondere in den drei folgenden Punkten: 1). Auf Verwaltungsebene sind ein Bürokratieabbau und eine bessere Vernetzung der beteiligten Akteure von Bund, Ländern, Kommunen sowie Wirtschaftsverbänden und Unternehmen erforderlich. 2). Die Integration in das Arbeits- und Sozialsystem bedarf eines stimmigen Gesamtkonzepts. Erforderlich seien systematische Reformbemühungen, auch die Verfassung könne bei den dafür erforderlichen Überlegungen einen entscheidenden Beitrag leisten. 3). Integration könne nur dann gelingen, wenn sozialstaatliche Gleichheit gewährt ist, und zwar im doppeltem Sinn: Gemeint sind einerseits das Verhältnis der Ausländerinnen und Ausländer zur aufnehmenden Gesellschaft. Hier vor allem das "Existenzminimum" angesprochen, das nach der vielzitierten Kernaussage des BVerfG "migrationspolitisch nicht relativierbar"[11] ist. Andererseits sei die sozialstaatliche Gleichheit auch im Verhältnis der Asylsuchenden untereinander zu wahren. Eine unterschiedliche Behandlung, insbesondere ein selektiver Zugang zum Arbeitsmarkt, je nach "Bleibeperspektive" sei daher abzulehnen.

Aus Sicht der Deutschen Rentenversicherung Bund gab Dr. Reinhard Thiede folgendes Statement: Soweit die Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt gelinge, könne dies unmittelbare Auswirkungen auf die Anzahl der Versicherten und damit auch auf die Beitragseinnahmen der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) haben. Als sog. Faustregel gelte dabei: 100.000 zusätzliche Pflichtbeitragszahlende (Durchschnittsverdienst) führten zu Beitragseinnahmen von rund einer halben Milliarde Euro pro Jahr. Die höheren Beitragseinnahmen hätten dann in den Folgejahren Auswirkungen auf die Höhe des erforderlichen Beitragssatzes sowie – vermittelt über die Rentenanpassungsformel – auf die Anpassung des aktuellen Rentenwertes und damit die Höhe der Renten selbst. Die Höhe der Rentenansprüche der Geflüchteten, die erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert werden, sei grundsätzlich– wie bei Versicherten, die ihr gesamtes Leben im Inland verbracht haben – an der Einkommensposition orientiert, die für die Beitragszahlung maßgeblich war. Zusammenfassend konstatierte Thiede, dass die Integration Geflüchteter vielfältige und zum Teil gegenläufige Effekte in der GRV zur Folge haben könnte. Zu unterscheiden sei dabei zwischen den kurzfristigen und längerfristigen wirksam werdenden Auswirkungen. Das Ausmaß der Auswirkungen dürfte jedoch angesichts der im Vergleich zur Gesamtzahl der Versicherten und Rentenbeziehenden in der Gesetzlichen Rentenversicherung relativ geringen Geflüchtetenzahlen überschaubar bleiben.

Ein Statement aus Sicht der Anwaltschaft gab Volker Gerloff (Rechtsanwalt) mit dem einführenden Satz, dass das Ziel einer ergebnisorientierten Integration sein muss, Diskriminierungen abzubauen – also Barrieren zu beseitigen. Denn es seien diese Barrieren, die eine Integration überhaupt erst erforderlich machen. Im Bereich des Behindertenrechts sei die Debatte darum bereits ein gutes Stück weiter – dort spreche man von Inklusion, ausdrücklich als Gegenmodell zur Exklusion. Die wesentlichen Barrieren, die Geflüchtete von der deutschen Gesellschaft ausschließen, seien nicht ausreichende Sprachkenntnisse, fehlende Kenntnisse der gesellschaftlichen Werte und Rechtsordnung, nicht ausreichende soziale Beziehungen, zu wenig Anerkennung durch die Gesellschaft, Rassismus, Hürden im Zugang zu Bildung, Arbeit und Förderleistungen. Der Gesetzgeber könne hier nur bedingt regelnd eingreifen, könne aber richtungsweisend sein. So war es bis 2014 eine wesentliche Entscheidung des Gesetzgebers, dass Integration keineswegs anzustreben sei. Dies kam zunächst im Migrationsrecht zum Ausdruck, welches ganz überwiegend als besonderes Polizeirecht ausgestaltet war. Polizeirecht ist Gefahrenabwehrrecht, die abzuwendende Gefahr war dabei die Zuwanderung bzw. der dauerhafte Verbleib zugewanderter Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland. Mit dem Zuwanderungsgesetz sollte ein Paradigmenwechsel erfolgen. Im Ergebnis konnte sich diese – reformerische Idee; die Anerkennung, dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist – nur teilweise durchsetzen. Bis heute herrsche ein Kampf zwischen den Kräften des alten und neuen Denkens, was insbesondere bei den Regelungen des Zugangs zum Arbeitsmarkt beobachtet werden kann. So wurden in den vergangenen Jahren Fortschritte beim Abbau der Barrieren für Geflüchtete erreicht, teilweise aber auch neue Barrieren geschaffen, die abgebaut werden müssten. Beispielsweise sei zu überdenken, ob die Unterscheidung zwischen Geflüchteten mit guter Bleibeperspektive und solchen ohne eine solche Perspektive zielführend ist. Denn unabhängig von dieser Kategorisierung werde ein Großteil der Geflüchteten dauerhaft in Deutschland bleiben. Zudem müsse deutlich mehr für den gleichberechtigten Zugang zu Bildung für die große Anzahl an Kindern und Jugendlichen getan werden. Ein bilingualer Unterricht könnte bspw. einigen Praxisproblemen Abhilfe verschaffen. Zur Förderung der Ausbildung gab es gesetzliche Verbesserungen im Bereich der Förderung nach dem SGB III und BAföG, so wurde bspw. mit dem Integrationsgesetz die "Ausbildungsduldung" (nach § 60a Abs. 2, S. 4 AufenthG) eingeführt. Problematisch sei hier aber die Umsetzung; ein Großteil der Ausländerbehörden lege die Tatbestandsvoraussetzungen extrem restriktiv aus. Daher müsse neben den gesetzlichen Änderungen auch erzwungen werden, dass in den Ausländerbehörden ein Umdenken und Handeln stattfindet, sonst würden entsprechende gesetzlichen Maßnahmen weiterhin ins Leere laufen.

VI. Abschließendes Fazit

Prof. Dr. Gerhard Igl (em., Christian-Albrechts-Universität Kiel) wies abschließend auf zwei Szenarien der jüngeren bundesdeutschen Geschichte hin, die weder vorhersehbar noch planbar waren: Einerseits die Bewältigung der Kriegsfolgen in den 1950er-Jahren und andererseits die Wiedervereinigung 1989/90. Beide Ereignisse seien verhältnismäßig gut bewältigt worden, weil die finanziellen Belastungen der Sozialleistungen mit einem routinierten und eingespielten Sozialversicherungssystem getragen werden konnten. Die Herausforderungen der aktuellen Zuwanderung könnten angesichts ihrer Größenordnung unser Sozialsystem nicht ernsthaft gefährden, weil – wie sich anhand der beiden Beispiele gezeigt habe – die Bundesrepublik mit weitaus umfassenderen Transferleistungsmomenten ihre Standhaftigkeit und Solidität bereits bewiesen hat. Dennoch sei nicht zu verhehlen, dass auf verfassungs- und einfachgesetzlicher Ebene viele Dinge im Argen liegen und aus völkerrechtlicher Sicht sowie humanistischer Pflicht heraus der Gesetzgeber gefragt sei, an vielen Stellen nachzubessern. Zuletzt dürfe nicht vergessen werden, dass der Wert eines stabilen Sozialsystems, wie es in der Bundesrepublik Deutschland gegeben sei, sich nur dann festigen könne, wenn es nicht als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wird. Deshalb müsse die Festigung des Sozialrechts und der Sozialpolitik wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft, u. a. in Forschung und Lehre, sein.

Beitrag von Alexandra Richter, LL. M., und Mirjam Schülle, M. Sc. (Public Health), beide Universität Kassel

Fußnoten:

[1] Siehe Beitrag D40-2017 vom 21.09.2017 unter www.reha-recht.de.

[2] Siehe dazu auch die Beiträge von Schülle: Zugang zu Gesundheits- und Teilhabeleistungen für asylsuchende Menschen mit Behinderungen – Teil I: rechtliche Barrieren; Beitrag D17-2017 unter www.reha-recht.de; 18.05.2017 und Teil II: praktische Barrieren und Möglichkeiten; Beitrag D18-2017 unter www.reha-recht.de; 19.05.2017.

[3] Zu der Schnittstelle Migration und Behinderung siehe auch: Papadopoulou: Tagungsbericht des Fachforums "Behinderung und Migration – Diversität in Forschung und Praxis II" am 5. Februar 2015 in Kassel; Forum D, Beitrag D12-2015 unter www.reha-recht.de; 23.04.2015

[4] Der Ausschluss von Leistungen nach dem SGB IX wurde für geflüchtete Menschen, die Leistungen nach dem AsylbLG beziehen, mit dem Bundesteilhabegesetz (§ 100 SGB IX n. F. ab 01.01.2020) verfestigt. Vertiefend siehe dazu: Schülle: Ausschluss von Eingliederungsleistungen für Asylsuchende durch das Bundesteilhabegesetz – Überblick der Diskussion mit Ausblick für die Umsetzung; Beitrag D53-2016 unter www.reha-recht.de; 25.11.2016.

[5] BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005 – 1 BvR 347/98.

[6] Art. 19 Medizinische Versorgung     
(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Antragsteller die erforderliche medizinische Versorgung erhalten, die zumindest die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten und schweren psychischen Störungen umfasst. 
(2) Die Mitgliedstaaten gewähren Antragstellern mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme die erforderliche medizinische und sonstige Hilfe, einschließlich erforderlichenfalls einer geeigneten psychologischen Betreuung.

[7] (1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit an.

[8] Aus der UN-BRK leitete sich auch das Recht auf Feststellung des Grads der Behinderung und des Schwerbehindertenstatus bei lediglich geduldeten Menschen ab. Vertiefend siehe dazu: Gagel: "Umsetzung der UN-Behindertenkonvention – hier: Recht auf Feststellung des GdB und des Schwerbehindertenstatus für lediglich geduldete Ausländer" in Diskussionsforum A 13/2010 (Diskussionsbeitrag 13-2010) unter www.reha-recht.de.

[9] Artikel 24      
(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit an sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit. Die Vertragsstaaten bemühen sich sicherzustellen, daß keinem Kind das Recht auf Zugang zu derartigen Gesundheitsdiensten vorenthalten wird.

[10] Insbesondere bei psychotherapeutischen Leistungen sind die Sprach- und Kulturmittlerinnen und -mittler entscheidend. In diesem Zusammenhang kann auch die sozialmedizinische Begutachtung relevant sein. Vertiefend siehe dazu: Hausotter: Begutachtung von Personen mit Migrationshintergrund; Forum C, Beitrag C1-2015 unter www.reha-recht.de; 05.03.2015.

[11] BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – BvL 10/10, 1 BvL 2/11, NVwZ 2012, 1024, 1029.


Stichwörter:

Geflüchtete, Ausländerinnen und Ausländer, Berufliche Teilhabe, Gesundheitsversorgung, Zugangsbarrieren, Auslegung sozialrechtlicher Vorschriften, Integration


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