06.09.2017 E: Recht der Dienste und Einrichtungen Platt/Schimank: Beitrag E3-2017

Ärztliche Zwangsbehandlung für immobile Betreute – Anmerkung zu BVerfG v. 26.07.2016 – 1 BvL 8/15

Patricia Platt und Cindy Schimank besprechen eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 26.07.2016. Der erste Senat hatte sich im Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz) damit zu befassen, ob ein streng geregeltes Verfahren für eine ärztliche Zwangsbehandlung als letztes Mittel auch bei nicht untergebrachten Betreuten von Verfassungswegen vorzusehen ist, wenn ihnen krankheits- oder behinderungsbedingt die Einwilligungsfähigkeit in die erforderliche ärztliche Behandlung fehlt.

Für freiheitsentziehend untergebrachte Betreute sah § 1906 Abs. 3 BGB a. F. (geändert durch das Gesetz zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten vom 17.07.2017, BGBl. I S. 2426, in Kraft getreten am 22.07.2017) die Möglichkeit der Zwangsbehandlung bisher als ultima ratio vor. Für Betreute, die sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder körperlich dazu nicht in der Lage sind (immobile Betreute), existiert hingegen keine gesetzliche Regelung. Das BVerfG sah hierin einen Verstoß gegen die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.

Die Autorinnen befürworten, dass der Senat in seiner Begründung den Grundsatz der Erforderlichkeit und Subsidiarität der Betreuung bzw. der Betreuerentscheidung betont und die Rechte der Betroffenen stärkt. Zugleich setzen sie sich kritisch mit der Argumentation des Senats zur Vereinbarkeit medizinischer Zwangsmaßnahmen mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auseinander.

(Zitiervorschlag: Platt/Schimank: Ärztliche Zwangsbehandlung für immobile Betreute – Anmerkung zu BVerfG v. 26.07.2016 – 1 BvL 8/15; Beitrag E3-2017 unter www.reha-recht.de; 06.09.2017)


I. Thesen der Autorinnen

  1. Zwangsbehandlungen sind stets nur als ultima ratio, unter strengen Voraussetzungen und bei Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig.

  2. Das Selbstbestimmungsrecht der betreffenden Personen hat oberste Priorität. Wenn diese einen freien Willen nicht bilden können, muss versucht werden, dem/der Betreuten die Notwendigkeit einer medizinischen Maßnahme durch entsprechende Unterstützung und verständige Sprache zu erläutern mit dem Ziel, ggf. doch eine Einwilligung zu erhalten.

  3. Um die Patientenautonomie einer/s einwilligungsunfähigen Betreuten tatsächlich ernst zu nehmen, braucht der Betreuer/die Betreuerin ausreichend Zeit zur Kommunikation über die wirklichen Wünsche der betreuten Person.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

  1. Es verstößt gegen die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG), dass für einwilligungsunfähige Betreute eine medizinisch notwendige Behandlung gegen ihren natürlichen Willen als letztes Mittel mangels normierter strenger Voraussetzungen und Verfahrensregeln vollständig ausgeschlossen ist, wenn sie nicht freiheitsentziehend untergebracht werden können, weil sie die materiellen Voraussetzungen dafür wiederum nicht erfüllen (immobile Betreute).

  2. Einer verfassungskonformen Auslegung des § 1906 a. F. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), die eine medizinische Zwangsbehandlung auch ohne freiheitsentziehende Unterbringung rechtfertigt, ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Weg versperrt.

  3. Der Gesetzgeber hatte diese Schutzlücke unverzüglich zu schließen. Vorübergehend, bis zum Inkrafttreten der jetzigen Neuregelung des § 1906a BGB[1], war§ 1906 Abs. 3 a. F. BGB analog auf die Gruppe der immobilen Betreuten für deren stationäre Zwangsbehandlung anzuwenden.

  4. Der Schutzpflicht des Staates stehen völkerrechtliche Verpflichtungen nicht entgegen.

III. Hintergrund: Freier und natürlicher Wille, Koppelung der Zwangsbehandlung an eine freiheitsentziehende Maßnahme

Grundsätzlich entscheiden auch betreute Personen kraft ihres verfassungsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts selbst, ob und wie sie sich medizinisch behandeln lassen. Allerdings setzt jede medizinische Maßnahme die aufgeklärte Einwilligung und damit wiederum die notwendige Einwilligungsfähigkeit (d. h. Urteils- und Einsichtsfähigkeit) bezüglich der konkreten Maßnahme voraus.[2] Dieser sog. freie Wille liegt vor, wenn die betroffene Person Art, Bedeutung und Tragweite der Behandlung erfassen und ihren Willen auf dieser Grundlage frei bilden kann.[3] Fehlt der/dem Betreuten wegen einer psychischen Krankheit oder Behinderung (vgl. § 1896 Abs. 1 BGB) diese Einsichts- und Urteilsfähigkeit, ist die Einwilligung des Betreuers/der Betreuerin maßgebend (vgl. § 630d Abs. 1 Satz 2 BGB). Vom freien Willen wird der natürliche Wille unterschieden. Mit diesem bringt eine selbst nicht einwilligungsfähige Person ihren Wunsch bzw. Entschluss für oder gegen die Behandlung zum Ausdruck.[4]

Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in ärztliche Zwangsmaßnahmen[5] im Jahr 2013 regelte das Betreuungsrecht in § 1906 Abs. 3 a. F. BGB speziell, wann ärztliche Maßnahmen mit Einwilligung des Betreuers/der Betreuerin gegen den geäußerten natürlichen Willen einer/s Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahmen) zulässig sind.[6] Nach bisheriger Rechtslage war die Zwangsbehandlung danach an eine gerichtlich angeordnete Unterbringung gemäß § 1906 Abs. 1 BGB gekoppelt (vgl. § 1906 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 a. F. BGB).[7] Mit dem Gesetz zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme nicht geregelt wurden die ambulante Zwangsbehandlung sowie die stationäre Zwangsbehandlung ohne notwendige Unterbringung.

Der neue § 1906a BGB sieht nunmehr die Entkoppelung von der freiheitsentziehenden Unterbringung vor.[8]

IV. Sachverhalt

Die 63-jährige Betroffene litt an einer schizoaffektiven Psychose und wurde seit Ende 2014 rechtlich betreut. Die gerichtlich angeordnete Betreuung umfasste u. a. die Aufgabenkreise der Sorge für Pflege und Gesundheit, der Zustimmung zu ärztlichen Maßnahmen und Behandlungen sowie der Aufenthaltsbestimmung einschließlich der Entscheidung über eine Unterbringung oder unterbringungsähnliche Maßnahmen. Nach einem kurzzeitigen Aufenthalt in einer stationären Pflegeeinrichtung befand sich die Betroffene zunächst Mitte September 2014 mit richterlicher Genehmigung auf einer geschlossenen Demenzstation. Dort wurde sie auf Grundlage mehrerer betreuungsgerichtlicher Beschlüsse im Wege ärztlicher Zwangsmaßnahmen u. a. wegen einer Autoimmunerkrankung und ihrer psychischen Erkrankung medikamentös behandelt. Darüber hinaus wurde bei einer Untersuchung ein noch nicht durchgebrochenes Mammakarzinom festgestellt.

Die Betroffene war zu diesem Zeitpunkt sehr geschwächt und konnte sich nicht selbstständig fortbewegen. Geistig war sie nur in der Lage, ihren natürlichen Willen zu bilden und zu äußern. Im Rahmen der richterlichen Befragung äußerte sie mehrfach, dass sie wegen der Krebserkrankung nicht behandelt werden möchte. Die Berufsbetreuerin beantragte daraufhin die Verlängerung der Unterbringungsgenehmigung und die Genehmigung zur Durchführung einer Krebstherapie im Rahmen einer Zwangsmaßnahme.

V. Entscheidungen der Vorinstanzen und Vorlage des Bundesgerichthofs

1. Amtsgericht/Landgericht

Das Amtsgericht Stuttgart[9] wies den Antrag auf Genehmigung der Unterbringung und der Zwangsbehandlung zurück, da die Behandlung auch in einer offenen Einrichtung erfolgen könne. Eine Unterbringung sei dafür nicht erforderlich (vgl. § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Dem folgte auch das Landgericht Stuttgart.[10] Die Betreute sei bettlägerig und eine selbstständige Fortbewegung somit nicht möglich. Folglich fehle es an den Voraussetzungen einer ärztlichen Zwangsmaßnahme, da diese ohne eine Unterbringung bisher nicht zulässig sei (vgl. § 1906 Abs. 3 a. F. BGB). Die Betreuerin erhob daraufhin Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof (BGH).[11]

2. Bundesgerichtshof

Der BGH setzte das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG aus. Er legte dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Frage vor, ob § 1906 Abs. 3 a. F. BGB mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sei. Problematisch seien die Koppelung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme an das Kriterium der freiheitsentziehenden Unterbringung und der daraus resultierende Ausschluss jener Betreuten, die sich einer Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder körperlich nicht dazu in der Lage sind. Der BGH argumentierte, dass es sich bei § 1906 Abs. 3 a. F. BGB nicht nur um eine Eingriffsnorm handele, sondern die Vorschrift gleichzeitig Ausdruck des staatlichen Erwachsenenschutzes sei. Nicht gerechtfertigt sei, immobile Betreute von diesem Schutz auszunehmen. Auch lasse sich die Schutzlücke nicht durch andere vorhandene gesetzliche Regelungen schließen.

VI. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[12]

Abwehrrecht und staatliche Schutzpflicht zugleich

Der erste Senat griff die Argumentation des BGH auf und erklärte, dass das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe gewährt, sondern gleichzeitig eine staatliche Schutzpflicht begründe. Danach habe der Staat die Pflicht, sich schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen zu stellen. Für unter Betreuung stehende Menschen, die die Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung aufgrund einer psychischen Erkrankung oder einer geistigen oder seelischen Behinderung nicht erkennen können, verdichte sich die allgemeine Schutzpflicht unter engen Voraussetzungen zu einer konkreten Schutzpflicht. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verpflichte den Gesetzgeber somit, ein System der Hilfe und des Schutzes für diese Menschen zu schaffen. Ärztliche Untersuchungs- und Heilmaßnahmen müssen dann in gravierenden Fällen als letztes Mittel auch unter Überwindung des entgegenstehenden natürlichen Willens solcher Betreuter vorgenommen werden dürfen.[13]

Keine ärztliche Zwangsmaßnahme bei Vorliegen des freien Willens

Entscheidend bleibt, ob Betroffene ihren freien Willen bilden und äußern können. Solange dies möglich ist, sind Zwangsmaßnahmen ausgeschlossen, denn von den Freiheitsrechten umfasst ist auch die "Freiheit zur Krankheit".[14] Im vorliegenden Fall konnte die Betroffene ihren freien Willen jedoch nicht mehr bilden. Sie lehnte jegliche Operationen bzw. Chemotherapie gegen die Krebserkrankung ab und äußerte damit ihren natürlichen Willen.

Ärztliche Zwangsmaßnahmen gegen den natürlichen Willen als ultima ratio – schonende Auflösung kollidierender Grundrechte

In den besonderen Ausnahmefällen, in denen eine ärztliche Zwangsmaßnahme gegen den natürlichen Willen eines Betreuten in Betracht zu ziehen ist, kollidieren das Selbstbestimmungsrecht und das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit des Betreuten mit der Schutzpflicht des Staates. Diesen Konflikt gelte es möglichst schonend aufzulösen. Grundsätzlich gelte dabei, dass ärztliche Untersuchungs- und Heilmaßnahmen gegen den natürlichen Willen der Betreuten nur in gravierenden Fällen und nur als ultima ratio vorgenommen werden dürfen. Drohen Betreuten schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen und überwiegen die Vorteile eines medizinischen Eingriffs eindeutig gegenüber den damit verbundenen Nachteilen und Risiken, gehe die Schutzpflicht des Staates vor.

Inhaltlich anspruchsvolle und hinreichend bestimmt formulierte materielle und begleitende verfahrensrechtliche Voraussetzungen

Der Gesetzgeber ist dabei im Interesse einer möglichst weitgehenden Rücksichtnahme auf die zurücktretenden Freiheitsrechte der Betroffenen gehalten, inhaltlich anspruchsvolle und hinreichend bestimmt formulierte materielle und begleitende verfahrensrechtliche Voraussetzungen für eine medizinische Zwangsbehandlung zu formulieren. So müsse eine erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung drohen, dürfe die Behandlung nicht zu eingriffsintensiv sein und müsse hohe Erfolgsaussichten bieten. Nur bei einer offensichtlichen Eindeutigkeit des Abwägungsergebnisses sei die Zwangsbehandlung geboten.[15] Zudem sei zwischen Anlass- und Begleiterkrankung zu differenzieren. Das Verfahren müsse die vorherige Ankündigung, die ärztliche Überwachung, die Dokumentation, die Hinzuziehung unabhängiger Sachverständiger und den richterlichen Vorbehalt vorsehen.[16]

Steter Respekt vor der autonomen Selbstbestimmung – laufende Unterstützung zur Bildung eines freien Willens

Auch am Ende seiner ausführlichen Begründung macht der erste Senat deutlich, dass auch das Verfahren zur Ermöglichung einer Zwangsbehandlung in jeder Phase unter dem Leitprinzip steht, stets aktuell vor jeder konkreten Untersuchung, Heilbehandlung oder jedem ärztlichen Eingriff auf eine autonome Entscheidung des Betreuten hinzuwirken. Die Möglichkeit der freien Willensbildung muss, auch unter Anwendung gebotener Unterstützungen, jederzeit in Betracht gezogen werden. Bis zuletzt ist zu versuchen, im Dialog mit dem betroffenen Patienten Einigkeit über Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der ärztlich vorgesehenen Maßnahmen zu erzielen.[17]

Vereinbarkeit mit Völkerrecht

Der erste Senat erklärte weiterhin, dass die Regelungen zur ärztlichen Zwangsbehandlung im innerstaatlichen Betreuungsrecht grundsätzlich mit den völkerrechtlichen Vorgaben vereinbar seien. So enthalte Art. 12 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) kein grundsätzliches Verbot medizinischer Zwangsmaßnahmen. Auch gegen die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) würden die Regelungen zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen nicht verstoßen. Gewiss ergebe sich aus Art. 8 EMRK das Recht, sein Leben so zu leben, wie man es selbst bestimmt hat. Dies umfasse auch die Möglichkeit, körperlich schädliche oder gefährliche Dinge zu tun. Voraussetzung dafür, dass Staat und Gesellschaft objektiv unvernünftige, möglicherweise auch zum Tod führende Entscheidungen akzeptieren müssen, sei jedoch auch hier, dass die betreffende Person zur freien Willensbildung in der Lage ist. Soweit die Fähigkeit zur freien Willensbildung nicht bestehe, habe auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Pflicht des Staates bejaht, Personen davon abzuhalten, ihr Leben zu riskieren.[18]

Schutzlücke – Anwendung des § 1906 Abs. 3 a. F. BGB auf immobile Betreute

Da das Betreuungsrecht bisher eine Zwangsmaßnahme nur bei freiheitsentziehender Unterbringung vorsah, konnte die Behandlung des Mammakarzinoms im vorliegenden Fall nicht zwangsweise erfolgen, weil die Voraussetzungen für die Anordnung einer Unterbringung nicht vorlagen. Alle sonstigen materiellen Voraussetzungen des § 1906 Abs. 3 a. F. BGB waren hingegen erfüllt. Der erste Senat sah in derartigen Fällen, bei denen alle materiellen Voraussetzungen einer verfassungsgebotenen Schutzpflicht in der Person vorliegen und auch die verfahrensrechtlichen Anforderungen eingehalten werden können, eine Schutzlücke. Insofern entspreche die damalige Rechtslage den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Im Ergebnis sollte § 1906 Abs. 3 a. F. BGB daher bis zum Schließen dieser Schutzlücke auf immobile Betreute zur stationären Zwangsbehandlung entsprechend angewendet werden.

VII.  Würdigung und Kritik unter dem Blickwinkel der UN-BRK

Es ist zu begrüßen, dass der erste Senat die Gelegenheit genutzt hat, sich intensiv mit der Problematik der medizinischen Zwangsbehandlung losgelöst von der freiheitentziehenden Unterbringung zu befassen. Dies erscheint insbesondere mit Blick darauf sinnvoll, dass gerade bei hochbetagten PatientInnen die Kollisionsfälle viel häufiger auftreten, in denen mangels Mobilität eine Unterbringung zur Überwindung des fehlenden Behandlungswillens nicht erforderlich ist. Der Grundrechtsschutz verlangt, für diese verletzlichen PatientInnen nach der Notwenigkeit von Ermächtigungsgrundlagen zu fragen. Der Senat zeigt in seiner Begründung erneut auf, dass das gesamte Betreuungsrecht vom Grundsatz der Erforderlichkeit und Subsidiarität beherrscht wird und stärkt damit die Rechte der Betroffenen. Beides entspricht den Grundgedanken der UN-BRK, die zwingend zur Auslegung innerstaatlichen Rechts, einschließlich des Grundgesetzes, heranzuziehen ist.[19]

1. Vereinbarkeit von Zwangsbehandlungen mit der UN-BRK: Argumentation des BVerfG und das Recht auf Leben als Schranke des Art. 12 UN-BRK

Gemäß Art. 12 UN-BRK genießen behinderte Menschen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit in allen Lebensbereichen. Dieses Recht umfasst auch, selbst über Aufenthalt und gesundheitliche Behandlungen bestimmen zu können.[20] Es stellt sich daher zunächst die grundlegende Frage, ob Zwangsbehandlungen mit der UN-BRK grundsätzlich vereinbar sind.

Zwar greift der Senat in seiner Argumentation die scharfe Kritik des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen am deutschen Betreuungsrecht auf, alle ersetzenden Entscheidungen abzuschaffen und stattdessen ein System der unterstützten Entscheidungsfindung zu etablieren und jede Form der Zwangsbehandlung aufzugeben.[21] Dennoch hält er die Möglichkeit der Zwangsbehandlung im deutschen Recht für vereinbar mit der UN-BRK. Zur Begründung verweist er darauf, dass die UN-BRK keine Unterscheidung zwischen natürlichem und freiem Willen vornehme und der Ausschuss keine Antwort auf die Frage gibt, was mit Betroffenen geschehen soll, die keinen freien Willen bilden können. Die Argumentation des Senats vermag hier nicht vollständig zu überzeugen. So kann die BRK gerade nicht auf jedes spezifische Rechtskonstrukt der Vertragsstaaten eingehen. Vielmehr sind diese verpflichtet, innerstaatliche Normen konventionskonform auszulegen. Darüber hinaus finden sich in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 1 zu Artikel 12 UN-BRK Ausführungen, die dem Rechtsbegriff und dem dahinter stehenden Konzept des "freien Willens" entsprechen bzw. diesem sehr nahe kommen. Der Ausschuss kritisiert dabei das Vorgehen mancher Vertragsstaaten, die einen Mangel an Entscheidungsfähigkeit anhand der Frage beurteilen, ob die betreffende Person mit entsprechenden Informationen umgehen und sie abwägen kann, scharf. Nimmt man die Kritik des Ausschusses ernst, ergeben sich hieraus praktische Anknüpfungspunkte. So darf die Feststellung eines fehlenden freien Willens gerade nicht dazu führen, den betreffenden Personen jegliche Fähigkeit zur Entscheidung abzusprechen. Vielmehr muss durch geduldiges Verhandeln versucht werden, der betreffenden Person die Zwangsmaßnahme verständlich zu machen,[22] um so auf die Ermöglichung eines freien Willens hinzuwirken. Die Sicherung des Gesundheitsschutzes des Einzelnen muss an das Selbstbestimmungsrecht anknüpfen. Der natürliche Wille darf dabei nicht unberücksichtigt bleiben, wie auch der Senat verdeutlicht.

Der Senat führt zudem aus, dass dem Ausschuss in den Art. 34 ff. UN-BRK kein Mandat zur verbindlichen Interpretation des Vertragstextes übertragen worden sei, weswegen sich die Vertragsstaaten bei der Vertragsauslegung zwar mit der Auffassung des Ausschusses und dessen Stellungnahmen auseinandersetzen sollten, die Meinung des Ausschusses jedoch nicht übernommen werden müsse. Die Bedeutung der allgemeinen Bemerkungen des Ausschusses für die Auslegung der UN-BRK und damit deren Wirkung bei der konventionskonformen Auslegung des innerstaatlichen Betreuungsrechts hätte doch stärker gewichtet werden sollen.

In der Literatur hingegen findet sich eine überzeugendere Argumentation. Hier wird vertreten, dass das Recht aus Art. 12 UN-BRK nicht schrankenlos ist. Argumentiert wird mit dem in Art. 10 UN-BRK verankerten Recht auf Leben, aus dem sich eine Schutzpflicht herleiten lässt, die wiederum unter strengen Voraussetzungen und Prüfung der Verhältnismäßigkeit eine Zwangsbehandlung zulassen kann.[23]

2. Zwangsbehandlung als ultima ratio, Stärkung des Selbstbestimmungsrechts und des Individualisierungsgebots

Zutreffend festgestellt hat das BVerfG, dass eine Zwangsbehandlung nur unter strengen Voraussetzungen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig ist. Dies entspricht Art. 12 Abs. 4 UN-BRK, der gebietet anhand des Willens und der Präferenzen der betreffenden Person zu ermitteln, ob eine Behandlung als medizinische Zwangsmaßnahme zu ergreifen ist. Dieser Gedanke liegt auch dem deutschen Betreuungsrecht zugrunde (vgl. § 1901 Abs. 2 BGB).[24] Hierbei geht es um die bestmögliche Interpretation des Willens und nicht darum, eine allgemein als vernünftig angesehene Entscheidung herbeizuführen.[25] Der Senat hebt ausdrücklich hervor, dass das Selbstbestimmungsrecht der mit freiem Willen Handelnden auch bei objektiv "unvernünftigen" Entscheidungen zu Lasten des Gesundheitszustandes respektiert werden müsse. Eine medizinische Zwangsmaßnahme sei nur gerechtfertigt, wenn "fest steht", dass keine Einwilligungsfähigkeit des/der Betreuten vorliegt. Und selbst für den Fall, dass im Rahmen des zu beachtenden strengen Verfahrens ein freier Wille auch mit Unterstützung nicht zu bewirken ist, müsse jederzeit die Übereinstimmung der zu praktizierenden Maßnahmen mit dem natürlichen Willen des/der zu behandelnden Patienten/Patientin angestrebt werden.

3. Rechtspraxis

Berichte aus der Praxis weisen darauf hin, dass die dargestellten engen Grenzen, unter denen eine Zwangsbehandlung nur möglich ist, nicht immer eingehalten werden.[26] Oft wird es darauf ankommen, dass sowohl die Institutionen des Rechtsstaates, wie Gerichte und Betreuungsbehörden, sowie alle weiteren an der Betreuung beteiligten Akteure, insbesondere die Betreuer und Betreuerinnen, den dargestellten Grundsätzen entsprechend handeln. Dabei müssen sie ihr Handeln an den Grundnormen des Betreuungsrechts und der UN-BRK ausrichten und Präferenzen und den Willen der Betreuten konsequent in den Mittelpunkt stellen.

VIII. Fazit und Ausblick

Im Ergebnis hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung das Recht der (immobilen) Betreuten gestärkt, indem es den Grundsatz der Selbstbestimmung hervorhebt und die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung als ultima ratio betont. Zwangsbehandlungen müssen demnach die absolute Ausnahme bleiben. Vor der Einwilligung in eine medizinische Zwangsmaßnahme durch den Betreuer/die Betreuerin muss stets versucht werden, dem/der Betreuten die Notwendigkeit einer medizinischen Maßnahme zu erläutern mit dem Ziel, ggf. doch eine Einwilligung zu erhalten. Die Maßnahme selbst ist dem/der Betreuten in einer ihm/ihr verständlichen Sprache zu erklären.[27] Wenn das Verfahren, wie es heute schon vorgesehen ist, die Patientenautonomie des/der einwilligungsunfähigen Betreuten tatsächlich ernst nehmen soll, dann braucht der Betreuer/die Betreuerin ausreichend Zeit zur Kommunikation über die wirklichen Wünsche der betreuten Person, was letztlich vor allem eine Frage der Finanzierung ist.

Das Gesetzgebungsverfahren des "Gesetzes zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten" (BT-Drs. 18/11240) hat in seinen Grundzügen die wesentlichen Aussagen des BVerfG aufgegriffen. Insoweit das Gesetz den sog. Überzeugungsversuch als materielle Voraussetzung durch den Zusatz: "[...] ernsthaft, mit nötigem Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks [...]" weiter ausgestaltet, ergeben sich neue Kritikpunkte. Ebenso wird zu diskutieren sein, weshalb der Entwurf in der Begründung auf eine Auseinandersetzung mit völkerrechtlichen Vorgaben weitgehend verzichtet. Zu diskutieren wird zudem sein, ob die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG eingehalten ist, wenn die Möglichkeit der Zwangsbehandlung lediglich auf einen stationären Krankenhausaufenthalt ausgeweitet ist, und nicht ebenso verlangt, die ambulante Zwangsbehandlung zu regeln.

Beitrag von Patricia Platt und Cindy Schimank, beide Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

 


Fußnoten:

[1] Inkrafttreten des „Gesetzes zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten“ vom 17.07.2017, in Kraft seit dem 22.07.2017, BGBl. 2017 I S. 2426.

[2] BT-Drs. 11/11513, S. 5.

[3] BT-Drs. 11/4528, S. 71.

[4] BT-Drs. 11/11513, S. 5.

[5] BGBl. 2013 I S. 266, in Kraft seit 26.02.2013; BT-Drs. 17/11513, S. 2; näher: Dodegge, NJW 2013, 1265 (1265).

[6] Ausführlich zur Rechtsentwicklung siehe Platt/Schimank, in: RP Reha 2/2017, 34 f.

[7] Bienwald in: Bienwald/ Sonnenfeld/ Harm, BtR, 6. Aufl., § 1906 BGB, Rn. 66;
BT-Drs. 11/11513, S. 7.

[8] BT-Drs. 18/11240, S. 15.

[9] AG Stuttgart, Beschluss v. 21.01.2015, 3 XVII 29/15, juris.

[10] LG Stuttgart, v. 09.02.2015, 19 T 38/15, BeckRS 2015, 12211.

[11] BGH, Vorlagebeschluss v. 01.07.2015, XII ZB 89/15, juris.

[12] Eine Auseinandersetzung auch mit den verfahrensrechtlichen Aspekten der Entscheidung findet sich in der Langfassung dieses Beitrags, siehe hierzu: Platt/Schimank, in: RP Reha 2/2017, 36.

[13] BVerfG, Beschluss v. 26.07.2016,1 BvL 8/15, Rn. 69 ff., juris.

[14] Vgl. BVerfG, Beschluss v. 26.07.2016,1 BvL 8/15, Rn. 74 ff., juris.

[15] BVerfG, Beschluss v. 26.07.2016,1 BvL 8/15, Rn. 82, juris.

[16] BVerfG, Beschluss v. 26.07.2016,1 BvL 8/15, Rn. 85, juris.

[17] BVerfG, Beschluss v. 26.07.2016, 1 BvL 8/15, Rn. 86, juris.

[18] BVerfG, Beschluss v. 26.07.2016, 1 BvL 8/15, Rn. 92–95, unter Hinweis auf EGMR, Lambert v. France, Urteil v. 05.06.2015, Nr. 46043/14, § 140; EGMR, Haas v. Switzerland, Urteil v. 20.01.2011, Nr. 31322/07, § 54; EGMR, Arskaya v. Ukraine, Urteil v. 05.12.2013, Nr. 45076/05, § 69 f. juris.

[19] Grundsätzlich zur Wirkung völkerrechtlicher Normen (für die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK): BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004, BvR 1481/04, juris; für die UN-BRK: BVerfG, Urteil v. 04.05.2011, 2 BvR 2365/09, http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2011/05/rs20110504_2bvr236509.html, Stand:31.08.2017.

[20] Marschner in: Aichele, Das Menschenrecht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht, S. 221.

[21] Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung, Allgemeine Bemerkung Nr. 1 (2014) zu Artikel 12: Gleiche Anerkennung vor dem Recht, S. 1 und 2 Nr. 3 und 7 sowie in den Abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands, S. 5.

[22] So auch: Dodegge, NJW 2013, 1265 (1265).

[23] So u. a. Lindemann und Marschner, in: Diekmann/Oeschger, Menschen und Rechte – Behindertenrechtskonvention und Betreuung – Berichte vom 12. Vormundschaftsgerichtstag vom 04. – 06.11.2010 in Brühl, S. 70 f. und 79 f.; kritisch zur Vereinbarkeit siehe Tolmein in: Welke, UN-Behindertenrechtskonvention mit rechtlichen Erläuterungen, S. 148, Rn. 47.

[24] Kritisch zum Begriff "Wohl" siehe Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung, Allgemeine Bemerkung Nr. 1 (2014) zu Artikel 12: Gleiche Anerkennung vor dem Recht, S. 6 Nr. 21.

[25] Vgl. Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung, Allgemeine Bemerkung Nr. 1 (2014) zu Artikel 12: Gleiche Anerkennung vor dem Recht, S. 6 Nr. 21 und 22.

[26] So u. a. Loer, der von "[…] blinder Durchsetzung angeblicher Behandlungsnotwendigkeit ohne Rücksicht auf Individualität und Autonomie von PatientInnen […]" spricht; Loer in: Diekmann/Oeschger, Menschen und Rechte – Behindertenrechtskonvention und Betreuung. Berichte vom 12. Vormundschaftsgerichtstag vom 04. – 06.11.2010 in Brühl, S. 98.

[27] Dodegge, NJW 2013, 1265 (1267).


Stichwörter:

Verhältnismäßigkeit, Selbstbestimmung, Betreuungsrecht, Betreuung, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Patientenautonomie, (ärztliche) Zwangsbehandlung, Freier Wille, Natürlicher Wille, (medizinische) Behandlung


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