04.12.2014 A: Sozialrecht Heinert/Wendtland: Diskussionsbeitrag A27-2014

Langzeitverordnung für Heilmittel zur Behandlung eines chronisch Kranken – Anmerkung zu LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 27.05.2014 – Az.: L 11 KR 4072/13

(Zitiervorschlag: Heinert/Wendtland: Langzeitverordnung für Heilmittel zur Behandlung eines chronisch Kranken – Anmerkung zu LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 27.05.2014 – Az.: L 11 KR 4072/13; Forum A, Beitrag A27-2014 unter www.reha-recht.de; 04.12.2014)

Die Autoren beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit der Langzeitverordnung für Heilmittel zur Behandlung von chronischen Erkrankungen, die sich nicht in der Liste der Diagnosen im Merkblatt zur Heilmittel-Richtlinie befinden. Sie besprechen dazu eine Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Mai 2014.

Das Gericht hatte entschieden, dass Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung mit einem langfristigen Behandlungsbedarf bei ihrer Krankenkasse eine Langzeitgenehmigung für die Versorgung mit Heilmitteln beantragen können auch wenn die zugrunde liegende Erkrankung nicht in der oben genannten Diagnose-Liste aufgeführt wird.

Die Autoren begrüßen das Urteil und gehen in ihren Ausführungen unter anderem auf die Bedeutung von langfristigen Heilmittelbehandlungen sowie die vertragsarztrechtlichen Implikationen der Langfristgenehmigung ein.


 

I. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit einem langfristigen Behandlungsbedarf, insbesondere chronisch kranke oder von einer chronischen Krankheit bedrohte Patienten, können bei ihrer Krankenkasse eine Langzeitgenehmigung für die Versorgung mit Heilmitteln beantragen.

  2. Die Krankenkasse darf eine ablehnende Entscheidung nicht pauschal mit einem Hinweis auf die in den Heilbehandlungs-Richtlinien aufgeführten Diagnosen begründen, sondern erst nach Einholung der erforderlichen Informationen, falls notwendig auch nach weiteren Untersuchungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK), eine einzelfallbezogene Entscheidung treffen.

  3. Eine Langzeitverordnung kommt dabei auch dann in Betracht, wenn eine Diagnose zwar nicht ausdrücklich in der Richtlinie und im Merkblatt des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur Genehmigung langfristiger Heilmittelbehandlungen gelistet, aber hinsichtlich Schwere und Dauerhaftigkeit der Schädigungen vergleichbar ist.

II. Sachverhalt

Der Betroffene leidet an der chronischen Eisenspeicherkrankheit, die fortschreitend seine Gelenke schädigt. Bei ihm ist bereits ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit Merkzeichen aG[1] festgestellt worden. Er wird daher seit Jahren mit einer manuellen Therapie behandelt, in der Regel zweimal wöchentlich.       

Zwischen ihm und seiner Gesetzlichen Krankenkasse ist streitig, inwieweit diese Therapie im Folgenden im Wege einer Langzeitverordnung zu genehmigen ist. Der behandelnde Arzt hält eine solche Langzeitverordnung für erforderlich, da sowohl aktuell als auch langfristig weitere Verschlechterungen des Gesundheitszustands des Patienten drohen. Die Krankenkasse lehnt eine solche Langzeitverordnung auf der Grundlage einer Prüfung durch den MDK ab und beruft sich dabei auf die Heilmittel-Richtlinie (Heilmittel-RL) des G-BA. Danach ist für die Langzeitverordnung von Heilmitteln eine besondere Begründung mit prognostischer Einschätzung erforderlich. Die Krankenkasse hält eine solche nach der Prüfung durch den MDK für nicht gegeben.     

Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhob der Patient Klage beim Sozialgericht (SG) Freiburg. Dieses entschied nach Einholung eines Sachverständigengutachtens, dass dem Patienten die beantragte Langzeitverordnung zustehe. Hiergegen richtete sich die Berufung der Krankenkasse, über die das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit dem vorliegenden Urteil zu entscheiden hatte.

III. Entscheidung

Die Berufung der Krankenkasse gegen das Urteil des SG Freiburg blieb erfolglos. Das LSG Baden-Württemberg folgt im Ergebnis und auch in weiten Teilen der Begründung der vorherigen Instanz. Zudem hat das LSG Baden-Württemberg ein weiteres Sachverständigengutachten veranlasst, unter anderem um zu klären, dass die verordnete manuelle Therapie zur Behandlung der spezifischen Beschwerden im vorliegenden Fall einer allgemeinen Krankengymnastik aus medizinischen Gründen vorzuziehen war.

Entscheidend war letztendlich, dass das Gericht nach Würdigung der vorliegenden Sachverständigengutachten zum Ergebnis kam, beim Patienten liege eine Krankheit vor, die als ähnlich schwerwiegend und dauerhaft einzuschätzen ist wie die im Merkblatt zur Heilmittel-RL des G-BA aufgeführten Diagnosen. Dieses Merkblatt hat die Funktion, den Ärzten zum einen Hinweise zur verfahrenstechnischen Vorgehensweise bei der Langzeitverordnung von Heilmitteln zu geben. Zum anderen führt es auch einige bestimmte Diagnosen auf und gibt dazu an, in welchen Fällen eine Langzeitverordnung welcher Heilmittel möglich ist. Diese Auflistung ist aber nicht abschließend, sondern auch das Merkblatt selbst stellt klar, dass andere vergleichbar schwerwiegend und dauerhaft vorliegende Beeinträchtigungen ebenso geeignet sind, die Krankenkasse zur Genehmigung einer Langzeitverordnung zu verpflichten. 

In formaler Hinsicht ist ferner die Fristvorschrift des § 32 Abs. 1a S. 3 Sozialgesetzbuch (SGB) V zu beachten. Danach ist bei Patienten mit langfristigem Behandlungsbedarf ein Antrag auf Heilmittelversorgung über einen geeigneten Zeitraum binnen vier Wochen zu bescheiden. Lässt die Krankenkasse diese Frist verstreichen, gilt die Genehmigung automatisch als erteilt. Diese Genehmigungsfiktion stellt ein erhebliches Druckmittel dar, mit dem der Gesetzgeber die Krankenkassen dazu anhalten will, zügig über einen Antrag auf Langzeitverordnung von Heilmitteln zu entscheiden.[2]        

Andererseits, und dies wird auch anhand der vorliegenden Entscheidung deutlich, sind hohe Anforderungen an die Begründung einer Ablehnung des Antrags auf Langfristgenehmigung einer Heilmittelbehandlung zu stellen. Ein pauschaler Hinweis auf die Heilmittelrichtlinien des G-BA und den im Merkblatt enthaltenen Diagnosenkatalog ist demnach nicht ausreichend. Vielmehr muss sich die Krankenkasse ein vollständiges Bild vom medizinischen Sachverhalt verschaffen. Soweit sie sich hierbei des MDK bedient, gilt natürlich auch für diesen, dass er von sich aus die notwendigen medizinischen Befunde erheben, gegebenenfalls sogar eine eigene Untersuchung vornehmen muss, bei der er an bisherige Untersuchungsergebnisse nicht gebunden ist. Das verdeutlicht auch § 32 Abs. 1a S. 4 SGB V, der gerade für diesen Fall eine Abweichung von der Vierwochenfrist zulässt.

IV. Würdigung/Kritik

1. Allgemeines zur Bedeutung langfristiger Heilmittelbehandlungen

Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen sind oftmals auf langwierige, ggf. sogar lebenslange Behandlungen mit medizinischen Heilmitteln angewiesen. Die Zielsetzungen können dabei unterschiedlich sein. Meistens geht es darum, zu verhindern, dass sich eine bereits vorhandene Erkrankung verfestigt oder verschlimmert, gegebenenfalls auch nur um eine Linderung der mit einer Erkrankung einhergehenden Symptome. Langfristige Heilmittelbehandlungen kommen aber auch im Vorfeld einer noch nicht eingetretenen chronischen Erkrankung oder Behinderung in Betracht, wenn sie gerade dazu dienen sollen, eine Chronifizierung oder gar eine Erwerbsminderung oder Pflegebedürftigkeit zu verhüten. Die Heilmittelversorgung ist nach alledem eine Leistung der GKV, die kurative und präventive Elemente in sich vereinigt. 

Gesetzlich ausgestaltet wird der Anspruch auf Versorgung mit Heilmitteln als Leistung der GKV in § 32 SGB V und weiter konkretisiert in den aufgrund § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6, Abs. 6 SGB V ergangenen Richtlinien des G-BA (Heilmittelrichtlinien). Nach § 3 Abs. 1 der Heilmittel-RL setzt eine Heilmittelbehandlung auf Kosten der gesetzlichen Krankenkasse voraus, dass das Heilmittel durch einen Vertragsarzt verordnet worden ist. Welche Heilmittel im Einzelnen bei welchen Indikationen vorgesehen sind, ergibt sich aus dem ebenfalls vom G-BA erlassenen Heilmittelkatalog. Der Heilmittelkatalog definiert insbesondere, in welchem Umfang die Heilmittelbehandlungen im Regelfall maximal verordnet werden dürfen und wie viele Behandlungen je Erst- bzw. Folgeverordnung möglich sind. Die Heilmittel-RL geht, wie § 7 Abs. 1 ausdrücklich klarstellt, grundsätzlich davon aus, dass diese Regelfallverordnung bei der jeweiligen Indikation genügt, um das Therapieziel zu verwirklichen.           

Wie eingangs festgestellt, liegen gerade bei chronisch kranken oder behinderten Menschen oftmals medizinische Sachverhalte vor, die von vornherein erwarten lassen, dass eine über die Regelfallverordnung hinausgehende Versorgung mit Hilfsmitteln notwendig ist. In derartigen Fällen wäre es unzweckmäßig, wenn immer wieder neue Heilmittelverordnungen in dem im Heilmittelkatalog vorgesehenen Umfang ausgestellt werden müssten. Dies ist der Grund, weshalb § 32 Abs. 1a S. 1 SGB V Versicherten mit einem langfristigen Behandlungsbedarf ermöglicht, bei der Krankenkasse eine Genehmigung für eine Langzeitbehandlung zu beantragen. Hierzu muss gemäß § 8 Abs. 1 der Heilmittel-RL die vertragsärztliche Verordnung mit einer besonderen Begründung, insbesondere einer prognostischen Einschätzung versehen sein, damit die Krankenkasse nachvollziehen kann, warum von der Regelfallverordnung abgewichen wird.        

Dabei ist zu beachten, dass auch für die Heilmittelversorgung die allgemeinen Vorgaben des GKV-Leistungsrechts gelten. Der Leistungsumfang folgt demgemäß dem Standard des medizinisch Notwendigen, welcher andererseits nicht überschritten werden darf (§§ 2, 12 SGB V). Gerade bei langfristigen Heilmittelbehandlungen kann § 2a SGB V von Bedeutung sein, welcher die Krankenkassen dazu verpflichtet, den besonderen Belangen behinderter oder chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen.   

Isoliert betrachtet scheint es sich bei § 2a SGB V zunächst eher um einen Programmsatz ohne größere materiell-rechtliche Bedeutung zu handeln. Praktisch bedeutsam können derartige Zielbestimmungen dennoch sein, nämlich immer dann, wenn Auslegungsspielräume auszufüllen sind. Dies ist auf der Rechtsfolgenseite möglich, d. h. sofern ein fehlerfreies Ermessen auszuüben ist, aber auch auf der Tatbestandsseite, wenn es um die Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe geht. Bei Betrachtung der Voraussetzungen, die nach der Heilmittel-RL und dem Merkblatt für eine Langzeitverordnung vorliegen müssen, zeigt sich, dass es hier gerade um eine solche tatbestandliche Unbestimmtheit geht (nämlich ob die „Schwere und Dauerhaftigkeit mit den in der Anlage aufgeführten Diagnosen vergleichbar“ sind). Daher müssen sich Inhalt und Anwendung der Richtlinie und des Merkblattes an den Anforderungen des § 2a SGB V messen lassen,[3] mithin der besonderen Situation behinderter oder chronisch kranker Menschen Rechnung tragen.        

Um dies zu unterstreichen, lässt sich auf § 27 SGB IX verweisen, der bei Leistungen der Krankenbehandlung, einschließlich der Heilmittelversorgung, die Beachtung der Zielbestimmungen des § 26 Abs. 1 SGB IX vorschreibt. Auch hieraus folgt, dass das Ziel einer Abwendung, Beseitigung, Minderung und des Ausgleichs von Behinderungen einschließlich chronischer Erkrankungen im Vordergrund stehen muss. Nach alledem verdient die Entscheidung des LSG Baden-Württemberg Zustimmung, wenn sie auf die Schwere und Dauerhaftigkeit der Erkrankung im Einzelfall abstellt und davon ausgehend die allzu schematische Ablehnung einer Langzeitverordnung durch die Krankenkasse kritisch hinterfragt.

2. Vertragsarztrechtliche Implikationen der Langfristgenehmigung

Nach dem bisher Gesagten dient die Langzeitverordnung von Heilmitteln dem Interesse der Patienten mit einem langfristigen Behandlungsbedarf. Bei Betrachtung der leistungserbringungsrechtlichen Beziehungen zwischen der Krankenkasse und dem Vertragsarzt wird aber deutlich, dass auch für den Vertragsarzt die Regelung des § 32 Abs. 1a SGB V begünstigend wirkt. 

Die Vergütung der von den Vertragsärzten erbrachten Leistungen unterliegt Begrenzungsregelungen. So unterliegt der quartalsweise bestehende Honoraranspruch der Vertragsärzte gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung einzelnen Budgetierungsmaßnahmen. Dabei werden die Gelder, die an die Vertragsärzte zur Auszahlung gelangen, in der sogenannten Gesamtvergütung, § 85 SGB V, jährlich neu festgelegt, facharztgruppenbezogen ermittelt und ausgezahlt.    

Grundsätzlich setzt die Vergütung der vom Arzt abgerechneten Leistungen oder Leistungskomplexen deren Abrechnungsfähigkeit voraus. Diese muss daher insbesondere nach den Bestimmungen des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) und gegebenenfalls nach den Qualitätsvereinbarungen nach § 135 SGB V erbracht worden sein. Nicht abrechnungsfähig sind Leistungen beispielsweise dann, wenn ein Arzt Leistungen aus einem anderen Facharztkapitel abrechnet oder eine Leistung mehrmals abrechnet. Auch muss der Arzt die Leistung in der Regel, sofern es sich um keine delegationsfähige Leistung handelt, selbst und vollständig erbracht haben. Steht die grundsätzliche Vergütungsfähigkeit der erbrachten und abgerechneten Leistung fest, kommen aufgrund der begrenzt zur Verfügung stehenden Geldmenge weitere Kontrollmechanismen zur Anwendung. Es erfolgt eine Überprüfung der Leistungen nach sogenannten Wirtschaftlichkeitsmaßstäben nach den §§ 106, 106a SGB V. Die Überprüfungen werden regelhaft von den Kassenärztlichen Vereinigungen bzw. den Krankenkassen durchgeführt. Können die Prüfgremien unwirtschaftliches Verhalten nachweisen, kann gegenüber dem Arzt ein Honorarregress festgesetzt werden.   

Vergleichbares gilt für die hier einschlägigen sogenannten anlassbezogenen Leistungen. Unter anlassbezogenen Leistungen versteht man Leistungen aus dem Arznei- und Heilmittelbereich. Anlassbezogene Leistungen sind damit Leistungen, die vom Arzt verordnet werden (deshalb auch sogenannte Verordnungskosten). Es handelt sich also um weitere kostenauslösende Leistungen, die nicht durch den Arzt selbst, sondern durch Dritte, d. h. anderer am Gesundheitssystem beteiligten Gruppen, wie z. B. Physiotherapeuten, erbracht werden. Auch diese Leistungen unterliegen Wirtschaftlichkeitsmaßstäben, da neben den ärztlichen Leistungen auch die Leistungen im Bereich der Arznei- und Heilmittel einer Kostenbegrenzung unterliegen. Die Prüfung dieser Verordnungskosten erfolgt im Rahmen von Richtgrößenprüfungen, § 84 SGB V. Speziell für die hier zur Diskussion stehenden Heilmittel regelt § 84 Abs. 8 S. 1 SGB V, dass die Prüfvorgaben für Arzneimittel Grundsätzlich auch auf Heilmittel Anwendung finden. Die Regelungsmechanismen stellen sich in der Vereinbarung eines Ausgabenvolumens sowie durch Vereinbarungen von Versorgungs- und Wirtschaftlichkeitszielen dar. Regelinstrumente sind die

  • Heilmittelvereinbarung und die
  • Richtgrößenvereinbarung sowie die
  • Heilmittelrichtlinie nach § 92 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 SGB V.

Dem Vertragsarzt wird damit ein jährliches Heilmittelbudget in Form von Richtgrößen zur Verfügung gestellt, d. h., es wird festgelegt, in welcher Größenordnung der Vertragsarzt Heilmittel verschreiben kann. Das den Richtgrößen zugrunde liegende Richtgrößenvolumen zeichnet sich durch arztgruppenspezifische fallbezogene Richtgrößen als Durchschnittswerte aus, bezogen auf Krankheitsarten und dem Alter der Patienten.[4] Bei Überschreitung der Richtgrößen drohen dem Vertragsarzt Regresse durch die Krankenkassen, sofern die Überschreitungen keine Rechtfertigung erfahren.      

Unschwer ist damit festzustellen, dass diese Vorgaben Einfluss auf das Verordnungsverhalten des Arztes nehmen. Es spricht viel dafür, dass nicht nur die Erkrankungen des Patienten, sondern auch die aufgrund des Wirtschaftlichkeitsgebotes festgelegten Richtgrößen wegweisend für das Verschreibungsverhalten des Arztes sind. Bei einem solchen Regress werden Honorarkürzungen für Leistungen vorgenommen, die nicht der Arzt erbracht hat.     

Da insbesondere die Inanspruchnahme von Heilmitteln bei chronisch Kranken langfristig und kostenintensiv ist, will der Gesetzgeber durch die in § 84 Abs. 8 SGB V getroffenen Regelungen sicherstellen, dass das Verordnungsbudget „Heilmittel“ des einzelnen Vertragsarztes nicht durch Praxisbesonderheiten und Langzeitverordnungen gemäß § 32 Abs. 1a SGB V belastet wird. So sollen die Praxisbesonderheiten bei der Festlegung der heilmittelbezogenen Richtgrößen nach Abs. 6 Berücksichtigung finden. 

Gemäß § 84 Abs. 8 S. 3 SGB V legen die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der Spitzenverband Bund der Krankenkassen jeweils erstmals bis zum 30.09 eines Jahres (erstmals 2012) Praxisbesonderheiten für die Verordnung von Heilmitteln fest, die bei den Prüfungen nach § 106 anzuerkennen sind. Kommt eine Einigung bis zum Ablauf der in Satz 3 genannten Frist nicht zustande, entscheidet das Schiedsamt nach § 89 Absatz 4 SGB V.           

Im Einzelnen wurde zwischen vorgenannten Vertragsparteien eine Vereinbarung über Praxisbesonderheiten für Heilmittel nach § 84 Abs. 8 S. 3 SGB V unter Berücksichtigung des langfristigen Heilmittelbedarfs gemäß § 32 Abs. 1a SGB V geschlossen. Diese Vereinbarung enthält zwei Anlagen: Anlage eins besteht aus einer Liste über Praxisbesonderheiten für die Verordnung von Heilmitteln, Anlage zwei beinhaltet eine Liste über Indikationen mit einem langfristigen Heilmittelbedarf nach § 32 Abs. 1a SGB V.    

Die Konsequenz ist, dass Langzeitverordnungen nicht das Budget des verschreibenden Vertragsarztes belasten, sondern unmittelbar die gesetzlichen Krankenkassen. Jeder Vertragsarzt hat somit ein größtmögliches Interesse daran, Heilmittel im Wege der Langzeitverordnungen zu verordnen.        

Jedoch zeigt sich, wie das Urteil des LSG verdeutlicht, in der Praxis das Problem, dass die gesetzliche Krankenkasse bzw. der MDK, welcher im Rahmen des § 275 SGB V bei der Erbringung von Leistungen der Krankenkassen an deren Entscheidungen beteiligt ist,[5] nicht an eine vom Vertragsarzt für notwendig erachtete Langzeitverordnung gebunden ist. Dies hat zur Folge, dass bei Zweifeln an dem Vorliegen der Voraussetzungen einer Langzeitverordnung durch den MDK die gerade bei chronisch Kranken geforderte Behandlungskontinuität bis zu einer Klärung zumindest zeitweise unterbrochen wird. Schließlich besitzt die Krankenkasse ein eigenes Interesse daran, mit Langzeitverordnungen restriktiv zu verfahren, damit die Behandlung nicht aus dem vertragsärztlichen Budget für Heilbehandlungen herausfällt.    

Damit ist festzustellen, dass Streitigkeiten über die Frage der rechtmäßigen Verordnung von Langzeitverordnungen zu Lasten der kontinuierlichen Behandlung des Patienten gehen. Dieses kann jedoch weder Sinn noch Zweck der Regelung sein.

V. Auswirkungen auf die Praxis

Bei der langfristigen Inanspruchnahme von Heilmitteln befindet sich der Patient in einem Spannungsfeld der Interessengegensätze zwischen seinem Vertragsarzt und seiner Krankenkasse. Im Interesse des Vertragsarztes liegt es, dass die Krankenkasse eine Langzeitverordnung genehmigt, damit er in den Genuss der aufgezeigten Privilegierungen kommt. Die Krankenkasse hat grundsätzlich zeitnah zu entscheiden, darf und muss sich gegebenenfalls aber einer Prüfung durch den MDK bedienen, um ermitteln zu können, ob die seitens des G-BA festgelegten Voraussetzungen hierfür vorliegen. Die Heilmittelrichtlinie des G-BA und auch das Merkblatt mit den aufgelisteten Indikationen, die regelmäßig eine Langzeitversorgung mit bestimmten Heilmitteln rechtfertigen, sind dabei verbindlich zu beachten.      

Auch nicht ausdrücklich aufgeführte Indikationen verpflichten aber zu einer Genehmigung der Langzeitverordnung, wenn sie hinsichtlich Schwere und Dauerhaftigkeit vergleichbar sind. Diese unbestimmten Rechtsbegriffe sind im Einzelfall im Lichte allgemeiner Grundsätze des SGB V wie dem Standard des medizinisch Notwendigen und der Berücksichtigung besonderer Bedürfnisse von Patienten mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen (§ 2a SGB V) anzuwenden. Das Urteil des LSG Baden-Württemberg verdeutlicht dies geradezu exemplarisch im Falle des an der chronischen und sich laufend verschlimmernden Eisenspeicherkrankheit leidenden Versicherten und verdient daher Zustimmung.

Beitrag von Rechtsanwältin Brigitte Heinert, Frankfurt am Main; Prof. Dr. Carsten Wendtland, Mühlheim am Main

Fußnoten:

[1] Das Merkzeichen aG steht für außergewöhnliche Gehbehinderung.

[2] Nolte in: KassKomm, § 32 SGB V Rn. 30a.

[3] Vgl. Welti in: Becker/Kingreen, § 2a Rn. 8.

[4] Vgl. SG Düsseldorf, Urt. v. 06.04.2011 – S 2 KA 266/09, juris.

[5] Lücking in: Sodan, Hb des KVR, § 40 Rn. 11.


Stichwörter:

Heilmittel, Heilmittel-Richtlinie, Versorgungsleistungen, Versorgungsmedizinische Grundsätze, Chronische Erkrankung


Kommentare (1)

  1. Sylvia Maennle
    Sylvia Maennle 21.03.2016
    Es ist alles sehr deutlich beschrieben. Die Kassen machen trotzdem was sie wollen. Der Stempel abgelehnt ist schon in der Hand bevor der Antrag gelesen ist. Ich habe für 2013 die Langzeitgenehmigung sofort bekommen. Für das Jahr 2014 habe ich eine Entscheidung im Dezember 2014 für das Jahr 2014 bekommen, nachdem ich 12 Monate geklagt habe. Diese wurde dann nach Aufforderung vom Sozialgericht für 2015 genehmigt. Für 2016 das gleiche Spiel. Ich muss ja den 2. Widerspruch abwarten und kann dann erst wieder klagen.
    Mir fehlen dabei einfach die Worte. Inzwischen war ich wegen der Erkrankung im Krankenhaus als Notaufnahme und stand kurz vor einer erneuten OP. Das kann es doch nicht sein. So gehen die Kassen mit den Gesetzen um.

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