06.02.2015 D: Konzepte und Politik Giese: Beitrag D3-2015

Tagungsbericht „Fachveranstaltung „Inklusive Bildung“ im Rahmen der Inklusionstage“ 2014 am 26.11.2014 in Berlin

Die Autorin berichtet von der Fachveranstaltung „Inklusive Bildung“, die im Rahmen der Inklusionstage am 26. November 2014 in Berlin stattfand.

Aufbauend auf einem ersten Vortrag, der den Stand inklusiver Bildung aus Perspektive der Wissenschaft darstellte, diskutierten die Teilnehmenden über bereits Bewährtes, Probleme und Entwicklungsbedarfe. Betont wurde die Rolle der UN-Behindertenrechtskonvention.

Positiv hervorgehoben wurde unter anderem, dass ein wachsender Anteil behinderter Kinder inzwischen an Regelschulen unterrichtet werde. Kritik äußerten die Teilnehmenden beispielsweise gegenüber der Undurchsichtigkeit der rechtlichen Regelungen, der weiterhin starken Separierung im Verlauf des Bildungswegs sowie hinsichtlich der Finanzierung. Besondere Betrachtung erfuhr der Bereich der Hochschulbildung.

(Zitiervorschlag: Giese: Tagungsbericht „Fachveranstaltung „Inklusive Bildung“ im Rahmen der Inklusionstage“ 2014 am 26.11.2014 in Berlin; Forum D, Beitrag D3-2015 unter www.reha-recht.de; 06.02.2015)

 


I.       Einleitung

Die Fachveranstaltung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zum Thema „Inklusive Bildung“ fand im Rahmen der Inklusionstage 2014 statt. Sie gab Gelegenheit, über inklusive Bildung aus der Perspektive von Wissenschaft und Praxis zu diskutieren. Moderator Lothar Guckeisen bemerkte einführend, dass einige Länder Rechtsansprüche auf inklusive Bildung – ggf. unter Ressourcenvorbehalt – bereithalten, z. B. Hamburg (§ 12 Abs. 1 Hamburgisches Schulgesetz) oder Nordrhein-Westfalen (§§ 19 Abs. 5, 20 Abs. 2 Schulgesetz Nordrhein-Westfalen). Auch in der Wirtschaft und Gesellschaft scheint das Thema angekommen zu sein, was zahlreiche Projekte in Unternehmen und Diskussionen zum Thema inklusive Bildung zeigten.

II.      Zum Sachstand aus Sicht der Wissenschaft

Prof. Rolf Werning (Universität Hannover, Institut für Sonderpädagogik) erläuterte zunächst den Sachstand aus Sicht der (Erziehungs-)Wissenschaft. Die Grundlage der Diskussion um die inklusive Bildung sei die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Ziel der dort zu findenden Regelungen sei insbesondere die Minimierung von Diskriminierung und die Maximierung von Teilhabe. Dabei sei Inklusion nicht nur ein Thema, welches konkret behinderte Menschen betreffe, sondern sich grundsätzlich mit Heterogenität beschäftige.         

Es sei zunächst positiv festzustellen, dass ein wachsender Anteil behinderter Kinder inzwischen in Regelschulen beschult werde. Im Laufe des Bildungsweges gestalte sich dies durch das separative System jedoch weiterhin als sehr schwierig. So steige zwar die Anzahl von Kindern mit Förderbedarf, es komme aber nicht zu einer merklichen Abnahme separativ beschulter Kinder. Als wesentliche Probleme bezeichnete Werning den Übergang von der Schule in den Beruf bzw. die Ausbildung, die Ausbildung des Lehrpersonals sowie die bestehende rechtliche Diffusität. So gebe es einen Flickenteppich von Rechtsgrundlagen, die in diesem Bereich relevant seien. Problematische Konsequenzen daraus seien, dass die notwendigen Ressourcen aus verschiedenen Rechts- bzw. Leistungssystemen stammen, der Bildungs- und Sozialetat nicht verbunden sei sowie personen- und systembezogene Leistungen nebeneinander existieren.

III.    Was hat sich hinsichtlich der Umsetzung inklusiver Bildung bereits bewährt und wo besteht weiterer Entwicklungsbedarf?

Im Anschluss daran diskutierte eine Runde, was sich hinsichtlich inklusiver Bildung bereits bewährt hat, wo die Grenzen sind und was sich lohnt, erhalten bzw. weiterentwickelt zu werden.       

Mit dem Publikum diskutierten Reiner Delgado (Sozialreferent beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e. V.), Hannelore Kern (Senatsverwaltung Bildung und Schule Berlin, Abteilung sonderpädagogische Förderung), Johanna Meisner (Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder e. V., Freiburg), Thomas Katthöfer (Generalsekretär der Hochschulrektorenkonferenz), Achim Meyer auf der Heyde (Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks), Thomas Sondermann (Bundesministerium für Bildung und Forschung, Berlin), Tilo Kiess (Geschäftsführer von Alfred Kiess Innenausbau, Stuttgart), Ursula Winklhofer, M. A. (Deutsches Jugendinstitut, München).

Als Problem wurde die nicht ausreichende Ausbildung von Sonderpädagogen beschrieben. Wichtig sei der Aufbau einer „team-teaching-Kultur“, für die die Lehrkräfte in vielen Fällen jedoch noch nicht ausreichend ausgebildet seien und bei der Sonderpädagogen nicht wie momentan in der Praxis oft im „back office“ eingesetzt werden. Positives Beispiel sei hier Berlin, in dem bereits über 50 % der Schülerinnen und Schüler integriert werden, was unter anderem daran liege, dass dort bereits sehr früh Fachpädagogen in den Schulen wirken.

Zudem wurde diskutiert, weshalb in Kindertageseinrichtungen (Kitas) die Inklusion weiter entwickelt sei als in anderen Bildungsbereichen. Die Ursache hierfür liege u. a. in den gewachsenen Strukturen; in Kitas gebe es bereits seit langer Zeit integrative Einrichtungen. Darüber hinaus trügen auch die Träger zu niedrigeren Hürden bei. Nicht zuletzt sei die Entwicklung aber wesentlich von engagierten Personen, wie den Eltern, und der Haltung der Einrichtungen abhängig und durch diese gezeichnet.

In den Hochschulen hingegen gebe es weiterhin zahlreiche „Baustellen“. So müssten beispielsweise bei der Zulassung von Studierenden besondere Maßnahmen getroffen werden und die Lehrerbildung müsse verbessert werden, so gebe es bisher keine inklusionspädagogischen Professuren in Deutschland. Wenn das System inklusionspädagogischer Professuren angelaufen sei, wird weiterer Forschungsbedarf bestehen. Dafür wird künftig auch öffentliche Unterstützung notwendig sein. Damit dies aber keine neue Lehrergeneration mehr benötige, bestehe bei der jetzigen Lehrerschaft ein großer Bedarf an Weiterbildung.

Weiterhin gebe es trotz aller Förderung von Inklusion weiterhin zu geringe Akzeptanz im (Hoch-) Schulbildungsbereich. Dies führe oftmals dazu, dass Nachteilsausgleiche nicht erbracht oder bestehende Beeinträchtigungen nicht artikuliert werden. Um die Akzeptanz zu fördern, müsse auch die Diagnostik weiterentwickelt werden. Als Beispiel könne hier die frühkindliche Bildung dienen. Dort werden insbesondere individuelle Fördermaßnahmen (z. B. der Situationsansatz, Montessori Pädagogik) in Betracht gezogen.

Kiess berichtete aus der Praxis, dass Vielfalt in einer Belegschaft Betriebe bereichere. Menschen mit Beeinträchtigungen seien als Fachkräfte nicht zu unterschätzen und gleichen ihre Einschränkungen oftmals durch andere Stärken mehr als aus. Es gibt zahlreiche Hilfen, die Betriebe und behinderte Arbeitnehmer bzw. Auszubildende unterstützen, man müsse sich aber auch helfen lassen, so Kiess.

IV.    Worin bestehen die größten Schwierigkeiten bei der Umsetzung inklusiver Bildung?

In der zweiten Diskussionsrunde wurden insbesondere die Schwierigkeiten und Hürden bei der Umsetzung der UN-BRK bzw. inklusiver Bildung und konkrete vorrangige Handlungserfordernisse diskutiert. Probleme ergeben sich beispielsweise durch Ressourceneinsparungen an verschiedenen Stellen (z. B. Lehrstühle für Blindenpädagogik), sodass an vielen Stellen Kompetenz fehle. Zu bedenken sei ferner, dass Inklusion in der Schule und in der Hochschule vor jeweils anderen Herausforderungen stünde. Durch die bestehende freie Hochschulwahl ergebe sich ein Anspruch, grundsätzlich an jeder möglichen Hochschule in Deutschland zu studieren. Dies zwinge die Hochschulen zum Handeln und sich noch stärker als Schulen mit der Thematik auseinander zu setzen. Daher seien Nachteilsausgleiche in der Praxis von großer Bedeutung. Um die Akzeptanz zu vergrößern müsse jedoch zu allen durchdringen, dass Nachteilsausgleiche keinesfalls Studienerleichterungen bedeuten. Dazu bedarf es Berater und Ansprechpartner an den Hochschulen, die darüber informieren und beraten.

Auch bei der Einführung neuer Medien und Lehrformate (z. B. e-learning) müsse Barrierefreiheit direkt zu Beginn mitgedacht werden. Aktuell geschehe dies (noch) nicht überall, sodass es Veränderungsbedarf gebe.

Eine weitere Schwierigkeit sei die Finanzierung aus unterschiedlichen Systemen. In diesem Zusammenhang wurde für ein künftiges Bundesteilhabegesetz gefordert, dass der Rechtsanspruch auf Teilhabe stets finanziell abgesichert und durchsetzbar sein müsse. Weiteres Problem sei, dass in Sachen Schulbildung oft den Eltern die Verantwortung aufgeladen werde, dass die Rahmenbedingungen (z. B. Schulbegleitung, Schulweg) für eine inklusive Beschulung ihres Kindes stimmen. Diese Rahmenbedingungen müssten jedoch für alle Kinder gleichermaßen bestehen. Vor diesem Hintergrund wurde auch die Forderung nach einem Bundesrahmengesetz für inklusive Bildung geäußert.[1]

Es sei den Eltern nicht weiter zuzumuten, dass die Voraussetzungen für bestimmte Leistungen in allen Bundesländern verschieden seien, was sich insbesondere in „Grenzregionen“ bemerkbar mache. Auch die Beteiligung von Verbänden behinderter Menschen wurde als defizitär erlebt. Problematisch dabei sei u. a., dass die Selbsthilfeverbände auf Bundes- und Länderebene unterschiedlich stark vertreten seien. Wesentlich sei auch die Art der Beteiligung. Bisher würden insbesondere Selbsthilfeverbände nur angehört, bei wesentlichen Entscheidungen aber außen vor gelassen.

V.     Welche Fragen müssen vorranging – und von wem – beantwortet werden?

Über Wissenslücken über inklusive Bildung wurde in der letzten Diskussionsrunde der Veranstaltung gesprochen. Zunächst wurde darüber diskutiert, ob die Einführung einer Quote für die Aufnahme behinderter Schülerinnen und Schüler in allgemeinen Regelschulen sinnvoll für Inklusion sei. Die Meinungen dazu waren ambivalent, so könnten Zielvereinbarungen nämlich auch dazu führen, dass Menschen stärker kategorisiert werden, damit Schulen bestimmte Förderungen erhalten. Darüber hinaus könnten Quoten im Zweifel am Kind vorbei gehen und es müssten weitere Subquoten (z. B. hinsichtlich der Art der Behinderung o. ä.) festgelegt werden. Wichtiger und effektiver sei ein individueller Rechtsanspruch auf Beschulung in allgemeinen Regelschulen. Kritisch hierbei sei jedoch, dass dadurch den Eltern die Verantwortung (fast) vollständig übertragen werde, diese jedoch erst im Laufe der Zeit zu „Experten“ werden.         

Daneben wurde diskutiert, wann es für Unternehmen attraktiv sei, behinderte Arbeitnehmer bzw. Auszubildende zu beschäftigen bzw. welche Anreize es dafür gebe. Aus Sicht der Praxis sei es bereits attraktiv, so Kiess, da es bereits verschiedene Leistungen für den Arbeitgeber gebe. Deutlich wurde aus der Diskussion jedoch auch, dass weiterhin große Unkenntnis bei den Betrieben über Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten bestehe, die Hürden eines Abschlusses gesenkt werden müssen und ein Übergang nur realisiert werden könne, wenn im Anschluss an eine Ausbildung auch ausreichend Beschäftigungsmöglichkeiten bestünden.      

Aktuell bestehen in der Bildung zwei Systeme (Sondereinrichtungen und inklusive Einrichtungen) parallel. Zum Abschluss gingen daher die Diskussionsteilnehmer und das Plenum der Frage nach, ob die bestehenden Strukturen erhalten bleiben oder neue geschaffen werden sollten, um Inklusion in der (Hoch-)Schulbildung voran zu bringen. Im Großen und Ganzen bestand Einigkeit darin, dass die bestehenden Strukturen nicht ad hoc verworfen und abgeschafft werden sollten. Vielmehr sollten die Systeme im Einzelfall auf ihre Notwendigkeit „überprüft“ werden. Als Beispiel wurde hier die Gebärdensprache angeführt, bei der es sinnvoll sein kann, dass es Einrichtungen gibt, in denen sich Gehörlose mit anderen Personen, die Gebärdensprache beherrschen, verständigen können und sie nicht in einer Klasse sind, die zwar inklusiv ist, in der aber niemand sonst die Gebärdensprache beherrscht. Von großer Bedeutung sei daher insbesondere eine gute Ausstattung der einzelnen Einrichtungen mit Wissen und mit Ressourcen.

Beitrag von Dipl. jur. Maren Giese, Universität Kassel

Fußnoten:

[1] Nach derzeitiger Rechtslage wäre ein solches Bundesrahmengesetz aufgrund der Kulturhoheit der Länder verfassungswidrig, vgl. Art. 70 Grundgesetz.


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