24.07.2019 A: Sozialrecht Conrad-Giese: Beitrag A10-2019

Teilhabe durch Persönliche Assistenz für Kinder mit Behinderungen – Teil II: Die neue Regelung über Assistenzleistungen in § 78 SGB IX n. F.

Die Autorin Maren Conrad-Giese befasst sich im zweiten Teil ausführlich mit der Regelung des § 78 SGB IX. Nach einer Einordnung in den Reformprozess des BTHG wird der Inhalt der neugeschaffenen Regelung erläutert und im Hinblick auf die Zielsetzungen des Gesetzgebers überprüft. Im Ergebnis sieht die Autorin, dass eine umfangreiche, volle, gleichberechtigte und wirksame Teilhabe sowie die Stärkung von Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbstständigkeit  verfehlt wird. Sinnvoller als eine strikte Kategorisierung wäre eine Beurteilung nach der Besonderheit des Einzelfalls gewesen.

(Zitiervorschlag: Conrad-Giese: Teilhabe durch Persönliche Assistenz für Kinder mit Behinderungen – Teil II: Die neue Regelung über Assistenzleistungen in § 78 SGB IX n. F.; Beitrag A10-2019 unter www.reha-recht.de; 24.07.2019)

I. Einleitung

Persönliche Assistenz ist die Unterstützung durch eine Person bei behinderungsbedingten Unterstützungsbedarfen. Sie dient der selbstbestimmten Lebensführung und (möglichst) vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe. Das Konzept der Persönlichen Assistenz ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen Entwicklungsprozesses. Nur vereinzelt hatte das Konzept bisher Niederschlag in der deutschen Rechtsordnung gefunden. Durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) wurden die Assistenzleistungen ausdrücklich mit in das Gesetz aufgenommen. Der zweite Teil dieser Beitragsreihe befasst sich daher mit der neuen Regelung und ihrer Bedeutung.

II. Das Bundesteilhabegesetz (BTHG)

Das BTHG ist das Ergebnis einer langjährigen Diskussion um die Weiterentwicklung des Behindertenrechts und Reform der Eingliederungshilfe.[1] Die Ziele waren u. a. die Stärkung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, die Schaffung eines modernen Teilhaberechts sowie die Umsetzung der UN-BRK.[2] Am 23.12.2016 wurde das BTHG als Artikelgesetz verabschiedet, mit dem einige Gesetze – insbesondere das SGB IX – geändert wurden und werden.[3] Es tritt seit dem 30.12.2016 in mehreren Reformstufen bis 2023 in Kraft (vgl. Art. 26 Abs. 1 bis 5 BTHG). Den Schwerpunkt des BTHG stellt die neue Struktur des SGB IX dar.[4]

Im Teil I[5] wurden einzelne Regelungen geändert und ergänzt (z. B. das Teilhabeplanverfahren, §§ 19 ff. SGB IX). Das bisher im SGB XII geregelte Recht der Eingliederungshilfe (§§ 53 ff. SB XII) ist der neue Teil 2 des SGB IX und tritt im Wesentlichen ab dem 01.01.2020 in Kraft. Das sogenannte Schwerbehindertenrecht ist seit dem 01.01.2018 im SGB IX Teil 3 (§§ 151–241 SGB IX) geregelt.

Die Leistungen zur Teilhabe (§ 4 SGB IX) werden weiterhin in Leistungsgruppen eingeteilt (§ 5 SGB IX), ergänzt um die Leistungen zur Teilhabe an Bildung (§§ 5 Nr. 4, 75 SGB IX)[6]. Die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wurden als Leistungen zur Sozialen Teilhabe (nun §§ 5 Nr. 5, 76–84 SGB IX) definiert und neu strukturiert.[7] Sie werden erbracht, um eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, § 76 Abs. 1 SGB IX. Durch die Änderungen des BTHG sind Assistenzleistungen nun ausdrücklich Bestandteil des gesetzlichen Leistungskatalogs der Sozialen Teilhabe, §§ 76 Abs. 2 Nr. 2, 78 SGB IX. Neue Leistungen sollten damit nicht verbunden sein.[8] Vielmehr wurden Assistenzleistungen zur Rechtssicherheit und Rechtsklarheit eingeführt, da diese Leistungen bisher unter anderen Leistungstatbeständen (z. B. Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben) erbracht wurden.[9]

III. Assistenzleistungen nach § 78 SGB IX n. F.

Assistenzleistungen sind als Leistungen zur Sozialen Teilhabe nachrangig gegenüber Leistungen der medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben, § 76 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Da es sich beim SGB IX (Teil 1) – bis auf einzelne Ausnahmen – nicht um ein Leistungsgesetz handelt, ist § 78 SGB IX n. F. keine Anspruchsgrundlage, sondern beschreibt, was eine Assistenzleistung als Leistung zur Sozialen Teilhabe ist und dass diese  von den zuständigen Rehabilitationsträgern (vgl. § 6 i. V. m. § 5 SGB IX) nach deren jeweiligen Leistungsgesetzen zu erbringen ist.[10]

1. Ziele

Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 SGB IX dienen Assistenzleistungen der selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags einschließlich der Tagesstrukturierung. Davon umfasst sind insbesondere alltägliche Leistungen wie Haushaltsführung, Gestaltung sozialer Beziehungen, persönliche Lebensplanung, Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten, Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen sowie Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen, § 78 Abs. 1 Satz 2 u. 3 SGB IX. Der Alltag ist hier also sehr umfassend zu verstehen. Die Persönliche Assistenz ist eine Unterstützungsleistung, die an den konkreten Bedarf angepasst wird und daher in jedem Lebensbereich denkbar ist.[11] Aus diesem Grund und im Hinblick auf eine UN-Behindertenrechtskonventions-konforme Auslegung der Norm können auch Bereiche umfasst sein, die nicht ausdrücklich genannt sind, wie z. B. Begleitung während einer Urlaubsreise oder des Krankenhausbesuchs oder die Unterstützung bei der Gesundheitsvorsorge und gesundheitsdienlicher Verhaltensweisen (z. B. Bewegung, Ernährung).

2. Leistungsberechtigter Personenkreis

Die im SGB IX enthaltenen Leistungen erhalten Menschen mit Behinderungen und in den meisten Fällen auch von Behinderung bedrohte Menschen, § 1 SGB IX. Wer im konkreten Fall zum leistungsberechtigen Personenkreis von Assistenzleistungen gehört, ist abhängig von der konkreten Anspruchsgrundlage des jeweiligen Leistungsgesetzes des Leistungsträgers (z. B. Leistung der Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. SGB XII, ab 01.01.2020 §§ 90 ff. SGB IX).

3. Inhalt

Assistenzleistungen beinhalten Unterstützungsleistungen zur Bewältigung des Alltags und in den oben aufgeführten Lebensbereichen, § 78 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Zu ihnen können aber grundsätzlich alle Lebensbereiche und -situationen gehören. Die Aufzählung in § 78 Abs. 1 SGB IX ist daher nicht abschließend.[12]

Welche konkreten Tätigkeiten bzw. Unterstützungsleistungen von der Assistenzkraft zu erbringen sind, richtet sich nach dem Einzelfall. Maßgeblich für die Bestimmung des Unterstützungsbedarfs ist der nach § 19 SGB IX erstellte Teilhabeplan, § 78 Abs. 2 Satz 1 SGB IX. Je nach Behinderung kann es insbesondere darum gehen, bestehende (bauliche) Barrieren zu überwinden. Es ist aber auch denkbar, dass Unterstützungsleistungen notwendig sind, um einen Alltag, bestimmte Strukturen und einen sicheren Umgang damit zu schaffen, um Handlungen später auch selbstständig übernehmen und selbstbestimmt leben zu können.

Trotz der individuellen Ermittlung der erforderlichen Unterstützungsleistung (Art, Ablauf, Ort, Zeitpunkt) bestimmt § 78 Abs. 2 SGB IX, welche Leistungen im Rahmen der Assistenzleistungen grundsätzlich möglich sind.

Danach sind

  1. die vollständige und teilweise Übernahme von Handlungen zur Alltagsbewältigung sowie die Begleitung der Leistungsberechtigten und
  2.  die Befähigung der Leistungsberechtigten zu einer eigenständigen Alltagsbewältigung

von den Assistenzleistungen umfasst.

a) Einfache Assistenz – qualifizierte Assistenz (§ 78 Abs. 2 SGB IX)

Der Gesetzgeber hat die in § 78 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und 2 SGB IX aufgeführten Tätigkeiten hinsichtlich der verschiedenen Zielsetzungen in die einfache und qualifizierte Assistenz eingeteilt.

Die einfache Assistenz enthält die in § 78 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB IX aufgeführten Tätigkeiten. Es geht dabei darum, dass die jeweilige Aufgabe oder Tätigkeit von der Assistenzkraft vollständig oder teilweise übernommen wird oder die Assistenzleistung in der Begleitung des Assistenznehmers/der Assistenznehmerin besteht. Umfasst sind hiervon insbesondere Unterstützungsleistungen bei der Überwindung von (baulichen oder technischen) Barrieren, z. B. die Waschmaschine befüllen, das Getränk anreichen, Einkäufe nach Hause tragen oder Unterstützung bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Relevant ist diese Art der Assistenz vor allem für Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen und Sinnesbeeinträchtigungen. Besondere Anforderungen an die (beruflichen) Qualifikationen der Assistenzkraft sind damit in der Regel nicht verbunden.

Anders ist dies bei der qualifizierten Assistenz. Hierbei handelt es sich nicht um die Übernahme bestimmter Tätigkeiten durch die Assistenz, sondern vielmehr um die Befähigung des Assistenznehmers/der Assistenznehmerin, die jeweiligen Tätigkeiten und Handlungen irgendwann selbstständig zu übernehmen. Gegenstand der Assistenzleistung sind in diesem Fall also die Motivation, Anleitung und Begleitung des Assistenznehmers/der Assistenznehmerin. Erforderlich ist danach z. B., dass mit dem Assistenznehmer/der Assistenznehmerin alltägliche Situationen und Handlungen gemeinsam geplant, besprochen, geübt und reflektiert werden. Dies kann sich auf die Bewältigung des Alltags beziehen, denkbar sind aber auch die Beratung und Anleitung zur Lebensgestaltung, zur Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen oder der Gestaltung einer Partnerschaft sowie die Planung der Freizeitgestaltung oder Ernährung.[13] Geregelt werden mit der qualifizierten Assistenz also insbesondere pädagogische und psychosoziale Leistungen, die vor allem für Menschen mit seelischen oder geistigen Beeinträchtigungen notwendig sind. Aufgrund dessen sieht § 78 Abs. 2 Satz 3 SGB IX vor, dass die Leistungen der qualifizierten Assistenz nur von entsprechenden Fachkräften erbracht werden können. In Betracht kommen hierfür etwa Personen aus der Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Pädagogik oder Psychologie.

Eine Abgrenzung zwischen einfacher und qualifizierter Assistenz kann im Einzelfall schwierig oder sogar unmöglich sein. Dies gilt z. B. für Fälle, in denen behinderungsbedingt auch bei der Übernahme von Handlungen (z. B. Essensdarreichung bei behinderungsbedingten Schluckproblemen, Begleitung bei Anfallsleiden) qualifiziertes Fachwissen (z. B. medizinisch-pädagogisch) notwendig ist.[14] Ähnliche Abgrenzungsschwierigkeiten können auch an der Schnittstelle zwischen Fachleistungen (hier: die Assistenzleistung) und den Leistungen zum Lebensunterhalt entstehen. Hier ist im Rahmen der Gesamtplanung festzustellen, wo der Schwerpunkt des Unterstützungsbedarfes liegt; z. B. also eher bei den jeweiligen Verbrauchsausgaben wie Nahrungsmittel oder aber bei der Zubereitung von Mahlzeiten.[15]

b) Elternassistenz (§ 78 Abs. 3 SGB IX)

Assistenzleistungen umfassen nach § 78 Abs. 3 SGB IX ausdrücklich auch Assistenzleistungen für Mütter und Väter mit Behinderungen. So wird gewährleistet, dass Eltern mit Behinderungen ihren elterlichen Sorgepflichten und -rechten nachkommen können.[16] Unterscheiden lassen sich diese Assistenzleistungen in die Elternassistenz und die begleitete Elternschaft.[17]

Die Elternassistenz umfasst einfache Assistenzleistungen und dient insbesondere Eltern mit körperlichen oder Sinnesbeeinträchtigungen, bestimmte „Elternaufgaben“ zu übernehmen (z. B. Aufsammeln von Glasscherben für im Rollstuhl sitzende Eltern(teile), Beaufsichtigen des Kindes blinder Eltern(teile) beim Spielplatzbesuch).

Die begleitete Elternschaft ist dagegen darauf gerichtet, Eltern durch pädagogische Anleitung, Beratung und Begleitung in der Wahrnehmung ihrer Elternrolle zu unterstützen.[18] Hierbei handelt es sich somit um Leistungen der qualifizierten Assistenz, die durch entsprechende Fachkräfte zu erbringen ist.

c) Ergänzende Leistungen (§ 78 Abs. 4 SGB IX)

Im Zusammenhang mit Assistenzleistungen können verschiedene zusätzliche Kosten entstehen, wie z. B. Fahrtkosten für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder Eintrittskarten für kulturelle Veranstaltungen (z. B. Kino, Theater). Teilweise wurde die Übernahme dieser Kosten bisher in § 22 Eingliederungshilfe-Verordnung[19] geregelt. Sie sind nach § 78 Abs. 4 SGB IX nun als ergänzende Leistungen ausdrücklich von den Assistenzleistungen mit umfasst, wenn sie notwendig sind. Die Regelung bindet damit alle Rehabilitationsträger, ggf. auch derartige ergänzende Leistungen zu erbringen. Von der Notwendigkeit ist etwa dann auszugehen, wenn der Assistenznehmer/die Assistenznehmerin auf die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln angewiesen ist, um z. B. Therapietermine wahrzunehmen, zu deren Nutzung einer Assistenz bedarf und dafür Fahrtkosten anfallen[20] oder wenn es zum Beispiel gerade darum geht, den Assistenznehmer/die Assistenznehmerin zu einer kulturellen Veranstaltung zu begleiten und dafür eine Eintrittskarte erforderlich ist.

d) Ausübung eines Ehrenamtes (§ 78 Abs. 5 SGB IX)

Der Gesetzgeber wollte im Rahmen des BTHG das ehrenamtliche Engagement von Menschen mit Behinderungen besonders würdigen.[21] Darum sind Assistenzleistungen zur Ausübung eines Ehrenamtes mit in § 78 SGB IX aufgenommen worden. Sie stehen jedoch unter dem Vorbehalt, dass die Unterstützung notwendig ist und die Aufwendungen angemessen sind. Darüber hinaus sind derartige Unterstützungsleistungen durch die jeweiligen Leistungsträger nur zu erbringen, soweit die Unterstützung nicht zumutbar auch unentgeltlich erbracht werden kann. Der Gesetzgeber sieht dabei die vorrangige Unterstützung im Rahmen familiärer, freundschaftlicher, nachbarschaftlicher oder ähnlich persönlicher Beziehungen, die unentgeltlich erbracht werden.[22] Obgleich dies möglicherweise in verschiedenen Konstellationen eine sinnvolle Alternative ist, läuft es dem Konzept der Persönlichen Assistenz zuwider, wonach gerade kein (emotionales) Abhängigkeitsverhältnis in der Form, dass der Assistenznehmer/die Assistenznehmerin als Bittsteller/Bittstellerin auf die freiwillige Hilfe von Angehörigen und Freunden angewiesen ist, geschaffen werden soll.. Die Intention des Gesetzgebers, die Ausübung des Ehrenamtes damit zu stärken, muss daher kritisch hinterfragt werden. Wann die Zumutbarkeit überschritten ist, geht nicht aus dem Gesetz hervor. Dies muss aber spätestens angenommen werden, wenn es dem Willen der betroffenen Person widerspricht.

e) Leistungen der Erreichbarkeit (§ 78 Abs. 6 SGB IX)

Assistenzleistungen sind so vielfältig wie die sie notwendig machenden Bedarfssituationen. So gehören nun auch Leistungen der Erreichbarkeit zu den Assistenzleistungen nach § 78 SGB IX. Gemeint ist die Möglichkeit, eine Ansprechperson zu kontaktieren und zwar unabhängig von der konkreten Inanspruchnahme („Rufbereitschaft“). Derartige Leistungen sind insbesondere für Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen gedacht, damit sie in krisenhaften Situationen Sicherheit und Halt erfahren. Es handelt sich dabei um sog. Hintergrundleistungen, bei denen bei Erforderlichkeit ein telefonischer oder ggf. auch persönlicher Rat und Kontakt zur Verfügung steht.[23]

IV. Kritik

Die mit dem BTHG ausdrücklich ins Gesetz aufgenommenen Assistenzleistungen sind auf den ersten Blick sehr umfangreich geregelt, was für eine individuelle Bedarfsdeckung und die oftmals komplexen Bedarfslagen auch notwendig ist.[24] Neue Leistungen sind damit allerdings nicht verbunden, vielmehr werden von den Assistenzleistungen Leistungen umfasst, die vorher im Rahmen anderer Leistungen (z. B. Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, § 55 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX i. d. F. v. 14.12.2012) erbracht worden sind.[25] Die Anforderungen an die nach § 78 SGB IX erforderlichen Assistenzkräfte richten sich nach den jeweiligen Leistungsgesetzen, wobei sichergestellt sein soll, dass sie nach ihrer Persönlichkeit geeignet sind und über eine jeweils passende Kommunikationsform verfügen.[26]

Die ausdrückliche Aufnahme der Assistenzleistungen in den Leistungskatalog sollte zu mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit führen. Dass der Wortlaut nun Assistenzleistungen beinhaltet, führt jedoch nicht zwingend zu mehr Rechtssicherheit und -klarheit und zur Lösung bisheriger Probleme. Vielmehr besteht die Gefahr, dass bisher offene Leistungskataloge eingeschränkt werden. Der Begriff allein ist also nicht entscheidend, sondern vielmehr, wie die Leistung gewährt, ausgestaltet und erbracht wird.

Dabei kann auch die Einteilung in einfache und qualifizierte Assistenz in Einzelfällen schwierig sein, wenn behinderungsbedingt auch bei der Übernahme von Handlungen qualifiziertes Fachwissen notwendig ist.[27] Ebenso bedarf es bei Assistenzleistungen zur Befähigung zu einer eigenständigen Alltagsbewältigung nicht immer zwingend einer Fachkraft.[28] Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass durch einen vorschnellen Verweis auf ersetzende Assistenz (Übernahme von Handlungen) das eigentliche Ziel – eine umfangreiche, volle, gleichberechtigte und wirksame Teilhabe sowie die Stärkung von Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbstständigkeit – verfehlt wird.[29]

Sinnvoller wäre eine Regelung gewesen, wonach die Art der Assistenz nach der Besonderheit des Einzelfalls zu beurteilen ist. Dass die Qualität der Assistenz dem konkreten Bedarf angepasst sein muss, ergibt sich ohnehin bereits aus §§ 4, 8, 28 Abs. 2 und 76 Abs. 1 SGB IX. Der Bundesrat hatte daher im Gesetzgebungsverfahren die Streichung des § 78 Abs. 2 Satz 3 gefordert.[30] Die strikte Kategorisierung geht außerdem davon aus, dass je nach Situation und ggf. innerhalb des Tagesverlaufs verschiedene „Arten“ von Assistenz von qualifizierten Fachkräften und einfachen Assistenzkräften aus unterschiedlichen Finanzquellen sowie unentgeltlich durch das familiäre oder sonstige soziale Umfeld erbracht werden.[31] Die Koordinierung dessen kann ein Teilhabeplan, so wie es § 78 Abs. 2 Satz 1 SGB IX vorsieht, nicht leisten und ist auch nicht seine Aufgabe. Auch für den familiären Alltag mit einem behinderten Kind, welches unter Umständen einer gewissen Kontinuität und Ruhe bedarf, ist dies keine taugliche Variante. Es entstehen Schnittstellen, die wiederum zu Problemen bei der Leistungserbringung führen können und dem Grundsatz einer nahtlosen und zügigen Leistungsbringung widersprechen.

V. Fazit und Ausblick auf den dritten Teil der Beitragsserie

Die Assistenzleistungen sind nun ausdrücklich Bestandteil der Leistungen zur Sozialen Teilhabe. § 78 SGB IX regelt, welche Leistungen Assistenzleistungen sind, und unterteilt diese in einfache und qualifizierte Assistenzleistungen. Darüber hinaus werden besondere Lebenssituationen geregelt wie die Elternassistenz und die Unterstützung während der Ausübung eines Ehrenamtes. Die konkreten Leistungsvoraussetzungen der Assistenzleistungen richten sich weiterhin nach dem jeweils einschlägigen Leistungsgesetz.

Insgesamt kann die Entwicklung der Assistenzleistung allein durch die Aufnahme in das Gesetz nicht als abgeschlossen angesehen werden. Vielmehr kann und muss es als Beginn eines weitergehenden Entwicklungsprozesses verstanden werden. Dies gilt u. a. im Hinblick auf die Verwirklichung des eigentlichen Konzeptes der Persönlichen Assistenz sowie hinsichtlich der Umsetzung der UN-BRK.[32]

Beitrag von Ass. jur. Maren Conrad-Giese, Dalitz

Fußnoten:

[1] Vgl. dazu z.B. Theben, Beitrag D38-2015; Frehe, Beitrag D27-2016; Schäfers, Beitrag D38-2016; Heinisch, Beitrag D13-2017; Theben, Beitrag D31-2017; Roesen, Beiträge A1-2018 und A2-2018; Gitschmann, Beitrag D4-2018; Kuhn-Zuber, Beitrag D20-2018; Wagener, Beitrag C5-2018, jeweils abrufbar unter www.reha-recht.de.

[2] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 1.

[3] BGBl. I 2016, S. 3234.

[4] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 191.

[5] Regelungen für Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte Menschen.

[6] Dazu auch Nachtschatt/Ramm, Beitrag D52-2016 unter www.reha-recht.de.

[7] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 228, 261.

[8] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 261.

[9] Ebd.

[10] Mögliche Anspruchsgrundlagen für Assistenzleistungen für Kinder mit Behinderungen in bestimmten Lebensbereichen werden Thema in den Teilen 3 und 4 dieser Beitragsreihe sein.

[11] Siehe Conrad-Giese: Teilhabe durch Persönliche Assistenz für Kinder mit Behinderungen – Teil I: Das Konzept der persönlichen Assistenz: Beitrag A9-2019 unter www.reha-recht.de; 24.07.2019.

[12] Vgl. FKS-SGB IX-Conrad-Giese, § 78, Rn. 13.

[13] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 262 f.

[14] So z. B. auch Deutscher Caritasverband e.V., Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e. V., Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde sowie Sozialverband Deutschlands, Stellungnahmen in: Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucks. 18(11)801, S. 22, 178, 273, 340, 346.

[15] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 262.

[16] Dazu bereits Zinsmeister, Beitrag A29-2012 unter www.reha-recht.de.

[17] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 263.

[18] Ebd.

[19] Die Eingliederungshilfe-Verordnung tritt zum 01.01.2020 außer Kraft, Art. 26 Abs. 3 Satz 2 BTHG.

[20] So z. B. im Fall des SG Stade – 21.03.2012 – S 19 SO 27/10, juris.

[21] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 263; Bundestags-Drucksache 19/4809, S. 6.

[22] Anders dagegen das Konzept der Persönlichen Assistenz, vgl. Teil I, Beitrag A9-2019.

[23] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 263 f.

[24] So sollen sie z. B. künftig auch die Leistungen zum selbstbestimmten Wohnen in ambulant und stationär betreuten Wohnformen umfassen, welche einen großen Teil der Eingliederungshilfeaufwendungen ausmachen, vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, Stellungnahme in Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucks. 18(11)801, S. 265. Vgl. dazu auch Bochumer Institut für Disability Studies, Stellungnahme in: Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucks. 18(11)801, S. 419.

[25] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 261.

[26] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 262.

[27] So z. B. auch Deutscher Caritasverband e.V., Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e. V., Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde sowie Sozialverband Deutschlands, Stellungnahmen in: Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucks. 18(11)801, S. 22, 178, 273, 340, 346.

[28] Bundestags-Drucksache 18/9954 (Stellungnahme des Bundesrates), S. 13.

[29] Vgl. Bundesverbands evangelische Behindertenhilfe e. V., Stellungnahme in: Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucks. 18(11)801, S. 91.

[30] Bundestags-Drucksache 18/9954 (Stellungnahme des Bundesrates), S. 13 f.

[31] Kritisch dazu Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V., Stellungnahme in: Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucks. 18(11)801, S. 178.

[32] Die Beitragsserie wird im 3. Teil mit möglichen Anspruchsgrundlagen für Assistenzleistungen für Kinder mit Behinderungen im Bildungsbereich (Kita, Schule) fortgesetzt.


Stichwörter:

BTHG, Persönliche Assistenz, Selbstbestimmung, Soziale Teilhabe


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