30.08.2022 A: Sozialrecht Sellnick: Beitrag A12-2022

Der Begriff der Erwerbsfähigkeit – Bewegung bei der Abgrenzung der Leistungssysteme zur Teilhabe am Arbeitsleben – Teil II: Bewegungen im System

In diesem zweiteiligen Beitrag setzt sich der Autor Dr. Hans-Joachim Sellnick mit dem Begriff der Erwerbsfähigkeit im Kontext des Erwerbsminderungs- und Reha- und Teilhaberechts auseinander. In Beitragsteil II thematisiert Sellnick – in Anknüpfung an das in Teil I dargestellte Spannungsverhältnis zwischen normativer Erwerbsfähigkeit und tatsächlicher Integrationschancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt – die Abgrenzungsprobleme von Leistungen, die sich an Menschen mit beeinträchtigter Erwerbsfähigkeit richten. Dabei geht er auf die Leistungen nach § 16i SGB II (Teilhabe am Arbeitsmarkt) und nach § 61 SGB IX (Budget für Arbeit) ein und stellt fest, dass mit den Zielen der UN-BRK und dem Budget für Arbeit bisherige Systemgrenzen in Frage gestellt werden. An der Schnittstelle der Förderleistungen nach § 16i SGB II, dem Budget für Arbeit und der Erwerbsminderungsrente sieht Sellnick einige offene Fragen, deren Klärung es auf Basis empirischer Untersuchungen bedarf.

(Zitiervorschlag: Sellnick: Der Begriff der Erwerbsfähigkeit – Bewegung bei der Abgrenzung der Leistungssysteme zur Teilhabe am Arbeitsleben – Teil II: Bewegungen im System; Beitrag A12-2022 unter www.reha-recht.de; 30.08.2022.)

Im ersten Beitragsteil ist das unterschiedliche Verständnis der Sozialleistungsträger – insbesondere der Deutschen Rentenversicherung (DRV) einerseits und der Jobcenter und der Bundesagentur für Arbeit (BA) andererseits –, was eigentlich Erwerbsfähigkeit bedeutet, dargestellt worden. Dies spiegelt sich auch in den Förderinstrumenten der jeweiligen Leistungssysteme wider und führt zu Abgrenzungsproblemen, wenn für ähnliche Gruppen ähnliche Instrumente geschaffen werden. Diese Abgrenzungsprobleme werden zwar durch den unterschiedlichen Verständnisrahmen zunächst verschleiert. Sobald sie jedoch zu Tage treten, führt das zu Legitimationsproblemen, die geeignet sind, Bewegung in das bisherige System zu bringen. Besonders deutlich wird dies bei den Maßnahmen des Teilhabechancengesetzes und dabei insbesondere der Förderung gemäß § 16i SGB II einerseits (I.) und dem eher neuen Instrument des Budgets für Arbeit der Eingliederungshilfe anderseits (II.), auf die im Folgenden eingegangen werden soll.

Wie die bestehenden Abgrenzungs- und Legitimationsprobleme aufgelöst werden können, hängt auch von weiteren anstehenden Reformen ab, wie sie im Koalitionsvertrag vereinbart wurden. Dabei stellen übergeordnete Gleichbehandlungsgrundsätze eine besondere Herausforderung dar (III.). Um zu einer angemessenen Weiterentwicklung des bisherigen Systems kommen zu können, ist schließlich die Klärung grundlegender begrifflicher und empirischer Fragestellungen erforderlich (IV.).

I. Teilhabechancen- und Teilhabestärkungsgesetz

Weil sich das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit (auch bei behinderten bzw. dauerhaft erkrankten) SGB-II-Leistungsempfängern nicht von selbst löste und auch von keinem anderen gelöst wurde, sind mit den §§ 16 ff. SGB II Instrumente zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit entwickelt worden, die auch die Auswirkungen von Langzeiterkrankungen jedenfalls z. T. kompensieren sollten.[1] Durch das Teilhabechancengesetz vom 8. November 2018[2] sollte die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen durch neue Fördermöglichkeiten einschließlich der Förderung auf einem sog. sozialen Arbeitsmarkt verbessert werden.

Vorgesehen nach einem neuen § 16e SGB II sind Arbeitgeberzuschüsse in Höhe von 75 % des Arbeitsentgeltes im ersten und 50 % im zweiten Jahr für die nicht nur geringfügige Beschäftigung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die seit mindestens zwei Jahren arbeitslos sind.

Nach § 16i SGB II können – zunächst befristet bis zum 1. Januar 2025 – zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsmarkt Arbeitgeber für die Beschäftigung von zugewiesenen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten Zuschüsse zum Arbeitsentgelt bis zu fünf Jahre, degressiv beginnend bei 100 % im ersten, bis 70 % im letzten Jahr erhalten, wenn sie mit einer erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis begründen.

Letztlich hat man damit Instrumente geschaffen, die mit Blick auf gesundheitliche Beeinträchtigungen in Konkurrenz zur beruflichen Rehabilitation stehen und der Sache nach insofern auch Rehabilitationsleistungen sind. Augenfällig wird dies insbesondere beim Vergleich zwischen der Förderung gemäß § 16e SGB II und den Eingliederungszuschüssen der DRV. Dies führte damit zu Abgrenzungsproblemen: jedenfalls dann, wenn ein anderer Träger für vergleichbare Leistungen zuständig ist, bestand zur Vermeidung von Doppelförderungen gemäß §§ 16 SGB II i. V. m. § 22 SGB III ein Förderverbot. Dieses wurde zudem so weit interpretiert, dass der größte Teil der eigentlich mit dem Sozialen Arbeitsmarkt anvisierten Zielgruppe, nämlich die Gruppe der auch gesundheitlich Beeinträchtigten, tabu war. Das galt auch für Maßnahmen gemäß § 16i SGB II, für die es in der Rehabilitation kein Pendant gibt. Damit war die Situation gänzlich unhaltbar geworden, denn behinderte Menschen wegen ihrer Behinderung von bestimmten Leistungen materiell auszuschließen, verstieße gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 2 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UN-BRK). Schließlich gehen bei dieser Interpretation die Folgen über eine Zuständigkeitsabgrenzung hinaus. Bestimmte Leistungen sind dann durch den anderen Träger mangels gesetzlicher Grundlage (es sei denn über § 14 SGB IX, dessen Anwendbarkeit auf die Jobcenter umstritten ist) überhaupt nicht zu erbringen.

Durch das Teilhabestärkungsgesetz sollte dieser Systemfehler im Programm der sozialen Sicherung gepatcht werden, indem explizit eine Förderung gemäß § 16i SGB II auch bei Zuständigkeit eines Rehabilitationsträgers erlaubt wird. Offen bleibt, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, klarzustellen, dass ein Förderverbot für gleichartige Leistungen dann nicht greift, sofern bestimmte Teilhabeleistungen nicht durch einen anderen Träger (vor allem die DRV) tatsächlich erbracht werden bzw. gar nicht erbracht werden können, weil sie in dessen Leistungssystem nicht vorgesehen sind oder die spezifischen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind. Insbesondere bei Leistungen mit Doppelcharakter, die eigentlich unabhängig vom Vorliegen einer Erkrankung bzw. Behinderung erbracht werden (weil sie z. B. an die Dauer des SGB-II-Leistungsbezugs anknüpfen und nur im Einzelfall wegen einer Behinderung auch Rehabilitationscharakter haben), erschließt sich die Rechtfertigung eines generellen Förderverbotes nicht.

Eine Interpretation, die nur auf die tatsächliche Verhinderung von Doppelleistungen abstellt, ist insoweit die geltungserhaltende Auslegungsalternative, die mit höherrangigem Recht, insbesondere Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, europarechtlichen Vorgaben und der UN-BRK [3], im Einklang steht.

II. Budget für Arbeit

Bei Maßnahmen gemäß § 16i SGB II stellt sich ein weiteres Abgrenzungsproblem, weil diese dem Budget für Arbeit der Eingliederungshilfe ähneln. Rechtsgrundlage für ein Budget für Arbeit ist § 61 Abs. 1 SGB IX. Danach erhalten Menschen mit Behinderungen, die Anspruch auf Leistungen im Arbeitsbereich einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen haben und denen von einem privaten oder öffentlichen Arbeitgeber ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis mit einer tarifvertraglichen oder ortsüblichen Entlohnung angeboten wird, mit Abschluss dieses Arbeitsvertrages als Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ein Budget für Arbeit.

Anspruch auf Leistungen im Arbeitsbereich einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen haben gemäß § 58 Abs. 1 SGB IX Menschen mit Behinderungen, bei denen wegen Art oder Schwere der Behinderung eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einschließlich einer Beschäftigung in einem Inklusionsbetrieb oder eine Berufsvorbereitung, eine individuelle betriebliche Qualifizierung im Rahmen unterstützter Beschäftigung, eine berufliche Anpassung und Weiterbildung oder eine berufliche Ausbildung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder in Betracht kommt und die in der Lage sind, wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen. Der Lohnkostenzuschuss beträgt bis zu 75 % des vom Arbeitgeber regelmäßig gezahlten Arbeitsentgeltes, höchstens jedoch 40 % der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV.

In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass das Budget für Arbeit auch denen offensteht, bei denen keine dauerhafte volle Erwerbsminderung festgestellt ist.[4] Legt man diese Interpretation zugrunde, stünde das Budget für Arbeit grundsätzlich auch für die aus Arbeitsförderungssicht nicht mehr auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelbaren, aber gleichwohl rentenrechtlich noch zumindest beschränkt Erwerbsfähigen zur Verfügung. Die Autoren, die diese Auffassung vertreten, räumen allerdings zugleich ein, dass sich aus der Gesetzesbegründung eine andere Sichtweise ergibt.[5] An Letzterem dürfte sich die Praxis orientieren. Die Träger der Eingliederungshilfe werden wahrscheinlich auf die Zuständigkeit der Arbeitsförderverwaltung (BA und Jobcenter) verweisen und schon deshalb die Ansprüche abwehren, obwohl nach dem Gesetzeswortlaut das Vorliegen einer vollen Erwerbsminderung keine Anspruchsvoraussetzung für das Budget für Arbeit ist.

Der Gesetzeswortlaut knüpft an die Berechtigung zum Besuch einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) an.[6] Für eine Beschäftigung im Arbeitsbereich kommen auch nach den Vorstellungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS) arbeitslose schwerbehinderte Menschen nicht in Betracht, da diese (weil nicht voll erwerbsgemindert) dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und für diesen Personenkreis besondere Förder- und Integrationsmöglichkeiten nach § 187 SGB IX i. V. m. §§ 112 ff. SGB III bestehen.[7]

Nun ist das Budget für Arbeit auch eine Reaktion auf die Kritik des UN-Fachausschusses, wonach im Hinblick auf Art. 27 UN-BRK segregierte WfbM den Übergang zum allgemeinen Arbeitsmarkt weder vorbereiten noch diesen Übergang fördern und empfohlen wurde, durch entsprechende Vorschriften wirksam einen inklusiven, mit dem Übereinkommen in Einklang stehenden Arbeitsmarkt zu schaffen. Dazu wurde die schrittweise Abschaffung der WfbM durch sofort durchsetzbare Ausstiegsstrategien und Zeitpläne sowie durch Anreize für die Beschäftigung bei öffentlichen und privaten Arbeitgebern im allgemeinen Arbeitsmarkt vorgeschlagen.[8]

III. Gleichbehandlung als Maßstab

Auch vor diesem Hintergrund erscheint der Begriff der Erwerbsfähigkeit ausgesprochen schillernd. Der SGB-II-Leistungsempfänger, der nur mit massiver Förderung des § 16i SGB II in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis, sei es im gemeinnützigen Bereich eines sozialen Arbeitsmarktes, sei es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, integriert werden kann, gilt als erwerbsfähig. Nicht als erwerbsfähig gilt der Werkstattbeschäftigte, der mit einer ähnlichen Förderung in ein entsprechendes ähnliches sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis integriert wird. Die mit der UN-BRK übernommene Verpflichtung, behinderte Menschen (ob mit oder ohne Erwerbsminderungsrentenanspruch) auf einem Arbeitsmarkt außerhalb der WfbM zu integrieren, stellt damit zugleich die bisherigen Systemgrenzen der sozialen Sicherung in Frage.

Nimmt man die Ziele des Art. 27 UN-BRK ernst, legen diese eine Auslegung des Tatbestandsmerkmals des § 58 SGB IX – dass eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, nicht oder noch nicht oder noch nicht wieder in Betracht kommt – nahe, dass der Zugang zur WfbM und zum Budget für Arbeit nicht vom Vorliegen einer vollen Erwerbsminderung abhängig gemacht werden kann, wenn die Zugangschance bei 1:100.000 liegt. Oder anders ausgedrückt: Die bisherige restriktive Auslegung wird problematisch, wenn man die UN-BRK als Auslegungskriterium für semantisch nicht festgelegte Begriffe akzeptiert, vorausgesetzt, dass die Zielstellungen der UN-BRK effektiv zu verfolgen sind (also nicht nur durch symbolische Politik und Gesetzgebung) und eine zu große Diskrepanz zwischen dem Kriterium der Erwerbsfähigkeit und den tatsächlichen Zugangschancen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt besteht.

Das Festhalten am Kriterium der (rentenrechtlichen) Erwerbsfähigkeit für den Zugang zum Budget für Arbeit ist sonst allenfalls dann zu rechtfertigen, wenn ein dem § 16i SGB II entsprechendes Instrument dauerhaft erhalten bleibt und finanziell bedarfsgerecht ausgestaltet wird, da dann eine gleichartige Fördermaßnahme zur Verfügung steht. Diese Argumentation trägt aber nur dann, wenn in den Fällen, in denen behinderungsbedingt nur minimalste Zugangschancen für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehen und die Fördervoraussetzungen des § 16i SGB II nicht vorliegen oder schlicht keine Förderung z. B. aufgrund knapper Finanzmittel erfolgt, subsidiär ein Zugang zum Budget für Arbeit möglich wäre. Auch müsste der Personenkreis im Auge behalten werden, der z. B. aufgrund des Einkommens eines Ehegatten oder Partners gar keinen SGB-II-Leistungsanspruch hat und sich von vornherein außerhalb dieses Leistungssystems befindet. Zwar liegt sonst keine Ungleichbehandlung oder Benachteiligung wegen des Vorliegens einer Behinderung vor, wohl aber eine Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der behinderten Menschen, deren Arbeitsmarktchancen im Wesentlichen gleich, nämlich außerhalb einer Förderung nicht vorhanden sind. Eine Differenzierung nach einem im Ergebnis nicht sachgerechten Kriterium erscheint willkürlich und ein Zweck der Differenzierung[9] (außer aus finanziellen Erwägungen den Kreis der Berechtigten kleinzuhalten[10]) ist nicht ersichtlich.

IV.  Ausblick: Koalitionsvertrag und erforderliche Klärungen

Diese Frage betrifft allerdings nicht nur den Zugang zum Budget für Arbeit, sondern auch den Zugang zur Erwerbsminderungsrente selbst. In diesem Sinne hat der Deutsche Sozialgerichtstag jüngst gefordert, den Zugang zur Erwerbsminderungsrente zu erleichtern.[11] Die Problematik fällt aber bei der Frage zum Zugang des Budgets für Arbeit oder ähnlicher Förderungen etwa gemäß § 16i SGB II besonders auf.

Der Koalitionsvertrag[12] verspricht, § 16i SGB II zu entfristen bzw. das Teilhabechancengesetz weiterzuentwickeln. Systemgrenzen müssen deshalb neu justiert werden und auch durchlässiger (z. B. subsidiärer Zugang zum Budget für Arbeit) gestaltet werden. Dies gilt im Übrigen auch bei Unterstützung der Anbahnung einer Beschäftigung im Rahmen eines Budgets für Arbeit. So müsste sichergestellt werden, dass die Bundesagentur für Arbeit verpflichtet wird, behinderte Menschen, die einen Anspruch auf das Budget für Arbeit haben, dabei zu unterstützen, einen entsprechenden Arbeitsplatz auch tatsächlich zu erhalten.[13]

Ein effektiver Zugang zur Arbeitsmarktintegration hat zwar eine Legitimationsfunktion für die Zugangshürden zur Erwerbsminderungsrente unter dem Schlagwort „Reha vor Rente“. Diese Legitimationsfunktion bricht allerdings zusammen, wenn die Wirklichkeit heißt: keine Rente und sonst auch nichts – außer bei Bedürftigkeit Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II. 

Notwendig wäre hier gerade mit Blick auf psychische Erkrankungen eine verbindliche Klärung der offenen Fragen, aber auch eine positive Definition des allgemeinen Arbeitsmarktes bzw. der an ihn zu stellenden Mindestanforderungen.

Wie gering dürfen eigentlich die Chancen auf eine Integration auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (ob mit oder ohne Förderung?) sein, um noch als erwerbsfähig zu gelten: Eins zu Hundert oder Eins zu Hunderttausend? Wer sollte das festlegen, die Deutsche Rentenversicherung in ihren Leitlinien, die Sozialgerichtsbarkeit bzw. das Bundessozialgericht oder der Gesetz- oder Verordnungsgeber? Für letzteres spricht, dass wesentliche normative Entscheidungen auf einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage erfolgen sollten.[14]

Und wie können diese Chancen ermittelt werden?

Um diese Fragen angemessen beantworten zu können, wären entsprechende empirische Untersuchungen z. B. durch ein Modellvorhaben für unterschiedliche Räume (zum Beispiel ländliche und städtische Räume in Ost und West) erforderlich. Dabei sollte auch eine Langzeituntersuchung von Rehabilitationsfällen und abgelehnten Rentenanträgen vorgenommen werden, um zu ermitteln, bei welchen Beeinträchtigungen keine realistische Chance auf eine Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt trotz adäquater Förderung mehr besteht.

Aber: Will es die Politik so genau wissen? Rechtsprechung und Politik konnten die Legitimationsprobleme bei der Abgrenzung der Leistungssysteme auch deshalb ignorieren, weil man vieles zwar ahnte, aber nicht genau weiß. Der Politik bzw. dem parlamentarischen Gesetzgeber kommt insoweit zwar zu Recht ein weiter Beurteilungs-, Gestaltungs- und Ermessensspielraum zu, seine Grenze findet dies allerdings, wenn gesetzgeberische Maßnahmen mit alternativen Fakten legitimiert werden.[15]

Beitrag von Dr. Hans-Joachim Sellnick, Richter am Sozialgericht Nordhausen

Fußnoten

[1] Vgl. IAB-Kurzbericht 20/2018, Sozialer Arbeitsmarkt für Langzeiterwerbslose: Wer für eine Förderung infrage kommt von Torsten Lietzmann, Peter Kupka, Philipp Ramos Lobato, Mark Trappmann und Joachim Wolff (anvisiert werden sollten vor allem ältere Langzeitarbeitslose).

[2] Zehntes Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Schaffung neuer Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose auf dem allgemeinen und sozialen Arbeitsmarkt (Teilhabechancengesetz – 10. SGB II-ÄndG), BGBl. I, S. 2583.

[3] Vgl. hierzu Welti, Die UN-BRK und ihre Umsetzung in Deutschland, S. 29 ff. in: Ganner, Rieder, Voithofer, Welti (Hg.), Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich und Deutschland, Innsbruck 2021 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. M. w. N.

[4] Mattern, Rambausek-Haß, Wansing: Das Budget für Arbeit: Ausgewählte Ergebnisse einer explorativen Studie zu seiner Umsetzung – Teil I: Anspruchsvoraussetzungen und Zugang; Beitrag D9-2021 unter www.reha-recht.de; 05.03.2021. Schaumberg: Das Budget für Arbeit – Erste Überlegungen zur Anwendung in der Praxis; Beitrag A8-2018 unter www.reha-recht.de; 11.04.2018.

[5] Vgl. Nebe, Schimank: Das Budget für Arbeit im Bundesteilhabegesetz; Teil 1: Darstellung der Entwicklung und kritische Betrachtung bis zur Befassung im Bundesrat; Beitrag D47-2016 unter www.reha-recht.de; 16.11.2016. S. 7 ff. Offenbar hatte die Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren geäußert, dass es sich bei dem Kreis potenzieller Budgetnehmender um voll erwerbsgeminderte Beschäftigte im Sinne des SGB VI handele.

[6] Einen Anspruch auf Leistungen des Budgets für Arbeit haben gemäß § 61 SGB IX, diejenigen, die Anspruch auf Leistungen nach § 58 SGB IX – also Leistungen im Arbeitsbereich der WfbM – haben. Leistungen im Arbeitsbereich werden im Anschluss an Leistungen im Berufsbildungsbereich (§ 57) oder an entsprechende Leistungen bei einem anderen Leistungsanbieter (§ 60) erbracht. Gemäß § 63 Abs. 1 SGB IX erbringt i. d. R. der Rentenversicherungsträger (bei jüngeren behinderten Menschen ohne ausreichende Vorversicherungszeiten die BA) die Leistungen im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich einer anerkannten WfbM. Mit anderen Worten: Die DRV war in der Regel der Gatekeeper für den Zugang zur WfbM. Dass dies von der DRV mit dem Vorliegen eines Leistungsfalls der vollen Erwerbsminderung gleichgesetzt wurde, ist insofern nicht überraschend. Da der tatsächliche vorherige Besuch einer Werkstatt aber keine Zugangsvoraussetzung ist, kann für das Budget für Arbeit die DRV als Gatekeeper umgangen werden.

[7] Luik in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 58 SGB IX (Stand: 15.01.2018), Rn. 34.

[8] Luik in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 58 SGB IX (Stand: 15.01.2018), Rn. 5 m. w. N.; Von Drygalski: Die Werkstatt für behinderte Menschen in der zweiten Staatenprüfung Deutschlands zur Umsetzung der UN- Behindertenrechtskonvention; Beitrag D11-2020 unter www.reha-recht.de; 13.05.2020. Schartmann: Alternativen zur Werkstatt für behinderte Menschen im Lichte des Bundesteilhabegesetzes – was kommt auf die Träger der Eingliederungshilfe zu? Beitrag D56-2016 unter www.reha-recht.de; 29.11.2016.

[9] Alexy, Theorie Der Grundrechte, Frankfurt a. Main, 8. Aufl.2018 S. 370 f. Der allgemeine Gleichheitssatz statuiert eine Argumentationslast für Ungleichbehandlungen, d.h. muss sich auf rationale gesetzgeberische Wertentscheidungen beziehen, die mit der Wertordnung des Grundgesetzes vereinbar sind. Vgl. zur sog. Neuen Formel Sachs/Nußberger, 9. Aufl. 2021, GG Art. 3 Rn. 13–24 m. w. N. Danach ist das Gleichheitsgrundrecht „vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“.

[10] Allein mit Kapazitätsgründen wird man willkürliche Ungleichbehandlungen, die dem Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit widersprechen, kaum rechtfertigen können. Auch ist das Kostenargument nur dann plausibel, wenn man den Blick auf die Sichtweise eines Trägers der sozialen Sicherung, nämlich der DRV, beschränkt und verliert viel an Überzeugungskraft, wenn man sich vor Augen hält, dass sich der durchschnittliche Erwerbsminderungszahlbetrag und durchschnittliche Leistungen nach dem SGB II (einschließlich Kosten der Unterkunft und Heizung) in vergleichbarer Größenordnung bewegen. Zwar ist ohne den Bezug einer Erwerbsminderungsrente nicht zwangsläufig (z. B. wegen Ehegatten bzw. Partnereinkommen) Bedürftigkeit nach dem SGB II gegeben, dafür ist der Verwaltungsaufwand im SGB II System höher.

[11] Zur Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung ,Positionspapier des Deutschen Sozialgerichtstages e.V. (DSGT) vom 15.10.2021 S. 12, abrufbar unter: https://www.sozialgerichtstag.de/wp-content/uploads/2021/11/2021-10-15_DSGT_Zukunft_Rente.pdf, zuletzt abgerufen am 30.08.2022, „Mit der Abschaffung der Berufsunfähigkeitsrente und der Einführung der abstrakten Betrachtungsweise in Form teilweiser oder voller Erwerbsminderung ist eine Sicherungslücke  geschaffen geworden, die landläufig mit dem Satz Zu krank zum Arbeiten, aber zu gesund für  die Rente‘ ganz treffend umschrieben wird.“

[12] Abrufbar unter https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf, zuletzt abgerufen am 30.08.2022.

[13]  Siehe hierzu Schmidt: Mit dem Budget für Arbeit zum inklusiven Arbeitsmarkt? – Teil I: Kritik an der rechtlichen Ausgestaltung des Budgets für Arbeit gemäß § 61 SGB IX; Beitrag D4-2021 unter www.reha-recht.de; 25.02.2022.

[14] Dies heißt aber nicht unbedingt, dass Erwerbsminderungsrentenfälle durch die Sozialgerichte dem BVerfG gemäß Art. 100 GG vorzulegen wären, denn das BVerfG verlangt insoweit die Darlegung, inwiefern eine Entscheidung für eine der in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten den Rahmen der Aufgabe der Rechtsanwendungsorgane, Zweifelsfragen zu klären und Auslegungsprobleme mit herkömmlichen juristischen Methoden zu bewältigen, sprengen würde. Es muss erkennbar sein, dass eine ausreichende Konkretisierung des Regelungsgehalts der Vorschrift im Wege der juristischen Auslegungsmethoden nicht möglich ist, BVerfG, Beschluss vom 6.10.2017 – 1 BvL 2/15 –, juris.

[15] Vgl. hierzu das Sanktionsurteil des Bundesverfassungsgerichts: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/11/ls20191105_1bvl000716.html, zuletzt abgerufen am 30.08.2022, das BVerfG war insoweit sichtlich irritiert : „Zwar hat der Gesetzgeber in § 55 SGB II vorgegeben, dass die Wirkungen der Leistungen zur Eingliederung und der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts regelmäßig und zeitnah zu untersuchen sind, doch liegt eine solche umfassende Untersuchung für sanktionierte Mitwirkungspflichten nach §§ 31, 31a, 31b SGB II nicht vor. Aus den sonstigen Studien und den Stellungnahmen in diesem Verfahren ergibt sich ein heterogenes, vielfach aber insbesondere zu den Wirkungen der Mitwirkungspflichten und der Sanktionen nicht durch tragfähige Daten gefülltes Bild“ (Rdnr. 57). Da anderseits durchaus Belege für gravierende Folgen von Sanktionen jenseits von 30 % des Regelsatzes vorlagen, hat es bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung (vgl. Rdnr 183 ff) dieses Eingriffs bloße Vermutungen oder Unterstellungen eines positiven Effektes der Sanktionen nicht mehr für ausreichend erachtet (vgl. RdNr. 193 ff), während wenigstens einige Studien vorlagen, nach denen die Beschäftigungswahrscheinlichkeit bei Personen, denen gegenüber eine erste Leistungsminderung in dieser begrenzten Höhe ausgesprochen wurde, jedenfalls grundsätzlich erhöht sein könnte.


Stichwörter:

Erwerbsfähigkeit, Deutsche Rentenversicherung (DRV), Budget für Arbeit, Teilhabestärkungsgesetz, Teilhabe am Arbeitsleben


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