19.10.2022 A: Sozialrecht Theben: Beitrag A15-2022

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte stärkt Recht auf Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – Anmerkung zu EGMR, Urteil vom 8. Februar 2022 Rs. Jivan vs. Rumänien (Beschwerde Nr. 62250/19)

Dr. Martin Theben stellt in diesem Beitrag eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vor und bespricht sie.

Der rumänische Beschwerdeführer machte vor dem EGMR erfolgreich geltend, dass er durch die Verwehrung einer persönlichen Assistenz infolge einer unzureichenden Beurteilung seiner Behinderung in seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) verletzt wurde. Dabei bemängelte der Gerichtshof unter anderem, dass die zuständige rumänische Behörde und das rumänische Berufungsgericht bei der Prüfung des Anspruchs auf eine persönliche Assistenz, die konkreten Lebensbedingungen, das Alter sowie das fehlende Unterstützungsnetzwerk des Beschwerdeführers nicht berücksichtigt haben.

In seiner Würdigung stellt Theben zunächst die grundsätzliche Bedeutung des Schutzes der Privatsphäre und des Familienlebens in der Rechtsprechung des EGMR dar und zieht anschließend seine Schlussfolgerungen der vorgestellten Entscheidung für das deutsche Recht. Dabei geht er auf verfahrens- sowie materiellrechtliche Aspekte ein.

(Zitiervorschlag: Theben: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte stärkt Recht auf Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – Anmerkung zu EGMR, Urteil vom 8. Februar 2022 Rs. Jivan vs. Rumänien (Beschwerde Nr. 62250/19); Beitrag A15-2022 unter www.reha-recht.de; 19.10.2022)


Der nachfolgende Beitrag nimmt eine sehr bedeutsame Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR)[1]  zum Teilhaberecht von Menschen mit Behinderungen in den Blick. Der in Rumänien angesiedelte Fall thematisiert die angemessene Bewertung einer Beeinträchtigung und der daraus resultierenden Folgen für die betroffene Person. Vor dem Hintergrund des in Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankerten Rechts auf Achtung der Privatsphäre gelangte der Gerichtshof im vorliegenden Fall zu dem Schluss, dass die rumänischen Behörden und Gerichte die Behinderung des Beschwerdeführers nicht angemessen bewertet hatten. Dadurch habe er nicht die erforderliche persönliche Assistenz erhalten, die er tatsächlich benötigte. Nach einer Darstellung der wesentlichen Kernelemente dieser Entscheidung wird das Urteil im Kontext der bundesrepublikanischen Rechtspraxis eingeordnet. Im Ergebnis wird die Ansicht vertreten, dass auch in der Bundesrepublik nicht nur medizinische, sondern auch soziale Aspekte bei der Gewährung von Teilhaberechten noch stärker berücksichtigt werden müssen. Dies gilt insbesondere auch im Rahmen der Bedarfsermittlung.

I. Zum Sachverhalt[2]

Dem im Jahr 1930 geborenen Beschwerdeführer wurde 2015 ein Bein amputiert. Infolge­dessen und aufgrund seines Alters war er bettlägerig geworden und auf umfassende Unterstützung angewiesen. Im Jahr 2017 stufte ihn die nach dem rumänischen Behindertengesetz zuständige Kommission als mittelschwer behindert ein. Zwei Jahre später begehrte der Beschwerdeführer die Anerkennung seiner Beeinträchtigung gemäß dem ADL-Index auf Grundlage des Behindertengesetzes als schwere Behinderung zur Erlangung persönlicher Assistenz. Das Bezirksgericht gab ihm Recht. Jedoch hob das Berufungsgericht die erstinstanzliche Entscheidung auf die Berufung der Kommission wieder auf. Die Einstufung der Beeinträchtigung als mittelschwer sei gerechtfertigt. Ab­zustellen, so das Gericht, sei allein auf die Beinamputation. Der Beschwerdeführer habe nicht nachgewiesen, dass er weitere Beeinträchtigungen körperlicher oder psychischer Art habe, die eine Einstufung als schwere Behinderung rechtfertigen würde. Weiter heißt es dann in der vom Gerichtshof wiedergegebenen Entscheidung:

„Das Gericht stellt fest, dass das Hauptleiden des Beschwerdeführers nicht zu den schweren, sondern zu den mittelschweren Behinderungen gehört. Entgegen der erst­instanzlichen Entscheidung ist das Gericht der Auffassung, dass der ADL-Index vom 27. Juni 2017, wonach [der Beschwerdeführer] ... sich in einem Zustand völliger Abhän­gigkeit befindet und eine persönliche Assistenz benötigt, und der Sozialbericht, wonach er Hilfe bei seinen täglichen Aktivitäten, bei der Einnahme von Medikamenten und beim Lebensmitteleinkauf benötigt, nicht ausreichen, um zu dem Schluss zu kommen, dass er eine schwere Behinderung hat und eine persönliche Assistenz benötigt, da sein Mobilitätszustand nicht zu denjenigen gehört, die gesetzlich unter diesen Behinderungs­grad fallen, und da die von der Kommission vorgenommene Beurteilung ein komplexer Prozess ist, der nicht nur soziale, sondern auch medizinische und psychologische Kriterien berücksichtigt.“[3]

Nachdem der Beschwerdeführer im Jahre 2020 verstorben war, führte dessen Sohn als Alleinerbe das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte fort. Gerügt wurde insbesondere ein Verstoß gegen Art. 8 der Europäischen Menschen­rechtskonvention unter dem Aspekt des dort gewährleisteten Schutzes der Privatsphäre.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

Zunächst wies der Gerichtshof unter Verweis auf seine eigene ständige Rechtsprechung die Rüge des Staates Rumänien zurück, der Sohn sei nicht befugt das Verfahren fortzuführen. Dabei stellt er weniger auf die Erbenstellung als vielmehr darauf ab, dass es sich um einen nahen Angehörigen handelt. Diese seien ohne weiteres berechtigt, zuvor eingelegte Beschwerden bei dem Gerichtshof weiterzuführen, wenn sie dies wünschten.

Sodann prüft der Gerichtshof, ob Art. 8 EMRK auf den vorliegenden Fall anwendbar ist. Wiederum auf seine Rechtsprechung abstellend, leitet der Gerichtshof aus dem Schutz der Privatsphäre das Recht auf Selbstbestimmung und Autonomie ab. Insbesondere für mobilitätsbeeinträchtigte Personen folge daraus die Pflicht der Vertragsstaaten, die Würde und den freien Willen der Betroffenen zu achten. Die rumänischen Behörden hätten dies im vorliegenden Fall nicht in ausreichender Weise getan:

„34. Im vorliegenden Fall waren die tatsächlichen körperlichen Beschwerden des Beschwerdeführers schwerwiegend: Er war alt, teilweise inkontinent, konnte sich nicht selbst fortbewegen und benötigte Hilfe bei seinen täglichen Aktivitäten […]. Es wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines Gesundheitszustands in Ver­bindung mit seinen Lebensumständen dauerhaft Unterstützung benötigt […]. Die inlän­dischen Behörden hätten somit Beurteilungen vornehmen sollen, die sich auf die persön­liche Autonomie und Würde des Beschwerdeführers und somit auf sein Recht auf Achtung des Privatlebens, wie es in Artikel 8 Abs. 1 der Konvention garantiert ist, aus­gewirkt hätten […].

35. Daher ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Weigerung, den Zustand des Beschwerdeführers als Schwerbehinderung mit der Notwendigkeit einer persönlichen Assistenz einzustufen, Auswirkungen auf sein in Artikel 8 Abs. 1 der Konvention garan­tiertes Recht auf Achtung des Privatlebens hätte haben können. Folglich ist Artikel 8 auf den Sachverhalt des vorliegenden Falles anwendbar.“[4]

Der Beschwerdeführer könne sich somit auf Art. 8 der Europäischen Menschenrechts­konvention berufen, da ein Verstoß gegen sein Recht auf Achtung der Privatsphäre zu besorgen sei. Die Beschwerde war danach zulässig.

Im Rahmen der Prüfung der Begründetheit beschreibt die vorliegende Entscheidung zunächst die allgemeinen Grundsätze des Art. 8 EMRK. Die Achtung der Privatsphäre schütze einzelne Personen nicht nur vor willkürlichen Eingriffen des Staates. Genauso folge aus Art. 8 EMRK auch die Verpflichtung der Staaten, Maßnahmen zu treffen, die Einzelnen etwa ermöglichen, Beziehungen mit anderen Personen zu pflegen. Sowohl für das Abwehrrecht der Einzelnen als auch für die Gestaltungspflicht des Staates gelte, dass zwischen den jeweils betroffenen Interessen abzuwägen sei. Dabei komme dem Staat ein Ermessensspielraum zu.

Sodann weist der Gerichtshof darauf hin, dass er in der Vergangenheit in Fällen bei denen es um medizinische Behandlung oder die Gewährung von Pflege ging, eine ent­sprechende Gestaltungspflicht des Staates gemäß Art. 8 EMRK anerkannt habe. Er sei nun auch im Falle der Vorenthaltung persönlicher Assistenz bereit, gleichermaßen eine Handlungspflicht des Staates zum Schutz der Privatsphäre anzuerkennen. Auch insoweit komme den Staaten ein Ermessensspielraum zu. Dieser verenge sich aber dann, wenn eine besonders schutzwürdige Gruppe wie Menschen mit Behinderungen in ihrem Recht auf Achtung der Privatsphäre verletzt sein. Konkret führt der Gerichtshof in seinen Entscheidungsgründen aus:

„Wenn eine Grundrechtsbeschränkung jedoch eine besonders schutzbedürftige Gruppe in der Gesellschaft betrifft, die in der Vergangenheit erheblich diskriminiert wurde (wie Menschen mit Behinderungen oder ältere abhängige Menschen), dann ist der Ermessensspielraum des Staates wesentlich enger und er muss sehr wichtige Gründe für die fraglichen Einschränkungen haben (…).“[5]

Diese allgemeinen Grundsätze auf den konkreten Fall übertragen, folge daraus zur Auslegung des rumänischen Behindertengesetzes, dass es bei der Beurteilung der Intensität einer Behinderung nicht nur auf medizinische Daten ankomme. Vielmehr müssten dabei weitere, soziale Indikatoren, die den Grad ihrer Autonomie und die konkreten Lebensumstände widerspiegeln, berücksichtigt werden.

Ergänzend verweist der Gerichtshof auf die entsprechenden Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK):

„44. Darüber hinaus erkennt die UN-BRK, zu deren Vertragsstaaten der beklagte Staat gehört, Menschen mit Behinderungen als vollwertige Rechtssubjekte und als Träger von Rechten an […]. Die UN-BRK fördert die Achtung der Würde, der individuellen Autonomie und der Unabhängigkeit.

45. Die in den Artikeln 19, 20 und 28 der UN-BRK enthaltenen Grundsätze sind für den vorliegenden Fall von besonderer Bedeutung. Der beklagte Staat hat als Vertragsstaat dieser Konvention die Gleichberechtigung aller Menschen mit Behinderungen und ihr Recht auf einen angemessenen Lebensstandard und sozialen Schutz anerkannt und sich dazu verpflichtet, wirksame und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderungen dabei zu helfen, unabhängig zu leben und in die Gemeinschaft einbezogen zu werden, und um ihre persönliche Mobilität zu gewährleisten […].“[6]

Sodann findet der Gerichtshof sehr deutliche Worte, um seine Entscheidung, der Staat Rumänien habe das Recht auf Achtung der Privatsphäre des Beschwerdeführers verletzt, abschließend zu begründen. Die Entscheidung der Kommission und des Beru­fungsgerichts, unter Berücksichtigung der Beinamputation und der daraus folgenden Einschränkungen, die persönliche Assistenz zu verweigern, stehe in krassem Gegen­satz zu den tatsächlichen und vom Beschwerdeführer auch dargelegten Lebens­umständen. All dies sei insbesondere vom rumänischen Berufungsgericht nicht berücksichtigt worden:

„49. Insbesondere das Recht des Beschwerdeführers auf Autonomie und die Achtung seiner Würde scheint in den fraglichen nationalen Beurteilungen (Bescheinigung der Kommission oder Entscheidung des Berufungsgerichts) nicht berücksichtigt worden zu sein. Seine Lebensbedingungen und das fehlende Unterstützungsnetzwerk – z. B. durch Nachbarn oder seine Familie – wurden in diesen Entscheidungen ebenfalls nicht erwähnt. Außerdem berücksichtigten die Behörden weder das Alter des Beschwerde­führers noch die Tatsache, dass er sein Bein erst im Alter von 85 Jahren verlor […]. Die Auswirkungen, die eine solch drastische Veränderung auf das Leben eines alten Menschen hat, wurden in den nationalen Beurteilungen ebenfalls nicht erwähnt. Die angefochtenen Entscheidungen enthielten keine Erklärung für die offensichtlichen Diskrepanzen zwischen der besonderen Situation des Beschwerdeführers, die durch mangelnde Autonomie und Unterstützung gekennzeichnet war, und der Feststellung, dass er nach innerstaatlichem Recht keinen Anspruch auf eine persönliche Assistenz habe. Infolge dieser Entscheidungen war der Beschwerdeführer auf sich allein gestellt, und die Behörden boten keine alternativen praktischen Maßnahmen an, um die für ihn erforderliche dauerhafte Unterstützung sicherzustellen.“[7]

Die Beschwerde wegen Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf Achtung der Privatsphäre nach Art. 8 EMRK war damit auch begründet!

Zudem sprach der Gerichtshof, dessen Entscheidung einstimmig ergangen war, dem Sohn des Beschwerdeführers eine Entschädigung in Höhe von 8000 € zu.

3. Würdigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs – Grundsätz­liche Bedeutung des Schutzes der Privatsphäre und des Familienlebens in der Rechtsprechung des EGMR

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte leitet aus dem Schutz der Privat­sphäre und des Familienlebens grundsätzlich einen umfassenden Teilhabeanspruch von Menschen mit Behinderungen ab. Allerdings wird dieses Teilhaberecht durch die Voraussetzung eingegrenzt, dass die jeweils betroffenen Beschwerdeführenden einen hinreichend konkreten Individualbezug darlegen müssen. In der hier besprochenen Entscheidung gelang dies. In anderen Entscheidungen des Gerichtshofes – beispiels­weise dort, wo es um den fehlenden Zugang zu öffentlichen Orten ging, lehnte das Gericht in zwei Entscheidungen mit eben dieser Begründung die Beschwerden als unzulässig ab.[8]

Andererseits wies der EGMR in der bereits zitierten, ablehnenden Entscheidung Molka vs. Polen[9], in der es um barrierefreie Wahllokale ging, nochmal ganz grundsätzlich daraufhin, dass aus dem Schutz der Privatsphäre die Verpflichtung des jeweiligen Staates folge, angemessene Vorkehrungen für die Mobilität und die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Dieser Grundsatz, wonach aus Art. 8 EMRK eben nicht nur ein Abwehrrecht gegen willkürliche staatliche Eingriffe, sondern auch ein umfassender Handlungsauftrag folgt, ist ständige Rechtsprechung des Gerichtshofes. Schon in seiner Entscheidung X. und Y. vs. Niederlande vom 26. März 1985[10] – betreffend die Anzeigerechte einer Frau mit Lernschwierigkeiten, die Opfer einer Vergewaltigung geworden war – betonte es die Verpflichtung des Staates, wirksame Maßnahmen zum Opferschutz zu gewährleisten. Das aus Art. 8 EMRK folgende Recht auf angemessene Beteiligung auch im verfahrensrechtlichen Sinne für Menschen mit Lernschwierigkeiten thematisiert auch die Entscheidung Kutzner vs. Bundesrepublik Deutschland vom 26. Februar 2002.[11] Den Beschwerdeführern war zu Unrecht das Sorgerecht entzogen worden, da die Behörden Zweifel an den intellektuellen Fähigkeiten der Sorgeberechtigten hatten. Hier rügte der Gerichtshof mangelnde Sachverhaltsaufklärung der staatlichen Behörden und Gerichte.

IV. Schlussfolgerungen aus der Entscheidung Jivan vs. Rumänien

Zusammenfassend gebietet Art. 8 EMRK in verfahrensrechtlicher Hinsicht die angemes­sene, ggf. mittels entsprechender Vorkehrungen zu gewährleistende, Beteiligung von Menschen mit Behinderungen, insbesondere von Menschen mit Lernschwierigkeiten oder psychischen Erkrankungen. Diese Beteiligungsrechte sind auf Angehörige, Ehe­partner oder – wie in der hier zu erörternden Entscheidung – auf Erben zu erweitern.[12] Für Verfahrensordnungen in der Bundesrepublik kann dies bedeuten, dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, Lernschwierigkeiten oder Personen mit autistischen Beeinträchtigungen notwendige Rechtsassistenz zur Verfügung gestellt wird. Sie müs­sen in die Lage versetzt werden, gerade in betreuungsrechtlichen Verfahren stärker ihre eigene Position vertreten zu können. Rechtsanwälte oder Verfahrenspfleger neigen sehr häufig, wenngleich sicher im wohlverstandenen Interesse, dazu, die Interessen der betroffenen Personen dann doch über deren Köpfe hinweg zu vertreten. Jedenfalls gebietet die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 die deutliche Stärkung der Verfahrens­rechte von Menschen mit Behinderungen.[13]

Außerdem folgt aus Art. 8 EMRK auch die Verpflichtung staatlicher Behörden und Gerichte, in streitigen Verfahren umfassend und an den Bedürfnissen des Betroffenen orientiert zu ermitteln. Allzu sehr standardisierende oder schematisch-abstrakt scheinen­de Bedarfsermittlungsverfahren, wie sie teilweise nach dem BTHG vorgesehen sind, mögen da kontraindiziert sein.[14] Sie wirken dann auf viele Betroffene oder deren An­gehörige eher abschreckend.[15] Niederschwellige und ergebnisoffene kleine Gesprächs­runden, die den tatsächlichen Bedarfen und Bedürfnissen der Teilhabeberechtigten Raum geben, werden einer tatsächlichen Bedarfsermittlung dann gerechter als wissenschaftlich durchkonzeptionierte Settings, an deren Entwicklung Menschen mit Behinderungen oft nur partiell oder gar nicht beteiligt gewesen sind.[16]

In materieller Hinsicht fordert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum Schutz der Privatsphäre und des Familienlebens nicht nur, willkürliche staatliche Maßnahmen zu unterlassen. Vielmehr sind die Konventionsstaaten gehalten, konkrete und angemessene Vorkehrungen zu treffen, um die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen umfassend zu gewährleisten. Diese Verpflichtung be­schränkt sich nicht nur auf soziale Transferleistungen oder den Zugang zu Beratungs- und Unterstützungssystemen. Der Europäische Menschengerichtshof spricht Menschen mit Behinderungen regelmäßig das Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung zu. Diese Rechte dürfen zwar auch unter fiskalischen Gesichtspunkten beschränkt, mehrere Alternativen bereitgehalten werden. Aber vorenthalten werden dürfen diese Rechte unter keinem denkbaren Gesichtspunkt, dies ist das in ständiger Rechtsprechung klare Dictum des Europäischen Gerichtshofs.

Dieser so hergeleitete Teilhabeanspruch wird nach der Entscheidung Jivan vs. Rumänien zusätzlich durch die Art. 19 (Wohnen), Art. 20 (Mobilität) und Art. 28 (angemessener Lebensstandard) der UN-BRK flankiert. So ergibt sich ein umfassender Katalog an menschenrechtlich basierten Teilhaberechten, die verfahrens- und materiell-rechtlich weitreichende Folgen mit sich bringen. Diese Rechtsprechung und die aus ihr erwach­sene Dogmatik bestärken all jene Stimmen, die sich seit der Ratifizierung der UN-BRK im Jahre 2009 in der Bundesrepublik für eine zwingend gebotene Kursänderung, insbesondere im noch immer stark am Sozialstaatsprinzip orientierten sozialen Reha­bilitationsrecht, ausgesprochen haben.[17]

Die aktuelle Entscheidung des EGMR Jivan vs. Rumänien bietet weitreichende Möglich­keiten für Verwaltung, Justiz und Gesetzgebung, menschenrechtsbasierter Teilhabe­politik für Menschen mit Behinderungen weiter zum Durchbruch zu verhelfen.

Beitrag von Martin Theben, Rechtsanwalt

Fußnoten:

[1] EGMR, Urteil vom 08.02.2022 – 62250/19, abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-215475, zuletzt abgerufen am 20.09.2022. Im Folgenden wird auf die im Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht veröffentlichte, nichtamtliche deutsche Übersetzung von SprachUnion (Katharina Schiffmann) Bezug genommen, abrufbar unter https://www.reha-recht.de/fileadmin/user_upload/RehaRecht/Infothek/Internationales/2022/EGMR_Rechtssache_Jivan_gegen_Rum%C3%A4nien_deutsche_nichtamtliche_%C3%9Cbersetzung.pdf, zuletzt abgerufen am 20.09.2022.

[2] Siehe auch die Ankündigung der Entscheidung im Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, abrufbar unter https://www.reha-recht.de/infothek/beitrag/artikel/egmr-verweigerung-persoenlicher-assistenz-infolge-unzureichender-beurteilung-einer-behinderung-kann, zuletzt abgerufen am 20.09.2022.

[3] EGMR: Rechtssache Jivan gegen Rumänien (s. Fn. 1), Rz. 17.

[4] EGMR: Rechtssache Jivan gegen Rumänien (s. Fn. 1), Rz. 34 f.

[5] EGMR: Rechtssache Jivan gegen Rumänien (s. Fn. 1), Rz. 42.

[6] EGMR: Rechtssache Jivan gegen Rumänien (s. Fn. 1), Rz. 44 f.

[7] EGMR: Rechtssache Jivan gegen Rumänien (s. Fn. 1), Rz. 49.

[8] EGMR, Urteil vom 24.02.1998 – 21439/93 (Botta vs. Italien, Zugang zum Strand), eine deutschsprachige Zusammenfassung ist abrufbar unter https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Justiz/JJT_19980224_AUSL000_000BSW21439_9300000_000/JJT_19980224_AUSL000_000BSW21439_9300000_000.pdf; EGMR, Urt. vom 14.05.2002 – 38621/97 (Zehnalova und Zehnal vs. Tschechien, Zugang zu öffentlichen Gebäuden), im Englischen abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-23341; EGMR, Urteil vom 11.04.2006 – 56550/00 (Molka vs. Polen, Zugang zum Wahllokal), im Englischen abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int/fre?i=002-3330.

[9] S. Fn. 9.

[10] EGMR, Urteil vom 26.03.1985 – 8978/80 (X. u. Y. vs. Niederlande), eine nicht amtliche deutsche Übersetzung ist abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int/app/conversion/pdf/?library=ECHR&id=001-188524&filename=
CASE%20OF%20X%20AND%20Y%20v.%20THE%20NETHERLANDS%20-%20%5B
German%20Translation%5D%20summary%20by%20N.%20P.%20Engel%20Verlag.pdf
.

[11] EGMR, Urteil vom 26.02.2002 – 46544/99 (Kutzner vs. Bundesrepublik), abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int/eng-press?i=003-506683-508039; so auch EGMR, Urteil vom 18.12.2008 (Saviny vs. Ukraine), im Englischen abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int/fre?i=002-1790 und EGMR, Urteil vom 08.01.2013 – 37956/11 (A. K. und L. vs. Kroatien), im Englischen abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=002-7389.

[12] Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung des EGMR bestehen erhebliche Bedenken, dass § 62 FamFG mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und insbesondere mit Art. 8 zu vereinbaren ist. Es ist beispielsweise aufgrund des verfassungsrechtlichen Schutzes des (post mortalem) Persönlichkeitsrechts konventionsrechtlich geboten, den in § 303 Abs. 2 FamFG bezeichneten Personen zu gestatten die Beschwerde bei zu Unrecht eingerichteter gesetzlicher Betreuungen fortzuführen; anders aber BGH, Beschluss vom 24.10.2012 – XII ZB 404/12, abrufbar unter https://www.rechtsportal.de/pdf/3979436, zuletzt abgerufen am 20.09.2022.

[13] Vgl. dazu auch Hahn, Mattern: „Der Zugang zur Justiz für Menschen mit Behinderungen – Artikel 13 der UN-Behindertenrechtskonvention“ – Bericht zum virtuellen Fachgespräch der Aktion Mensch und des Deutschen Instituts für Menschenrechte am 22. März 2022; Beitrag D8-2022 unter www.reha-recht.de; 27.04.2022 , S. 3 ff.

[14] S. dazu beispielsweise BAR (2021): Bundesteilhabegesetz kompakt „Bedarfsermittlung“, S. 15 ff., abrufbar unter https://www.bar-frankfurt.de/fileadmin/dateiliste/_publikationen/
reha_grundlagen/pdfs/BTHGKompaktBedarfsermittlung.pdf
, zuletzt abgerufen am 20.09.2022; Gromann, Der Integrierte Teilhabeplan „ITP“ als Bedarfsermittlungsinstrument in mehreren Bundesländern, Umsetzungsbegleitung BTHG, abrufbar unter https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/w/files/links-und-downloads/gromann-einfuehrung-itp-in-mehreren-bundeslaendern.pdf, zuletzt abgerufen am 20.09.2022; Fuchs: Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs – Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes; Beitrag D50-2017 unter www.reha-recht.de, 10.11.2017, S. 3 ff.

[15] So umfasst der Bedarfsermittlungsbogen des Berliner Teilhabeinstruments mehr als 30 Seiten (!), s. Teilhabeinstrument Berlin (TIB), abrufbar unter https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/w/files/umsetzungsstand/teilhabeinstrument-berlin-tib-version-1.0.pdf, zuletzt abgerufen am 20.09.2022.

[16] Zu den Anforderungen der Rechtsprechung an die Bedarfsermittlung etwa bei Leistungen des Persönlichen Budgets vgl. z.B. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 17.11.2020 – L 8 SO 132/20 B ER, abrufbar unter https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/legacy/214980#suchwort=Bedarfsermittlung, zuletzt abgerufen am 20.09.2022.

[17] Vgl. z. B. Frankenstein: Teilhabe durch barrierefreie Informationstechnik – Grundverständnis und Perspektiven; Beitrag A1-2021 unter www.reha-recht.de; 13.01.2022 ; Nebe, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben – Zuständigkeit und Verantwortlichkeit, Sozialrecht aktuell, Sonderheft 2014, S. 1 ff.; Rickli, Wiegmann, Begründung einer einkommens- und vermögensunabhängigen Eingliederungshilfe anhand der UN-Behindertenrechtskonvention, Sozialrecht aktuell, 2/2014, S. 45 ff; Theben: Artikel 19 UN-BRK – Segen und Verheißung; Beitrag A5-2019 unter www.reha-recht.de; 04.04.2019.


Stichwörter:

Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Persönliche Assistenz, Feststellungsverfahren, Beteiligungsrechte, Selbstbestimmung


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