15.08.2019 A: Sozialrecht Schülle, Frankenstein: Beitrag A16-2019

Europa- und verfassungsrechtliche Anforderungen an die Auslegung von § 6 Abs. 1 AsylbLG in Hinblick auf Leistungen für geflüchtete Menschen mit Behinderungen – Anmerkungen zu LSG Hessen, Beschl. vom 11.07.2018 – L 4 AY 9/18 B ER und LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. vom 01.02.2018 – L 8 AY 16/17 B ER

Anhand von zwei aktuellen Landessozialgerichtsentscheidungen stellen Mirjam Schülle und Arne Frankenstein die Bedeutung europa- und verfassungsrechtlicher Vorschriften für die Auslegung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) für geflüchtete Menschen mit Behinderungen dar. Die Entscheidungen machten deutlich, dass sich eine restriktive Auslegung von § 6 Abs. 1 AsylbLG als Ausnahme für atypische Fälle nicht weiter aufrechterhalten lasse. Vielmehr seien darüber hinaus weitere menschenrechtliche Gesichtspunkte, die sich u.a. aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergeben, bei der Auslegung zu berücksichtigen. Nur durch eine konsequente Anwendung dieser Maßstäbe im Rahmen der behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen könnten den Leistungsberechtigten in allen Stadien ihres Aufenthalts eine medizinische Versorgung sowie Teilhabeleistungen zuteilwerden, die mit der Menschenwürde vereinbar sind.

(Zitiervorschlag: Schülle/Frankenstein: Europa- und verfassungsrechtliche Anforderungen an die Auslegung von § 6 Abs. 1 AsylbLG in Hinblick auf Leistungen für geflüchtete Menschen mit Behinderungen – Anmerkungen zu LSG Hessen, Beschl. vom 11.07.2018 – L 4 AY 9/18 B ER und LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. vom 01.02.2018 – L 8 AY 16/17 B ER; Beitrag A16-2019 unter www.reha-recht.de; 15.08.2019)

I. Thesen der Autorin und des Autors

  • § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG ist die Schlüsselvorschrift, um die medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderungen im Leistungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) menschenwürdegerecht sicherzustellen.
  • Die Tatbestandsmerkmale der Unerlässlichkeit und der Sicherung der Gesundheit in § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG sind wegen Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG weit auszulegen.
  • Das gesundheitliche Existenzminimum entspricht dem Niveau von Leistungen nach dem SGB V bzw. SGB XII, solange der Gesetzgeber nicht evidenzbasiert nachweisen kann, dass sich ein Minderbedarf aus der konkreten Situation von leistungsberechtigten Personen nach dem AsylbLG ergibt. Hierbei ist auch von Bedeutung, ob die heterogene Gruppe der potenziell Leistungsberechtigten insgesamt hierunter zu fassen sein kann oder ob Unterscheidungen geboten sind.
  • Für Personen, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2013/33/EU fallen, ergibt eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG, dass sie Anspruch auf die erforderliche medizinische und sonstige Hilfe haben, die jedenfalls mindestens niveauäquivalent ist zum Leistungsumfang des SGB V oder SGB XII.
  • Das bisherige Regelungsregime des AsylbLG ist unzureichend, um gleichwertigen Schutz aller leistungsberechtigten Personen zu erreichen. Solange der Gesetzgeber nicht tätig wird, können sich in Abhängigkeit zur Möglichkeit der Rechtsmobilisierung schwerwiegende Grundrechtsverletzungen verwirklichen.
  • Die hier besprochenen Entscheidungen übertragen die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vom 18. Juli 2012[1] für § 3 Abs. 1 AsylbLG entwickelten Grundsätze folgerichtig auf § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG und markieren in ihrer Deutlichkeit einen überfälligen Schritt, um geflüchteten Menschen[2] mit Behinderungen in allen Stadien ihres Aufenthalts eine medizinische Versorgung sowie Teilhabeleistungen zuteilwerden zu lassen, die mit der Menschenwürde vereinbar sind.
  • Bis der Gesetzgeber tätig wird, sind die Verwaltungen und die sie überprüfenden Gerichte aufgefordert, die Rechte der leistungsberechtigten Personen im Sinne der unions-, verfassungs- und menschenrechtlichen Vorgaben zu schützen und ihnen zur Durchsetzung zu verhelfen.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidungen

  • Die Ausgestaltung der Ansprüche auf Gesundheits- und Rehabilitationsleistungen in den §§ 4, 6 AsylbLG begegnen sowohl unionsrechtlichen als auch verfassungsrechtlichen Bedenken (LSG Hessen, Rn. 26).
  • Die Öffnungsklausel des § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG ist sowohl verfassungskonform als auch unionsrechtskonform auszulegen (LSG Hessen, Rn. 28).
  • Die weite Auslegung ist grundrechtlich geboten, da der unmittelbare Leistungsanspruch auf Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG auch die physische Existenz des Menschen betrifft und sich daher auf die Gewährung von Leistungen für die Gesundheit erstreckt (LSG Hessen, Rn. 32).
  • Grundsätzlich ist das nach dem SGB XII vom Gesetzgeber festgelegte Leistungsniveau der Hilfen bei Gesundheit der §§ 47 ff. SGB XII bzw. nach dem SGB V als Existenzminimum sicherzustellen, soweit der Gesetzgeber nicht nach objektivierbaren Grundsätzen Minderbedarfe festgestellt und leistungsrechtlich geregelt hat (LSG Hessen, Rn. 33).
  • Anders als das SGB XII differenziert § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG nicht zwischen Gesundheitsleistungen im engeren Sinne und sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfeleistungen. Letztere sind nach dieser Vorschrift nicht von vornherein ausgeschlossen und können ausnahmsweise – insbesondere für behinderte Kinder – erbracht werden (LSG Niedersachsen-Bremen, Leitsatz 4.).
  • Seit Ablauf der Umsetzungsfrist der RL 2013/33/EU am 21.07.2015 ist § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG dahingehend richtlinienkonform auszulegen, dass Asylsuchende mit besonderen Bedürfnissen nach Art. 19 Abs. 2 bis 25 der RL 2013/33/EU während der Dauer ihres Asylverfahrens einen Anspruch auf die „erforderliche medizinische und sonstige Hilfe“ (entsprechend § 6 Abs. 2 AsylbLG) haben (LSG Niedersachsen-Bremen, Rn. 29).
  • Die Schutzplichten und Leistungsansprüche aus Art. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG führen nicht zu einem niedrigeren Leistungsniveau bei Gesundheitsleistungen als die europaweit geltenden Mindeststandards für Flüchtlinge nach der RL 2013/33/EU (LSG Hessen, Rn. 36).

III. Die Sachverhalte

1. LSG Hessen, Beschl. vom 11.07.2018 – L 4 AY 9/18 B ER

Die Beteiligten stritten im Rahmen des Eilrechtsschutzes um die Kostenübernahme einer antiviralen Hepatitis C-Therapie nach § 6 AsylbLG.

Der Antragsteller lebt seit Dezember 2015 in Deutschland (Hessen/Landkreis Fulda), hat eine Aufenthaltsbefugnis aus humanitären Gründen – kein Asyl – beantragt und erhält seitdem befristete Duldungen. Im Juli 2016 beantragte der Mann Leistungen nach § 3 (Grundleistungen), § 4 (Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt) sowie § 6 (Sonstige Leistungen) nach dem AsylbLG beim Antragsgegner, dem zuständigen Landkreis Fulda. Die Leistungen nach den §§ 3, 4 AsylbLG wurden gewährt, die nach § 6 AsylbLG hingegen abgelehnt.

Ende Oktober 2016 legte der Antragsteller der Sozialbehörde einen Befundbericht einer internistisch-gastroenterologischen Praxis vor, in dem eine chronische Hepatitis C-Infektion diagnostiziert wurde. Im Dezember 2016 lehnte die Behörde – nach amtsärztlicher Stellungnahme des örtlichen Gesundheitsamtes – den Antrag auf Kostenübernahme einer Therapie ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass weder die Voraussetzungen des § 4 AsylbLG noch die des § 6 AsylbLG erfüllt seien.

Nachdem der Antragsteller im Januar 2017 Widerspruch eingelegt hatte, brachte er eine weitere fachärztliche Bescheinigung zur Behandlung der Hepatitis C-Infektion bei. Der Antragsgegner wertete dies als Neuantrag und wandte sich zunächst an das zuständige Gesundheitsamt, welches eine Zusatzbegutachtung empfahl. In dem hierauf folgenden Zweitgutachten wurde das Vorliegen der chronischen Hepatitis C-Infektion bestätigt. Es bestehe eine „klare Indikation“ für eine Therapie mit neuen antiviralen Medikamenten, die Heilungschance betrage 90 %.

Vor dem Sozialgericht hielt der Antragsgegner an seiner Argumentation fest. Es fehle an einem akuten Schmerzzustand und die Behandlung sei nicht unerlässlich i. S. d. § 6 AsylbLG. Zudem behauptete die Behörde, dass der Antragsteller nach Deutschland eingereist sei, um Leistungen der Krankenhilfe zu erhalten, was den Leistungsanspruch ausschließe.

Das Sozialgericht (SG) Fulda[3] hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 18. Juni 2018 verpflichtet, vorläufig die notwendigen Kosten für die antivirale Therapie des Antragstellers zu übernehmen. Das SG stützte sich hierbei auf die Entscheidung des BVerfG vom 18. Juli 2012, wonach die Norm verfassungskonform auszulegen sei und Leistungen nicht unter das Existenzminimum fallen dürften. Es kam daher zu dem Schluss, dass das Niveau der Gesundheitsleistungen als gesundheitliches Existenzminimum weitgehend dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V) zu entsprechen habe.

Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Antragsgegners ist Gegenstand der hier besprochenen Entscheidung.

2. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. vom 01.02.2018 – L 8 AY 16/17 B ER

Streitig war die Übernahme von Kosten für ambulant betreutes Wohnen aufgrund einer schwerwiegenden psychischen Beeinträchtigung als Leistung nach dem Eingliederungshilferecht des SGB XII bzw. nach § 6 AsylbLG.

Die Antragstellerin lebt seit 1999 in Deutschland. Zunächst besaß sie eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, der Antrag auf Verlängerung wurde 2010 mangels Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt selbst zu sichern, abgelehnt. Aufgrund der bevorstehenden Abschiebung unternahm sie im Oktober 2010 einen Suizidversuch. Kurz danach wurde sie mit einer rezidivierenden depressiven Störung mit suizidaler Dekompensation in einem Klinikum stationär behandelt. Im Dezember 2011 wurde die damals schwangere Antragstellerin in einem Klinikum mit einer schweren depressiven Episode mit psychosomatischen Symptomen und dem Verdacht einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) aufgenommen. Im Februar 2012 gebar sie eine Tochter und erhielt in der Folgezeit aufenthaltsrechtliche Duldungen. Für die Antragstellerin war seit August 2012 eine umfassende Betreuung eingerichtet, da sie in erheblicher Weise seelisch beeinträchtigt ist und ihre Angelegenheiten daher aus eigener Kraft nicht besorgen kann. Im Jahr 2015 stellte sie einen Asylantrag, aufgrund dessen ihr im Oktober 2017 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde.

Während des laufenden Asylantrages hatte die Frau bei der zuständigen Behörde (Antragsgegner) im November 2015 die Kostenübernahme der streitgegenständlichen ambulanten Betreuung beantragt. Zwei psychiatrische Gutachten kamen zu dem übereinstimmenden Ergebnis, dass diese wegen der psychosozialen Gesundheit der Familie und aus medizinischer Sicht unerlässlich ist. Der Antragsgegner übernahm daraufhin die Kosten für die erbrachten ambulanten Betreuungsleistungen – bis dahin von einem Verein vorgestreckt – von April bis September 2016. Strittig sind seitdem die ungedeckten Kosten ab Oktober 2016.

Die Antragstellerin beantragte im März 2017, vertreten durch ihren Betreuer, beim SG Hildesheim wegen der ungeklärten Kostenfrage eine einstweilige Anordnung. Das SG hat den Eilantrag mit der Begründung abgelehnt, es bestehe kein streitiges Rechtsverhältnis, da die Antragstellerin die Leistungen nicht beantragt habe und den Bescheid des Antragsgegners nicht angefochten habe. Diese Ansicht teilte der Antragsgegner und führte in der Sache zudem aus, dass sich der Anspruch insbesondere (auch) nicht aus § 6 Abs. 1 Satz 1, 2 Alt. AsylbLG ergebe, weil die ambulanten Betreuungsleistungen nicht zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich seien. Insoweit gelte nach § 6 AsylbLG ein anderer rechtlicher Maßstab als bei Eingliederungshilfeleistungen, die neben der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung nicht zu bewilligen seien (nach LSG NS-B, Rn. 9).

Hiergegen hat die Antragstellerin vor dem LSG Niedersachsen-Bremen Beschwerde eingelegt, die Entscheidung ist Gegenstand der vorliegenden Besprechung.

IV. Die Entscheidungen und Begründungen

Beide Entscheidungen ergingen im einstweiligen Rechtsschutz, was für die Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG insoweit typisch ist, als die Bedarfsunterdeckung spätestens mit fortschreitender Dauer regelmäßig dringlich ist, häufig auch existenziell. Im Eilrechtsschutz sind die Gerichte auf eine summarische Prüfung begrenzt.

1. Die Bedeutung des aufenthaltsrechtlichen Status für Sozialleistungen

Der sozialrechtliche Schutz steht in engem Zusammenhang mit dem aufenthaltsrechtlichen Status. Für geflüchtete Menschen mit Behinderungen, die noch keinen gesicherten Aufenthaltsstatus erlangt haben, greift das AsylbLG. Leistungen nach dem AsylbLG erhalten nicht nur geflüchtete Menschen während des Asylverfahrens, sondern auch Personen, die sich nach § 23 ff. Aufenthaltsgesetz aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen vorübergehend im Bundesgebiet aufhalten. Auch fallen hierunter Personen, die beispielsweise nach Ablehnung eines Asylantrags dem Grunde nach ausreisepflichtig sind, aber deren Aufenthalt geduldet wird oder deren Ausreise nicht möglich ist.

Personen, die sich ohne wesentliche Unterbrechung länger als 15 Monate im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben, erwächst nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ein Anspruch auf sog. Analogleistungen. Diese führen zur weitgehenden Gleichbehandlung mit Inländern.[4]

2. Das Sozialrecht nach dem AsylbLG für Menschen mit Behinderungen

Neben dem in § 3 AsylbLG kodifizierten Anspruch auf Deckung des notwendigen persönlichen Bedarfs an Unterkunft, Verpflegung, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege und Ge- und Verbrauchsgütern des Haushalts tritt der in § 4 AsylbLG normierte Anspruch auf medizinische Grundversorgung. Demnach sollen die Leistungen nur das Erforderliche in Bezug auf die Behandlung akuter Krankheiten und Schmerzzustände umfassen. Dazu gehört ebenso die Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie die Versorgung mit sonstigen zur Genesung, Besserung oder Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen beitragenden Mitteln. Dies schließt auch gebotene Vorsorgeleistungen bei Schwangerschaft, Geburt und Schutzimpfungen mit ein.

Beide vorliegenden Entscheidungen haben die geltend gemachten Ansprüche aus § 6 Abs. 1 AsylbLG zugesprochen und dabei die grundrechtliche und unionsrechtliche Relevanz bei der Auslegung der Vorschrift ausdrücklich in den Vordergrund gestellt. Sie spiegeln die Bedeutung der Vorschrift für Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz mit Behinderung und tragen dem Umstand Rechnung, dass auf Behinderungen als besondere Schutzbedürfnisse im AsylbLG nicht Bezug genommen wird.

Während die Entscheidung des LSG Hessen dem Antragsteller eine Gesundheitsleistung im engeren Sinne, nämlich die antivirale Behandlung einer chronischen Hepatitis C, zusprach, hat das LSG Niedersachsen-Bremen der Antragstellerin Eingliederungshilfe in Gestalt von drei Fachleistungsstunden zugesprochen, sie jedoch unter den Tatbestand der Sicherung der Gesundheit subsumiert, da ohne entsprechende Assistenzleistungen eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu besorgen gewesen sei (LSG Niedersachsen-Bremen, Rn. 28).

3. Die Öffnungsklausel in § 6 Abs. 1 AsylbLG: Leistungen zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich: Auslegungskriterien

Die Vorschrift des § 6 Abs. 1 Satz 1 unterscheidet auf Tatbestandsebene vier unterschiedliche, ausdrücklich benannte Bedarfslagen, die jedoch nicht abschließend („insbesondere“) zu verstehen sind. Sonstige Leistungen, also solche, die nicht bereits aufgrund der teilweise pauschaliert gewährten Leistungen aus den §§ 2–5 AsylbLG erbracht werden, können demnach insbesondere gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich sind, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind.

Für die Frage, ob und in welchem Umfang ein Anspruch besteht, wird durch die Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe, wie „zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich“, wenig Rechtsklarheit gewonnen, wenn mit Blick auf das menschenwürdige Existenzminimums auf Synonyme wie „unumgänglich“ oder „unverzichtbar“ zurückgegriffen wird.[5] Demgemäß orientieren sich beide Entscheidungen an Kriterien, die der Relevanz der Vorschrift im sozialen Sicherungssystem Rechnung tragen und ihren Bedeutungsgehalt zu konturieren versuchen.

a. Grundrechtsrelevanz

Beide Entscheidungen betonen, dass § 6 Abs. 1 AsylbLG eine Öffnungsklausel im pauschalierten Leistungssystem des AsylbLG ist. Der Vorschrift hat demnach eine zentrale Funktion, um strukturelle Leistungsdefizite zu kompensieren und den betroffenen Personen zu einer menschenwürdigen Existenz zu verhelfen.[6]

Das LSG Hessen stellt klar, dass die Vorschrift ein menschenwürdiges Existenzminimum abzusichern hat. Der unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG hervorgehende Leistungsanspruch auf Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums betrifft nach dem Urteil des LSG Hessen auch die physische Existenz des Menschen und erstreckt sich auf Leistungen für die Gesundheit.[7] Der Wortlaut der Vorschrift ist aus verfassungsrechtlicher Sicht bedenklich, lässt aber eine Auslegung zu, die mit der Verfassung vereinbar ist.

Die Landessozialgerichte betonen mithin, dass sich der Leistungsumfang am Existenzminimum zu orientieren hat, das verfassungsrechtlich abgesichert ist. Der Gesetzgeber kann zwar bei der Festlegung eines menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten einzelner Personengruppen berücksichtigen. Eine Abweichung nach unten ist jedoch nur dann möglich, wenn auf Grundlage eines transparenten Verfahrens festgestellt worden ist, dass bei dieser Personengruppe ein signifikant abweichender geringerer Bedarf besteht, der das erforderliche Existenzminimum absichert. Lassen sich tatsächlich spezifische Minderbedarfe bei einem nur kurzfristigen, nicht auf Dauer angelegten Aufenthalt feststellen, und will der Gesetzgeber die existenznotwendigen Leistungen für eine Personengruppe deshalb gesondert bestimmen, muss er sicherstellen, dass die gesetzliche Umschreibung dieser Gruppe hinreichend zuverlässig nur diejenigen erfasst, die sich regelmäßig nur kurzfristig in Deutschland aufhalten. Dies lässt sich zu Beginn des Aufenthalts nur anhand einer Prognose beurteilen.[8]

Da der Gesetzgeber eine entsprechende Regelung nicht geschaffen hat, ist in Anschluss an die Rechtsprechung des BVerfG[9] davon auszugehen, dass das Leistungsniveau äquivalent sein muss mit § 47 ff. SGB XII oder dem SGB V und zur Grundlage des Leistungsumfangs nach § 6 Abs. 1 AsylbLG zu machen ist.

Gleichzeitig stellt das LSG Hessen dar, dass die Vorschrift die Grenze der Verfassungswidrigkeit nicht erreicht. Eine Vorlageverpflichtung nach Art. 100 Abs. 1 GG bestehe insoweit nicht, da über § 6 Abs. 1 das dem SGB XII und SGB V äquivalente Leistungsniveau hergestellt werden kann, das die Absicherung der menschenwürdigen Existenz ermöglicht. Auch wird die Grenze der unzulässigen Rechtsfortbildung nicht erreicht, da ein entsprechender Wille des Gesetzgebers nicht klar erkennbar sei.[10] Im Übrigen habe die Bundesregierung die Verwaltung aufgefordert, über die Öffnungsklausel des § 6 AsylbLG eine richtlinienkonforme Auslegung für besonders schutzbedürfte Personen vorzunehmen.[11]

b. Unionsrechtliche Relevanz

Während der Dauer des Asyl- bzw. Anerkennungsverfahrens gilt über das AsylbLG hinaus die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben.

(1) Anwendungsbereich der Richtlinie 2013/33/EU

Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedsstaaten, die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, behinderten und älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Beeinträchtigungen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben (Art. 21), zu berücksichtigen.

Diese Richtlinie hätte mit der Frist vom 20. Juli 2015 ins deutsche Recht umgesetzt werden müssen.[12] Dies hat der Gesetzgeber bisher nicht getan, ebenso wenig wie die Vorgängerrichtlinie (Richtlinie 2003/9/EG) Eingang ins deutsche Recht gefunden hat. Die Voraussetzungen für die unmittelbare Anwendung der Richtlinie in Bezug auf die Gesundheitsleistungen scheinen daher gegeben zu sein: 1. Die Umsetzungsfrist ist ohne vollständige Umsetzung verstrichen, 2. die Richtlinienbestimmungen – hier insbesondere Art. 19 i. V. m. Art. 21 – sind inhaltlich hinreichend bestimmt und unbedingt.[13] Die Bestimmungen verleihen dem Einzelnen Rechte gegenüber dem Mitgliedstaat.[14]

(2) Inhaltliche Anforderungen der Richtlinie 2013/33/EU

Das LSG Niedersachsen-Bremen befürwortet eine richtlinienkonforme Auslegung für Asylsuchende mit besonderen Bedürfnissen i. S. d. Art. 21 ff. RL 2013/33/EU (Rn. 29).[15] Es betont, dass seit Ablauf der Umsetzungsfrist § 6 Abs. 1 Satz. 1 AsylbLG dahingehend richtlinienkonform auszulegen ist, dass Asylsuchende mit besonderen Bedürfnissen nach Art. 19 Abs. 2 sowie 21 bis 25 der Richtlinie während der Dauer ihres Asylverfahrens einen Anspruch auf die "erforderliche medizinische und sonstige Hilfe" (Art. 19 Abs. 2) (entsprechend § 6 Abs. 2 AsylbLG) haben. Nach diesen Maßgaben sei die Antragstellerin aufgrund ihrer schweren psychischen Erkrankung während ihres Asylverfahrens als Asylbewerberin mit besonderen Bedürfnissen i. S. von § 21 der Richtlinie 2013/33/EU anzusehen („Personen mit psychischen Störungen“). Da die ambulante Betreuung erforderlich war, hätten ihr diese Leistungen gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1, 2. Alt. AsylbLG als erforderliche medizinische und sonstige Hilfe i. S. d. Art. 19 Abs. 2 der Richtlinie 2013/13/EU erbracht werden müssen (Rn. 30).

In dem vom LSG Hessen entschiedenen Fall fällt der Antragsteller nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie, da dieser sich auf Personen beschränkt, die einen Antrag auf internationalen Schutz – Asyl – gestellt haben (Art. 3 Abs. 1 EU-RL 2013/33/EU), was der Mann ausdrücklich nicht getan hat. Dennoch äußert sich das LSG Hessen in einem sog. obiter dictum (das „nebenbei Gesagte“)[16] für eine unmittelbare Anwendung des Art. 19 Abs. 1 RL 2013/33/EU bei der medizinischen Versorgung von Asylsuchenden mit besonderen Bedürfnissen. Neben der Gewährleistung der erforderlichen medizinischen und sonstigen Hilfen (einschließlich psychologischer Betreuung) (Rn. 27) ist der Senat zudem der Auffassung, dass die Schutzpflichten und Leistungsansprüche aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG nicht zu einem niedrigeren Leistungsniveau bei Gesundheitsleistungen führen als die europaweit geltenden Mindeststandards für Flüchtlinge nach der RL 2013/33/EU (Rn. 36).

c. Ausmaß und Intensität der tatsächlichen Beeinträchtigung im Falle der Leistungsablehnung

In beiden Fällen finden Ausmaß und Intensität der tatsächlichen Beeinträchtigung im Falle der Leistungsablehnung Eingang in die Begründung. So führt das LSG Hessen aus, dass dem Antragsteller eine weitere Verzögerung der Behandlung angesichts der Schwere seiner Erkrankung und der Gefahr einer negativen Beeinflussung der Krebstherapie durch eine unbehandelte Hepatitis C nicht zuzumuten sei (Rn. 42). Im zweiten Fall verweist das LSG Niedersachsen-Bremen darauf, dass die Assistenzleistungen zur Vermeidung einer Verschlechterung der gesundheitlichen Situation der Antragstellerin und insbesondere der psychosozialen Gesundheit der gesamten Familie „unerlässlich“ gewesen seien (Rn. 28).

d. Absehbare Aufenthaltsbeendigung begründet keinen Leistungsausschluss

Soweit die Behörde im Verfahren um die antivirale Therapie des Antragstellers vor dem LSG Hessen geltend gemacht hat, dass aufgrund der absehbaren Beendigung des Aufenthalts keine hinreichende Gewähr für einen Erfolg der Therapie gegeben sei, hat das Gericht betont, dass eine Aufenthaltsbeendigung jedenfalls nicht unmittelbar bevorstehe und insoweit dem Bedarf aktuell zu begegnen ist, um dem Unionsrecht und der Verfassung zu genügen.

Das LSG Niedersachsen-Bremen betont ebenfalls, dass die bisherige Aufenthaltsdauer in Deutschland bei der Auslegung des § 6 AsylbLG keine Rolle spiele, was insbesondere unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerfG vom 18. Juli 2012 gelte.[17]

Inwieweit eine solche Therapie die Verlängerung des Aufenthalts begründen kann, ist eine andere Frage.

4. Unbeachtlichkeit migrationspolitischer Steuerungsabsichten

Das BVerfG hat nachdrücklich deutlich gemacht[18], dass migrationspolitische Steuerungsabsichten nicht durch eine Leistungseinschränkung des AsylbLG möglich sind. Vielmehr lassen sich geringere Leistungen als die Existenzsicherung (SGB XII) nur dann rechtfertigen, wenn diese für die vorgesehene Leistungsgruppe in einem nachvollziehbaren Verfahren festgestellt und bemessen werden können. Einigkeit besteht darüber, dass dies bei Gesundheits- und Teilhabeleistungen nur schwer gelingen kann. Deshalb hat das LSG Hessen die Auffassung vertreten, dass von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminium gerechtfertigt werden könne. Dies gelte insbesondere für die gesetzgeberischen Ziele, Kosten zu sparen und Asylmissbrauch begünstigende, wirtschaftliche Anreize zu mindern.

Die Sozialbehörde Fulda argumentierte, dass der Antragsteller lediglich nach Deutschland eingereist sei, um Leistungen der Krankenhilfe zu erhalten. In den Begründungen verweist das LSG Niedersachsen-Bremen ebenso (3. Leitsatz, Rn. 27) ausführlich wie das LSG Hessen (Rn. 34) auf das BVerfG-Urteil[19]. Der letztgenannte Senat führt zudem aus, dass seit der grundlegenden Novellierung des AsylbLG[20] zur Umsetzung des Urteils des BVerfG einerseits und der unterbliebenen Anpassung an Unionsrecht andererseits § 6 AsylbLG eine gewandelte Bedeutung als Öffnungsklausel hat: Der Gesetzgeber habe die verfassungsrechtliche Fundierung des Leistungsanspruchs grundsätzlich anerkannt, auch da er eine Reform der Gesundheitsleistungen unterlassen hat. Daher könne nicht mehr einschränkungslos auf die Intentionen aus den Gesetzesbegründungen aus den Jahren 1993 und 1997 zurückgegriffen werden.

Bekräftigend fügt der Senat hinzu, dass „bei allen Unterschieden in der normativen Konstruktion […] die Schutzpflichten und Leistungsansprüche aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Abs. 20 Abs. 1 GG nicht zu einem niedrigeren Leistungsniveau bei Gesundheitsleistungen führen als die europaweit geltenden Mindeststandards für Flüchtlinge nach der RL 2013/33/EU.“[21]

5. Unbeachtlichkeit der rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer

Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG erhalten leistungsberechtigte Personen nach dem AsylbLG entsprechend Leistungen nach dem SGB XII (Sozialhilfe), wenn sie sich länger als 15 Monate in Deutschland aufhalten und die Aufenthaltsdauer nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

In beiden Fällen argumentierten die Antragsgegner, dass aufgrund rechtsmissbräuchlicher Beeinflussung der Aufenthaltsdauer ein Leistungsausschluss vorliege. Dabei wird nach Auffassung des LSG Hessen verkannt, dass dies keine Leistungseinschränkung nach § 6 AsylbLG zur Folge haben kann: „Ebenso unbeachtlich ist die Frage einer missbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, weil sie nicht zu Minderbedarfen führt (Rn. 33). Das Gericht stellt insoweit überzeugend auf den Zweck beider Regelungen ab, die nicht miteinander in Einklang zu bringen seien.

Das LSG Niedersachsen-Bremen kommt demgegenüber zu dem Ergebnis, dass die Frage der Beeinflussung der Aufenthaltsdauer einen Anspruch zwar dem Grunde nach ausschließen könne, dies jedoch unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu beurteilen ist und im Ergebnis – hier aufgrund der schwerwiegenden psychischen Erkrankung – das „Untertauchen“ der Frau nicht als ein solches Verhalten gewertet werden kann (2. Leitsatz, Rn. 23 ff.).

V. Würdigung und Kritik

1. Gebotener Wandel in der Rechtsprechung eingeläutet

Inwieweit das Schutzsystem des AsylbLG die verfassungsrechtlichen Anforderungen erfüllt, ist umstritten.[22] Die zentrale Vorschrift, über die die Bedarfe von leistungsberechtigten Personen mit Behinderungen abgesichert werden können, ist § 6 Abs. 1 AsylbLG. Die Vorschrift dient als Korrektiv, um das AsylbLG mit seinem pauschalierten Leistungssystem insgesamt menschenwürde- und verfassungskonform zu halten.

Insofern überzeugt es, dass die Landessozialgerichte die Vorschrift herangezogen und die unions- und verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Auslegung in den Vordergrund gestellt haben. Aus ihnen folgt, dass die benötigten Mehrbedarfe auch tatsächlich gewährt werden.

Mit diesen Entscheidungen dürfte auch ein Wandel in der Rechtsprechung eingeläutet worden sein. In ihr und in der Kommentarliteratur wurde bisher wiederholt vertreten, dass § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG restriktiv und als Ausnahmevorschrift auszulegen sei.[23] Eine Abkehr hiervon wurde bereits vereinzelt seit der Entscheidung des BVerfG vom 18.07.2012 angenommen.[24] Die Entscheidungen machen nun deutlich, dass sich eine restriktive Auslegung der Vorschrift als Ausnahme für atypische Fälle aus dem Gesetzeszusammenhang nicht weiter entnehmen lässt.

Dies wird auch durch die historische und systematische Auslegung der Vorschrift gestützt. Zwar ist § 6 Abs. 1 AsylbLG seit 1997[25] unverändert. Schon in der Gesetzesbegründung[26] im Jahr 1993 wurden jedoch als beispielhafte Umstände für Bedarfslagen ein Todesfall, ein besonderer Hygienebedarf oder körperliche Beeinträchtigungen genannt.[27]

Seit der Umsetzung der Vorgaben des Urteils des BVerfG kann zudem aus systematischen Gründen nicht mehr davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber das Ziel verfolgt, durch ein gegenüber dem SGB XII abgesenktes Leistungsniveau den leistungsberechtigten Personenkreis und den Leistungsumfang möglichst gering zu halten. Vielmehr folgt aus dem Gesetz zur Änderung des AsylbLG und des SGG vom 10.12.2014[28] die Grundentscheidung, das Leistungsniveau weitgehend dem SGB XII anzugleichen. Dies ist bei der Auslegung der Vorschriften zu beachten.[29]

Zugleich überzeugen die Ausführungen des LSG Niedersachsen-Bremen, wonach seit Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2013/33/EU zum 21. Juli 2015 § 6 l Abs. 1 Satz 1 AsylbLG richtlinienkonform auszulegen ist, so dass Asylbewerber mit besonderen Bedürfnissen während ihres Asylverfahrens Anspruch auf „erforderliche medizinische und sonstige Hilfe“ (entsprechend § 6 Abs. 2 AsylbLG) haben. Die Kritik an der fehlenden Umsetzung sollte den Gesetzgeber bewegen, für diesen Personenkreis entsprechende Regelungen zu schaffen. Eine Umsetzung ist wegen des Wesentlichkeitsgrundsatzes[30]  durch Gesetz vorzunehmen, da Grundrechte betroffen sind.

2.  Weitergehende menschenrechtliche Anforderungen

§ 6 AsylbLG differenziert nicht zwischen Gesundheitsleistungen (im engeren Sinne) und sozialhilferechtlicher Eingliederungshilfe, die nach dieser Vorschrift nicht von vorneherein ausgeschlossen ist und ausnahmsweise – insbesondere für behinderte Kinder – erbracht werden kann (LSG Niedersachsen-Bremen, Rn. 28).

Nach der Regelungslogik des Gesetzgebers müsste bereits jetzt Klarheit darüber herrschen, welche behinderungsbedingten Bedarfe unerlässlich über § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG zu befriedigen sind. Soweit hierfür keine Anknüpfungspunkte bestehen, erscheint dies nicht nur für die Rechtsmobilisierung, sondern auch für die Bestimmtheit der Vorschrift verfassungsrechtlich problematisch. Umso mehr ist das Recht im Einzelfall, soweit der Bedarf objektiv ermittelt ist, entsprechend der Auffassungen der Gerichte auszulegen.

Gesichtspunkte aus Vorschriften der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), sind in den Urteilen nicht herangezogen worden. Sie hätten die unions- und verfassungsrechtliche Auslegung gleichwohl gestützt. Art. 25 UN-BRK (Gesundheit) könnte dazu führen, dass sich der Maßstab der Prüfung insoweit verschiebt, als daraus die Pflicht erwächst, Menschen mit Behinderungen Zugang zur Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung zu stellen, wie anderen Menschen. Andere Menschen sind in diesem Fall nicht andere Asylbewerber, sondern andere Menschen, die in Deutschland leben.

Menschenrechtlich zu beanstanden ist schließlich, dass volljährige geflüchtete Menschen mit Behinderungen weiterhin von den allgemeinen Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX 2. Teil ausgeschlossen sind. Dieses Problem bleibt mit Inkrafttreten der letzten Stufe des BTHG zum 01.01.2020 bestehen, da ab diesem Zeitpunkt § 100 Abs. 2 Eingliederungshilfeleistungen für „Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes“ ausschließt.[31] Auch hier ist der Gesetzgeber gefordert.[32]

3. Schluss: Sozialverwaltungen und überprüfende Gerichte sind gefordert menschenrechtliche Anforderungen umzusetzen

Die bisherige Rechtsprechung zu Gesundheits- und Teilhabeleistungen für geflüchtete Menschen mit Beeinträchtigungen nach §§ 4, 6 AsylbLG ist überschaubar.[33] Umso praxisrelevanter[34] erscheinen vor diesem Hintergrund die Beschlüsse der Landessozialgerichte Hessen und Niedersachsen-Bremen mit ihren verfassungs- und europarechtlichen Argumentationen.

Solange der Gesetzgeber die dargestellten Defizite nicht beseitigt, sind die Sozialbehörden und die Rechtsprechung gefordert, den Tatbestand des § 6 AsylbLG „zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich“ weit auszulegen – und somit den Leistungsberechtigten zu ihrem sozialrechtlichen Anspruch zu verhelfen. Nur so kann sichergestellt werden, dass den Lebenslagen von geflüchteten Menschen mit Behinderungen hinreichend Rechnung getragen wird.

Literaturverzeichnis

Buchholtz, Gabriele (2017): Reformimpulse für die Integration Geflüchteter. In: NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 2017: 756–761.

Frerichs, Konrad. (2014): § 6 AsylbLG Sonstige Leistungen. In Juris PraxisKommentar SGB XII. Sozialhilfe/mit AsylbLG, Hrsg. Pablo Coseriu, Wolfgang Eicher, Rainer Schlegel, und Thomas Voelzke. Saarbrücken: Juris Saarbrücken.

Greiser, Johannes; Frerichs, Konrad (2018): Der Anspruch von Flüchtlingen auf psychotherapeutische Behandlung. In: Die Sozialgerichtsbarkeit, 2018: 213–221.

Hainthaler, Claudia. 2015. Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung im dreistufigen System der Richtlinienwirkungen. In: Zeitschrift für das Juristische Studium 2015(1): 13–22.

Hohm, Karl-Heinz (2015): §§ 4, 6 AsylbLG. In Kommentar zum Sozialgesetzbuch XII. [SGB XII – Sozialhilfe], Hrsg. Walter Schellhorn, Helmut Schellhorn, Karl-Heinz Hohm, Peter Scheider, und Christoph Legros. Köln: Luchterhand.

Krauß, Karen (2018): § 6 AsylbLG. In: Siefert, Jutta (2018): Asylbewerberleistungsgesetz. Kommentar. München.

Müller-Krah, Eva-Maria (2012): Die Gesundheitsleistungen für Asylbewerber nach §§ 4, 6 AsylbLG – gesundheitliches Existenzminimum unterhalb des Existenzminimums? Gesundheit und Pflege: Rechtszeitschrift für das gesamte Gesundheitswesen 2 (4): 132–143.

Rixen, Stephan (2016): Gestaltungsspielräume bei der Gewährung von Leistungen an Geflüchtete – Verfassungsrecht, EU-Recht, Völkerrecht. In: Landkreis 2016: 268–274.

Schlüter, Wilfried (1973): Das obiter dictum – die Grenzen höchstrichterlicher Entscheidungsbegründung, dargestellt am Beispiel aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Köln.

Schülle, Mirjam (2016): Ausschluss von Eingliederungsleistungen für Asylsuchende durch das Bundesteilhabegesetz; Beitrag D53-2016 unter www.reha-recht.de; 25.11.2016.

Schülle, Mirjam (2018): Medizinische Versorgung für Menschen mit Behinderungen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Rechtliche und praktische Barrieren der Barrierefreiheit. In: Westphal Manuela; Wansing Gudrun (Hg.) (2018): Migration, Flucht und Behinderung. Herausforderungen für Politik, Bildung und psychosoziale Dienste. Wiesbaden. S. 145–165.

Turhan, Hülya (2016): Gesundheitsversorgung von geflüchteten Menschen mit Behinderung. Rechtsdienst der Lebenshilfe (3): 151–154.

Beitrag von Mirjam Schülle (M. Sc.), Humboldt-Universität zu Berlin und Arne Frankenstein (Ass. iur.), Universität Kassel

Fußnoten

[1] BVerfGE 132, 134.

[2] Als geflüchtete Menschen werden in diesem Beitrag diejenigen Menschen bezeichnet, die als Schutzsuchende nach Deutschland gekommen sind – unabhängig von ihrem rechtlichen Status. Deshalb werden neben Personen, die als Asylberechtigte nach dem AsylbLG und Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt wurden oder einen anderen Schutzstatus erhalten haben, auch solche Personen als geflüchtete Menschen bezeichnet, die noch nicht als Asylbewerber registriert wurden, sich in einem Asylverfahren befinden oder deren Asylantrag abgelehnt wurde.

[3] SG Fulda vom 18.06.2018 – S 7 AY 2/18 ER.

[4] Bei abgelehnten Asylgesuchen ist gesondert zu prüfen, ob und ggf. zu welchem Zeitpunkt eine Analogberechtigung entfallen kann. Diese Frage stellt sich insbesondere bei bestehender Ausreisepflicht.

[5] Laut Frerichs (2014) sind zu den vom LSG Niedersachsen-Bremen genutzten Auslegungskriterien noch folgende relevant: eine ggf. zeitnah eintretende Leistungsprivilegierung (SGB II / SGB XII / § 2 AsylbLG), die Subsidiarität gegenüber einer anderweitigen Bedarfsdeckung (vgl. § 8 AsylbLG) und der Vorrang gleichwertiger, kostengünstigerer Leistungen.

[6] So auch Krauß, in: Siefert, § 6 AsylbLG Rn. 2.

[7] A. a. O.

[8] BVerfG a. a. O.

[9] A. a. O.

[10] BVerfG a. a. O.

[11] Bundestags-Drucksache 18/7831, Bundestags-Drucksache 18/9009.

[12] Vgl. Art 31, 33 – Umsetzung der Richtlinie 2013/33/EU.

[13] Vgl. EuGH, Urt. v. 19.01.1982 – 8/81; EuGH, Urt. v. 24.11.2011 – C 468/19.

[14] Vertiefend siehe Hainthaler 2015.

[15] So ebenfalls Greiser/Frerichs 2018: 213ff.; Schülle 2017.

[16] Ein obiter dictum – das „nebenbei Gesagte“ – bezeichnet eine in einem Urteil geäußerte Rechtsansicht, die für die Begründung des Urteils selbst nicht relevant ist. Im Gegensatz zu den ratio decidendi trägt ein obiter dictum die Entscheidung also nicht, sondern wird nur geäußert, weil sich in dem Urteil die Gelegenheit dazu bot (Schlüter 1973).

[17] A. a. O.

[18] A. a. O.

[19] A. a. O.

[20] Durch das Gesetz zur Änderung des AsylbLG vom 10.12.2014 (BGBl. I 2187).

[21] LSG Hessen, Beschl. vom 11.07.2018 – L 4 AY 9/18 B ER, Rn. 36.

[22] Verneinend Buchholtz, NVwZ 2017, 746, 759 f.; Rixen, Der Landkreis 2016, 268, 272; wohl bejahend unter Verweis auf § 6 AsylbLG Krauß, in: Siefert, AsylbLG Kommentar § 6 Rn. 9.

[23] Vgl. dazu Müller-Krah 2012; Frerichs 2014; Hohm 2015.

[24] Frerichs 2018, der diesen Grundsatz für nicht mehr uneingeschränkt geltend ansieht.

[25] Erstes Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 30.05.1997, BGBl. I 1130.

[26] Gesetz zur Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber vom 30.06.1993, BGBL. I 1074.

[27] Bundestags-Drucksache 13/2746, S 16.

[28] BGBl. I 2187.

[29] Krauß, in: Siefert, Asylbewerberleistungsgesetz Kommentar, 1. Auflage 2018, § 6 Rn. 3.

[30] Nach der Kalkar I-Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1978 ist der parlamentarische Gesetzgeber aufgefordert, „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatliche Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen“, ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 49, 89, 162.

[31] Vertiefend dazu Schülle: Ausschluss von Eingliederungsleistungen für Asylsuchende durch das Bundesteilhabegesetz; Beitrag D53-2016 unter reha-recht.de; 25.11.2016.

[32] Ebd.

[33] In dem Rechtsportal juris sind 175 Rechtsprechungen unter der Suche zu § 6 AsylbLG gelistet, mit der Eingrenzung auf das Rechtsgebiet „Medizinrecht“ sind lediglich 16 Entscheidungen zu finden (Stand Januar 2019).

[34] Vertiefend zur Rechtspraxis und der Lebenslage Gesundheit geflüchtete Menschen mit Behinderung siehe Schülle 2018; Turhan 2016.


Stichwörter:

Leistungen zur Teilhabe, Geflüchtete, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Asylbewerberleistungsgesetz, Asyl, Flüchtlinge, Gesundheit, Gesundheitliche Versorgung, EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33


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