21.09.2018 A: Sozialrecht Fuchs: Beitrag A17-2018

Intention des Gesetzgebers zur Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs nach § 13 SGB IX und Begriffsbestimmung – Teil II: Trägerübergreifend einheitliche Mindestanforderungen

In dem Beitrag stellt der Autor Dr. Harry Fuchs die Intention des Gesetzgebers in Bezug auf das neue ICF-basierte Verfahren zur Bedarfsermittlung nach § 13 SGB IX dar und skizziert dabei die Mindestinhalte, die Instrumente der Bedarfsermittlung trägerübergreifend beinhalten müssen.

Im zweiten Teil seines Beitrags konkretisiert Fuchs die in § 13 Abs. 2 SGB IX genannten Mindestanforderungen für Instrumente der Bedarfsermittlung. Diese haben sich an dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF zu orientieren und müssen eine funktionsbezogene Bedarfsfeststellung ermöglichen. Zunächst ist dabei gemäß § 13 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX das Vorliegen einer Behinderung im Sinne einer Funktionsbeeinträchtigung zu prüfen. Zudem müssen in einem zweiten Schritt gemäß § 13 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe der leistungsberechtigten Person erfasst werden. Dabei sollen die Beeinträchtigungen in den einzelnen Aktivitätsbereichen der ICF in den Blick genommen werden, wie es § 118 Abs. 1 S. 3 SGB IX bereits für das neue Eingliederungshilferecht regelt. Entscheidend ist dabei, dass die Feststellung der Teilhabebeeinträchtigung umfassend und unabhängig von Trägerzuständigkeiten zu erfolgen hat. Des Weiteren müssen die Instrumente zur Bedarfsermittlung gemäß § 13 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX die personenbezogenen Teilhabeziele dokumentieren. Auch dabei ist die Zuständigkeit des jeweiligen Leistungsträgers auszublenden. Schließlich legt § 13 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX fest, dass eine Prognose darüber zu erstellen ist, welche Leistungen zur Erreichung der Ziele voraussichtlich erfolgreich sind. Dadurch entstehen insbesondere Anforderungen hinsichtlich Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungen. Um trägerübergreifende Maßstäbe festzulegen, entwickelt die BAR Grundsätze zur Bedarfserkennung und Bedarfsermittlung. Wie Instrumente zur Bedarfsermittlung in der Praxis aussehen könnten, wird derzeit durch das BMAS untersucht.

(Zitiervorschlag: Fuchs: Intention des Gesetzgebers zur Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs nach § 13 SGB IX und Begriffsbestimmung – Teil II: Trägerübergreifend einheitliche Mindestanforderungen; Beitrag A17-2018 unter www.reha-recht.de; 21.09.2018.)

I. Anforderungen an die Bedarfsermittlung (§ 13 Abs. 2 SGB IX)

Die Instrumente zur Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs müssen nach § 13 Abs. 2 SGB IX eine individuelle und funktionsbezogene Bedarfsermittlung gewährleisten und die Dokumentation und Nachprüfbarkeit der Bedarfsermittlung sichern, indem sie insbesondere erfassen,

  1. ob eine Behinderung vorliegt oder einzutreten droht,
  2. welche Auswirkung die Behinderung auf die Teilhabe der Leistungsberechtigten hat,
  3. welche Ziele mit Leistungen zur Teilhabe erreicht werden sollen und
  4. welche Leistungen im Rahmen einer Prognose zur Erreichung der Ziele voraussichtlich erfolgreich sind.

Die danach zu treffenden Feststellungen sind – unabhängig von dem jeweils für sie geltenden Leistungsrecht – von allen Trägern einheitlich und nach gleichen Maßstäben zu treffen. Die Leistungsgesetze (nicht die Träger) können aufbauend auf den Vorgaben von § 13 weitergehende und speziellere Vorgaben regeln, die den Besonderheiten der jeweiligen Leistungssysteme[1] Rechnung tragen. Danach bleiben die Anforderungen des § 13 SGB IX auch bei weitergehenden Anforderungen in den spezifischen Leistungsgesetzen der Träger immer die trägerübergreifende gemeinsame Basis.

§ 13 Abs. 2 SGB IX definiert danach die Mindestanforderung für den Einsatzbereich der Instrumente, der die Bedarfsermittlung bis zum Erlass des Bewilligungsbescheids abdeckt. Die Mindestanforderungen sind unabhängig davon zu erfüllen, welcher Träger seine Instrumente mit welchen Inhalten ausgestaltet.[2]

1. Zur Bedeutung der ICF

Die ICF beschreibt als „Gesundheitszustände“ die Beeinträchtigung der Teilhabe behinderter Menschen. Schon mit dem SGB IX von 2001 hat der Gesetzgeber die Rehabilitationsträger verpflichtet, den Bedarf an Leistungen zur Teilhabe funktionsbezogen, d. h., „orientiert an der ICF“ festzustellen.

Da die ICF kein Assessment-Instrument zur Bedarfsfeststellung ist und auch nicht sein kann, bezog sich die Verpflichtung zur ICF-Orientierung in § 10 SGB IX a. F. auf die Dokumentation des funktionsbezogen festgestellten Bedarfs in der Sprache der ICF, d. h. die in der ICF beschriebenen Kategorien von Beeinträchtigungen der Teilhabe. Das BTHG hat daran nichts geändert, sondern die Träger zur Operationalisierung dieser Verpflichtung nunmehr an einheitliche Arbeitsmittel und -prozesse gebunden.

§ 13 SGB IX legt für alle Rehabilitationsträger einheitlich fest, dass die trägerübergreifende Beurteilung von Teilhabeeinschränkungen funktionsbezogen und damit grundsätzlich nach dem „bio-psycho-sozialen Modell“ zu erfolgen hat.[3] Das Modell mit Verweisen auf die Bezüge zu Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Teilhabe in §§ 13, 118 (n. F.) SGB IX ist in der Abbildung dargestellt und wird im Folgenden erläutert.

Das Bio-psycho-soziale Modell der ICF mit gesetzlichen Bezügen im SGB IX

2. Zu § 13 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX: Vorliegende oder drohende Behinderung

Liegt eine Behinderung vor oder droht sie? Der Diagnoseschlüssel ICD 10 beschreibt Art und Schweregrad einer Krankheit, die eine Behinderung verursacht, sagt jedoch nichts zur Art und zum Umfang der darauf basierenden Beeinträchtigung der Teilhabe aus. Entgegen der Orientierungshilfe der BAGüS vom Februar 2018 zur Gesamtplanung,[4] nach der im Bereich der Eingliederungshilfe auch weiterhin im Wesentlichen die medizinische Diagnose (in der Regel auch nur auf der Basis des Diagnoseschlüssels ICD) den Kern der Bedarfsermittlung bilden soll, kann damit allein den Anforderungen des § 13 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX nicht Rechnung getragen werden.

Nach dem der ICF zugrundeliegenden bio-psycho-sozialen Modell wird das Vorliegen einer Behinderung über die Schädigung der Körper- und Sinnesfunktionen definiert. Für die objektive Klärung des Bedarfs an Teilhabeleistungen reicht eine Beschreibung des Krankheitsbildes oder eine Krankheitsdiagnose (ICD-Schlüssel) nicht aus, weil sie in der Regel keine Feststellungen zur Beeinträchtigung der Teilhabe beinhalten. Deshalb muss die trägerübergreifende Beurteilung von Teilhabeeinschränkungen immer funktionsbezogen und damit grundsätzlich nach dem „bio-psycho-sozialen Modell“ erfolgen.[5]

Die Frage, ob eine Behinderung droht oder vorliegt, lässt sich sprachlich mit der Beschreibung der tatsächlichen Funktionsbeeinträchtigungen i. S. d. Kapitelüberschriften der ICF dokumentieren (vergl. ICF-Checkliste[6]).

Die Bedarfsfeststellung hat die gesamten Auswirkungen auf die Teilhabe vollständig zu klären und darf nicht auf die Zuständigkeit oder Leistungsverpflichtung eines Trägers oder die gerade benötigte Leistung beschränkt sein. Die bisher eingesetzten Instrumente sind in der Regel noch an der Leistungsverpflichtung bzw. Zuständigkeit eines Trägers orientiert, nehmen die tatsächlichen Beeinträchtigungen der Teilhabe nicht unabhängig davon vollständig auf und sind häufig auf die Beurteilung der gerade geltend gemachten Leistung fokussiert.

3. Zu § 13 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX: Welche Auswirkungen hat die Behinderung auf die Teilhabe der Leistungsberechtigten?

Welche Auswirkungen die Behinderung (beeinträchtigte Körperstrukturen und -funktionen) auf die Teilhabe der Leistungsberechtigten hat, ergibt sich daraus, ob und in welchem Ausmaß die Aktivitäten des Betroffenen und seine Teilhabe beeinträchtigt sind. Dies ist in Wechselwirkung mit hemmenden oder fördernden Kontextfaktoren (Art. 1 S. 2 UN-BRK; Umweltfaktoren, personbezogene Faktoren) abzuklären. Die Teilhabebeeinträchtigung definiert sich über die Beeinträchtigungen der Aktivitäten und deren Auswirkungen auf die Teilhabe und kann in der Sprache der ICF dokumentiert werden.

Die Anforderungen des § 118 Abs. 1 Nr. 1 bis 9 SGB IX sind identisch mit den Domänen der ICF. § 118 Abs. 1 Satz 3 SGB IX fordert die vollständige Beschreibung der nicht nur vorübergehenden Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe in den Lebensbereichen (Domänen). Soweit ersichtlich, entsprechen die derzeit eingesetzten Instrumente nur zum Teil oder nicht den Anforderungen des § 13 Abs. 2 SGB IX.[7]

4. Zu § 13 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX: Welche Ziele sollen mit Leistungen zur Teilhabe erreicht werden?

Nach § 4 Abs. 2 SGB IX werden Leistungen zur Teilhabe (§§ 4, 5 SGB IX) zur Erreichung von Teilhabezielen erbracht. Der Gesetzgeber hat in § 4 Abs. 1 SGB IX sowie in den einleitenden Absätzen der leistungsrechtlichen Vorschriften (§§ 42, 49, 75 und 76 SGB IX) sowohl allgemeine wie auch auf die jeweilige Leistungsform bezogene Teilhabeziele benannt.

Im Rahmen der Bedarfsermittlung ist für den jeweiligen Berechtigten zu klären, ob und welche Teilhabeziele ausgehend von den zuvor festgestellten individuellen Beeinträchtigungen der Teilhabe erreicht werden können, wobei das Wunschrecht der Berechtigten nach § 8 SGB IX sowohl hinsichtlich der Art, wie auch der Ausführung der Leistungen einzubeziehen ist.

Soweit die Bedarfserhebungen heute überhaupt Zielbeschreibungen enthalten, fokussieren sie bisher in der Regel auf die jeweils gerade geltend gemachte Leistung eines Trägers. Künftig ist die Klärung der Teilhabeziele unabhängig von der Leistungsverpflichtung oder Zuständigkeit des gerade tätigen Trägers oder der beantragten Leistung auf alle Beeinträchtigungen der Aktivitäten und der Teilhabe auszurichten, gerade auch mit Blick darauf, dass über die beantragte Leistung hinaus, für einen weitergehenden Leistungsbedarf andere Träger leistungsverpflichtet sein können.

5. Zu § 13 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX: Prognose bzgl. der voraussichtlichen Wirksamkeit der Leistungen

Die in dieser Regelung geforderte Prognose, welche Leistungen zur Erreichung der Ziele voraussichtlich erfolgreich sind, verfolgt verschiedene Ziele:

  • Zunächst dürfen Leistungen zur Teilhabe nach § 4 Abs. 2 Satz 1 SGB IX nur zur Erreichung der im SGB IX genannten Teilhabeziele erbracht werden.
  • Danach dürfen die Rehabilitationsträger nur Leistungen mit einer Erfolgsaussicht bezogen auf die Erreichung von Teilhabezielen ausführen.
  • D. h. aber auch, dass die Leistungserbringer geeignet sein müssen (§§ 28 Abs. 1 Nr. 3, 124 SGB IX), die Teilhabeziele mit ihren Leistungen erreichen zu können, d. h., über eine dazu geeignete Struktur- und Prozessqualität verfügen.
  • Letztlich knüpft an diese Prognose der Wirksamkeitsaspekt der in § 128 Abs. 1 SGB IX verankerten Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfung im Bereich der Eingliederungshilfe an.

Aussagen zu der in § 13 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX geforderten Erfolgsprognose sind bisher in keinem bekannten Bedarfsfeststellungsinstrument enthalten. Die Prognose ist Bestandteil der „einheitlichen und nachprüfbaren“ Bedarfsermittlung und bedarf wegen der vorgeschriebenen Einheitlichkeit und Nachprüfbarkeit trägerübergreifender Maßstäbe zur Prognosebeurteilung, die noch im Rahmen der von der BAR zu erarbeitenden Grundsätze zu Bedarfserkennung und Bedarfsermittlung zu definieren sind.

II. Ausblick

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales untersucht die Wirkung der in § 13 Abs. 2 SGB IX genannten Instrumente und veröffentlicht die Untersuchungsergebnisse bis zum 31.12.2019. Die Untersuchung dient sowohl dem verwaltungsinternen und trägerübergreifenden Informationsaustausch vorrangig auf der Ebene der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation als auch der öffentlichen und fachlichen Diskussion über die Instrumente unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Expertise. Hierbei kann insbesondere untersucht werden, ob und inwieweit die Klassifikation, die Lebensbereiche oder das bio-psycho-soziale Modell der ICF perspektivisch einen einheitlichen Rahmen für die Bedarfsermittlung nach allen Leistungsgesetzen bilden können. Mithilfe der fortlaufenden Untersuchung kann die Übertragbarkeit gemeinsamer Grundsätze auf die jeweiligen Leistungssysteme überprüft werden. Die Rehabilitationsträger werden durch die Untersuchung dazu angehalten, ihre Instrumente im Hinblick auf ihre trägerübergreifenden Standardisierungsmöglichkeiten kritisch zu prüfen und weiterzuentwickeln. Die Länder und Kommunen können sich nach § 13 Abs. 4 SGB IX an der Untersuchung beteiligen.[8]

Im Rahmen dieser Untersuchung dürften über die in der Begründung genannten Ziele und Erwartungen hinaus weitere Fragen aufkommen und einer Beantwortung bedürfen, wie z. B.

  • Wer trifft die Feststellungen nach § 13 Abs. 2 SGB IX?
  • Über welche Qualifikation muss der Feststellende verfügen? (Bei Sachverständigengutachten nach § 17 SGB IX „ist ggf. eine entsprechende Qualifikation und Weiterbildung“ der Sachverständigen“ bzgl. des bio-psycho-sozialen-Modells und der ICF nachzuweisen.[9]
  • Wie kann der Informationsaustausch zwischen den Trägern organisiert werden?
  • Wie können die damit ggf. verbundenen Datenschutzfragen geklärt werden?

Beitrag von Dr. Harry Fuchs, Düsseldorf

Fußnoten

[1] Bundestags-Drucksache 18/9522 S. 232.

[2] Abweichender Auffassung ist Heinisch, der hier nur rudimentäre Mindestanforderungen erkennt. Vgl. Heinisch: Mehr Koordination durch das Bundesteilhabegesetz?; Beitrag D13-2017 unter www.reha-recht.de; 04.04.2017.

[3] Bundestags-Drucksache 18/9522 S. 239.

[4] Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS., Orientierungshilfe zur Gesamtplanung §§ 117 ff. SGB IX / §§ 141 ff. SGB XII, Stand Februar 2008 (online verfügbar unter http://lwl.org/spur-download/bag/02_2018an.pdf, zuletzt abgerufen am 16.07.2018), S. 8.

[5] Bundestags-Drucksache 18/9522 S. 239.

[6] ICF-Checkliste der WHO vergl. www.harry-fuchs.de oder bei dimdi.

[7] Vergl. Veröffentlichung des Verfassers „Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs – Auswirkungen des BTHG“, Beitrag D50-2017 unter www.reha-recht.de, 10.11.2017.

[8] Bundestags-Drucksache 18/9522 S. 233.

[9] Bundestags-Drucksache 18/9522 S. 237.


Stichwörter:

Bedarfsermittlung, Bundesteilhabegesetz (BTHG), ICF, § 13 SGB IX


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