04.08.2020 A: Sozialrecht Rosenow: Beitrag A17-2020

Die Erfindung der teleologischen Extinktion – Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen zum Persönlichen Budget in der Kinder- und Jugendhilfe

Der Autor Roland Rosenow bespricht in diesem Beitrag den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Dezember 2018, Az. 12 A 3136/17. In dem Beschluss hat das OVG einen Berufungszulassungsantrag, betreffend Leistungen nach dem SGB VIII in Form eines Persönlichen Budgets abgelehnt. Der Autor kritisiert die Entscheidung, weil sie Verweise in das SGB IX bei Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nach § 35a SGB VIII trotz anderslautendem Gesetzeswortlaut für nicht anwendbar erklärt und diese grundsätzliche Frage der Revision durch eine höhere Instanz entzieht.  

(Zitiervorschlag: Rosenow: Die Erfindung der teleologischen Extinktion – Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen zum Persönlichen Budget in der Kinder- und Jugendhilfe; Beitrag A17-2020 unter www.reha-recht.de; 04.08.2020)

I. Einleitung

Mit Beschluss vom 10. Dezember 2018 hat das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) einen Berufungszulassungsantrag, betreffend Leistungen nach dem SGB VIII in Form eines Persönlichen Budgets, als zulässig, aber unbegründet abgelehnt (§ 124a Abs. 5 S. 1  Verwaltungsgerichtsordnung, VwGO).[1] Das erstinstanzlich zuständige Verwaltungsgericht (VG) Minden hatte die Klage, die sich auf Leistungen der Eingliederungshilfe der Kinder- und Jugendhilfe (§ 35a SGB VIII) in Form eines Persönlichen Budgets (§§ 17, 159 Abs. 5 SGB IX i. d. F. bis 31. Dezember 2017) richtete, zurückgewiesen und die Berufung nicht zugelassen.[2] Das OVG NRW ist der Auffassung, für Leistungen nach § 35a SGB VIII bestehe kein Rechtsanspruch auf ein Persönliches Budget. Die aus dem in Art. 6 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz (GG) begründeten Wächteramt des Staates abgeleitete Mitverantwortung des Jugendamtes bewirke auch bei Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII, dass das Selbstbestimmungsrecht der Leistungsberechtigten, das diese vertreten durch ihre Eltern wahrnehmen, begrenzt werde. Der Autor hält diese Rechtsauffassungen für unzutreffend. Er kritisiert darüber hinaus, dass das OVG derart grundsätzliche Auffassungen der Kontrolle durch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entzieht, indem es sie in einem Beschluss über die Zurückweisung eines Berufungszulassungsantrages etabliert.

II. Berufungszulassungsverfahren der Verwaltungsgerichtsbarkeit

Seit dem 1. Januar 1997 ist die Berufung im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten nur noch dann zulässig, wenn sie durch das VG oder auf Antrag nach § 124a Abs. 4 VwGO durch das OVG zugelassen wird (§ 124 Abs. 1 VwGO).[3] Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der in § 124 Abs. 2 VwGO aufgeführten Berufungsgründe vorliegt. Drei dieser Gründe entsprechen den Revisionszulassungsgründen aus § 132 Abs. 2 VwGO (Grundsatzbedeutung, Divergenz und Verfahrensfehler). Weitere Zulassungsgründe sind ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Ein ordentliches Rechtsmittel gegen die Zurückweisung des Berufungszulassungsantrags durch das OVG ist nicht gegeben. Eine Kontrolle durch das BVerwG findet nicht statt.

Der Antrag auf Berufungszulassung beim OVG ist zu begründen. Erfolgt dies nicht in ausreichender Weise, wird der Antrag als unzulässig abgelehnt. Im hier besprochenen Fall hat das OVG entschieden, dass der Zulassungsantrag zulässig, aber nicht begründet sei (Rn 1). Es hat damit seine materiell-rechtlichen Auffassungen, mit denen der Autor sich im Folgenden auseinandersetzt, zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht – auch wenn diese Ausführungen nicht ganz konsistent sind.[4]

III. Materielle Auffassung des OVG

Nach Auffassung des OVG war die Entscheidung des Jugendamtes, anstelle des begehrten Persönlichen Budgets Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in Form einer Sachleistung zu bewilligen, vertretbar. Der Kläger habe zumindest nichts vorgetragen, was diese Auffassung des VG hätte entkräften können.[5] Ein Anspruch auf ein Persönliches Budget könne sich erst dann ergeben, wenn die Entscheidung des Jugendamtes gegen ein solches fachlich unvertretbar sei (Rn. 8). Diese Auffassung setzt voraus, dass ein Rechtsanspruch auf ein Persönliches Budget verneint wird, was das OVG sodann tut.[6]

1. Vorrangig zu beachtende Strukturprinzipien des SGB VIII

Im ersten Schritt schließt das OVG sich der Auffassung des erstinstanzlichen Gerichts an, nach der „die über § 7 Abs. 1 SGB IX […] zu berücksichtigenden Strukturprinzipien“ des SGB VIII einem „unbedingten (gebundenen) Anspruch auf ein Persönliches Budget entgegenstünden“ (Rn. 9). Zwar habe der Kläger vorgetragen, dass Abweichungen von den Vorschriften des ersten Teils des SGB IX wegen § 7 Abs. 1 SGB IX a. F. nur dann zulässig seien, wenn dies im Leistungsgesetz – hier dem SGB VIII – ausdrücklich geregelt sei, und diese Auffassung durch eine Literaturmeinung untermauert. Doch er stelle diese Auffassung derjenigen des VG, nach der Abweichungen keine ausdrückliche Bestimmung im Leistungsgesetz voraussetzten, die ebenfalls durch eine Literaturmeinung belegt sei, lediglich gegenüber. Der Wortlaut von § 7 Abs. 1 SGB IX a. F. spreche jedenfalls nicht für die klägerische Auffassung (Rn. 11). Schließlich positioniert sich das OVG selbst und führt aus, die Steuerungsverantwortung des Jugendhilfeträgers als ein Strukturprinzip des SGB VIII lasse sich „grundsätzlich nicht mit einem Persönlichen Budget vereinbaren“ (Rn. 15).

2. Selbstbestimmung als Zweck des Persönlichen Budgets bei Minderjährigen nicht erreichbar

Das OVG sieht den Sinn der Vorschriften über das Persönliche Budget darin, dass die Selbstbestimmung der Leistungsberechtigten gestärkt werde. Da der Kläger ein sechsjähriges Kind sei, liege die Verwaltung eines Persönlichen Budgets jedoch „außerhalb seines Horizonts“. Zwar könne unterstellt werden, dass der Kläger bei der Verwaltung des Budgets durch seine Eltern unterstützt werde. Diese Unterstützung sei jedoch nichts anders als „auch sonst aufgrund des Alters des Kindes erforderliche Fremdbestimmung“. Es gehe deshalb nicht um Selbstbestimmung, sondern darum, dass die „Eltern anstelle der Beklagten über die Belange ihres Kindes entscheiden möchten“ (Rn. 17).

Der Selbstbestimmungsgedanke aus § 1 SGB IX werde durch Erziehungsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen und die Mitverantwortung des Staates begrenzt.[7] Dass es vorliegend nicht um Hilfen zur Erziehung gehe, sondern um Teilhabeleistungen, deren Erforderlichkeit aus einer seelischen Behinderung resultiert, ändere nichts daran, dass die vom erstinstanzlichen Gericht „betonte Mitverantwortung des Staates, abgeleitet aus seinem Wächteramt (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG), zum Tragen“ komme. Denn nach Art. 6 Abs. 2 GG wache die staatliche Gemeinschaft über „Pflege und Erziehung der Kinder“. § 35a Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII stelle auf „geeignete Pflegepersonen“ ab. Daraus folge, so wohl im Ergebnis, dass das staatliche Wächteramt das Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) immer dann begrenze, wenn Minderjährige Leistungen nach § 35a SGB VIII in Anspruch nehmen. Das OVG ist ganz offensichtlich der Auffassung, dass das auch dann gilt, wenn die Eltern ihrer Verantwortung uneingeschränkt gerecht werden (Rn. 16).

3. Teleologische Reduktion der Verweisung auf § 57 SGB XII a. F.

§ 35a Abs. 3 SGB VIII a. F. verweist auf § 57 SGB XII a. F. Diese Vorschrift verweist ausdrücklich auf §§ 17 Abs. 2 bis 4, 159 SGB IX a. F. Die Verweisung entspricht im Wesentlichen der durch Art. 9 Bundesteilhabegesetz (BTHG) vom 23.12.2016 [8] i. V. m. Art. 27 Nr. 3 a) des Gesetzes vom 17. Juli 2017[9] angepassten Verweisung in der aktuellen Fassung in § 35a Abs. 3 SGB VIII auf Kapitel 6 des 1. Teils des SGB IX. Das OVG ist der Auffassung, § 57 SGB XII a. F. i. V. m. §§ 17, 159 SGB IX a. F. seien gleichwohl nicht anzuwenden. Wenn Sinn und Zweck einer Vorschrift, auf die verwiesen werde, nicht erreicht werden könnten, bestehe Veranlassung für eine teleologische Reduktion[10] der Verweisung. Hier sei gezeigt worden, dass ein solcher Fall „in Bezug auf die Förderung der Selbstbestimmung“ vorliege. Darüber hinaus sei „nicht eindeutig“, ob der Gesetzgeber den „neu geschaffenen § 159 Abs. 5 SGB IX a. F. überhaupt im Blick hatte“, als er die Verweisung in § 35a SGB VIII einfügte (Rn. 18). § 159 Abs. 5 SGB IX a. F. – die Vorschrift, aus der sich der gebundene Anspruch auf ein Persönliches Budget bis zum 31. Dezember 2017 bzw. zum 31. Dezember 2019[11] ergab – soll damit im Ergebnis weder über § 7 Abs. 1 SGB IX a. F. (Strukturprinzipen, s. o.) noch über die Verweisungskette § 35a Abs. 3 SGB VIII – § 57 SGB XII – § 159 Abs. 5 SGB IX anwendbar sein, sodass ein gebundener Anspruch auf ein Persönliches Budget nicht bestehe.

IV. Kritik

Die Untersuchung der Argumente, auf die das OVG NRW seine Entscheidung stützt, führt zum Ergebnis, dass der Beschluss als Fehlentscheidung kritisiert werden muss. Der Anspruch auf Leistungen nach § 35a SGB VIII in Form eines Persönlichen Budgets ergibt sich entgegen der Auffassung des OVG klar und deutlich aus dem Gesetz.

1. Strukturprinzipien

Das OVG führt zunächst unspezifisch „Strukturprinzipien“ (im Plural, Rn 15) an, die die Geltung der Vorschriften aus dem ersten Teil des SGB IX i. V. m. § 7 Abs. 1 SGB IX a. F. derogierten. Der Begriff „Strukturprinzip“ gehört zu den rechtswissenschaftlichen Begriffen, deren Bedeutung changiert und oft vage ist. Sein Gebrauch ist unübersichtlich, wobei sich drei unterschiedliche Verwendungen unterscheiden lassen. Das BVerfG verwendet den Begriff, um unbestimmte und normativ folgenreiche Begriffe des GG zu konkretisieren. „Strukturprinzipien“ steht dann für essenzielle Tatbestandselemente eines Rechtsbegriffs aus dem GG, die dazu dienen, den Begriff näher zu bestimmen und damit die grundgesetzliche Vorschrift zu konkretisieren (1). Prominente Beispiele sind der Begriff der Familie aus Art. 6 GG[12] und der Begriff der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums.[13] Zum Teil wird der Begriff des Strukturprinzips verwendet, um im Gesetz ausdrücklich normierte Vorschriften zusammenzufassen und auf einen Begriff zu bringen oder ihre zentrale Bedeutung zu unterstreichen.[14] Die Rede von Strukturprinzipien dient dann dem Verständnis der systematischen Bedeutung einer Norm und steht oft im Kontext systematischer Auslegung (2).[15]

Schließlich hat der Begriff in der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine Tradition als Chiffre für richterrechtlich konstituierte „Supranormen“,[16] die als Argumente für die weitgehende Modifikationen oder gar für die Nichtanwendung expliziter gesetzlicher Vorschriften angeführt werden (3). Das wohl prominenteste Beispiel für diese Verwendung des Begriffs ist die Rechtsprechung des BVerwG zum Sozialhilferecht.[17] Das BVerwG brachte den Begriff des Strukturprinzips in Stellung, um begründen zu können, dass bestimmte Vorschriften des SGB I und des SGB X nicht auf das Sozialhilferecht anzuwenden seien.[18] Nachdem die Zuständigkeit für die Sozialhilfe zum 1. Januar 2005 auf die Sozialgerichte übergegangen war, gab das BSG diese Rechtsprechung weitgehend auf.[19]

Der Gebrauch des Begriffs durch das OVG NRW Münster changiert auf den ersten Blick zwischen der zweiten und der dritten Verwendungsart. Einerseits gebraucht das OVG den Begriff im Plural, ohne jedoch mehrere Prinzipien zu bezeichnen, die der Anwendung der Vorschriften des 1. Teils des SGB IX im Wege stehen sollen. Andererseits wird wenigstens ein solches Prinzip in der Begründung ausdrücklich bezeichnet und auf eine Vorschrift des SGB VIII zurückgeführt, nämlich „die Steuerungsverantwortung des Jugendhilfeträgers (§ 36a Abs. 1 S. 1 SGB VIII) als ein Strukturprinzip“ des SGB VIII, das sich „grundsätzlich nicht mit dem Persönlichen Budget vereinbaren“ lasse (Rn. 15). Denn, so die Begründung weiter, § 36 Abs. 2 S. 3 SGB VIII baue „auf der Steuerungsverantwortung und der tatsächlichen Steuerung des Hilfefalls durch den Jugendhilfeträger auf“. Die „in der Vorschrift angeordnete Beteiligung von anderen Personen, Diensten oder Einrichtungen“ funktioniere nur, wenn der Jugendhilfeträger den Hilfefall „auch diesbezüglich in der Hand“ habe, was durch ein Persönliches Budget, so sinngemäß, vereitelt werde. Das aber ist schlicht falsch. Die Vorschriften über das Persönliche Budget lassen es ohne Weiteres zu, die Beteiligung von Diensten nach § 36 Abs. 2 S. 3 SGB VIII am Hilfeplangespräch durch eine entsprechende Vereinbarung in der Zielvereinbarung nach § 4 BudgetV a. F. bzw. § 29 Abs. 4 SGB IX n. F. oder durch eine Nebenbestimmung des Verwaltungsaktes, der das Persönliches Budget bewilligt,[20] sicherzustellen. Der einzige Versuch des OVG, die allgemein gehaltene Berufung auf Strukturprinzipien durch den Bezug auf eine demokratisch legitimierte Norm zu rechtfertigen, erweist sich als nicht tragfähig. Die allgemeine Rede von – abgesehen von der Steuerungsverantwortung – nicht einmal bezeichneten und noch viel weniger unter Bezug auf eine Rechtsquelle begründeten Strukturprinzipien entpuppt sich als leere Worthülse, die herangezogen wird, um die Geltung der Vorschriften des ersten Teils des SGB IX entgegen § 7 SGB IX zu negieren. Dazu kommt, dass es wegen des expliziten Verweises in § 35a Abs. 3 SGB VIII a. F. gar nicht darauf ankommt, ob § 7 Abs. 1 SGB IX so auszulegen ist, wie das OVG das tut. Denn selbst dann, wenn Strukturprinzipien existierten, die den Vorbehalt abweichender Regelungen aus § 7 Abs. 1 SGB IX auslösten, änderte das nichts an der Verweisung auf § 57 SGB XII a. F. und von dort auf § 159 Abs. 5 SGB IX a. F.

2. Selbstbestimmung als Zweck des Persönlichen Budgets bei Minderjährigen nicht erreichbar

Das OVG NRW schließt daraus, dass Minderjährige nicht und nur beschränkt geschäftsfähig sind und, i. d. R. durch ihre Eltern, gesetzlich vertreten werden, dass sie ohnehin mehr oder weniger fremdbestimmt lebten. Selbstbestimmung sei für sie, so zugespitzt im Ergebnis, weder vorgesehen noch möglich. Allerdings sind Geschäftsunfähige, seien sie minder- oder volljährig, in keiner Weise von ihrem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das auch die Privatautonomie umfasst, ausgeschlossen. Die Realisierung dieses Rechts steht lediglich vor spezifischen Herausforderungen, wenn der Inhaber des Rechts der Unterstützung bedarf, um sein Selbstbestimmungsrecht praktisch auszuüben. Das Rechtsinstitut, das die Verfassung zur Bewältigung dieser Herausforderung für Minderjährige in erster Linie vorsieht, ist die elterliche Sorge, die die gesetzliche Vertretungsmacht aus § 1629 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) umfasst. Der gesetzliche Vertreter handelt dabei im Außenverhältnis anstelle des Vertretenen und mit Wirkung für diesen. Der Dritte, gegenüber dem der Vertreter handelt, hat i. d. R. kein Mandat, die Legitimität der Entscheidungen des Vertretenen, die durch den Vertreter getroffen oder übermittelt werden, darauf zu prüfen, ob sie dem Willen oder dem Interesse des Vertretenen entsprechen. Das gilt auch für das Jugendamt als Rehabilitationsträger.[21] Ob die Eltern tatsächlich im Interesse des Kindes handeln, ist zunächst eine Frage des Innenverhältnisses. Ein Mandat zur kritischen Prüfung des Handelns der Eltern im Innenverhältnis erwächst jedenfalls nicht daraus, dass der Minderjährige einen Anspruch auf Leistungen nach § 35a SGB VIII geltend macht, wie das OVG aber offenbar meint.

In Bezug auf das Innenverhältnis zwischen Eltern und Kind ist Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sehr klar, was das BVerfG auch immer wieder bestätigt hat. Art. 6 garantiert den „Vorrang der Eltern, ihre Eigenständigkeit und Selbstverantwortlichkeit bei der Pflege und Erziehung der Kinder“.[22] Das Wächteramt des Staates

„berechtigt den Staat […] nicht, die Eltern zu einer bestimmten Art und Weise der Erziehung ihrer Kinder zu drängen. Das Grundgesetz überläßt die Entscheidung über das Leitbild der Erziehung den Eltern […], die über die Art und Weise der Betreuung des Kindes, seine Begegnungs- und Erlebensmöglichkeiten sowie den Inhalt seiner Ausbildung bestimmen. Diese primäre Entscheidungsverantwortlichkeit der Eltern beruht auf der Erwägung, daß die Interessen des Kindes in aller Regel am besten von den Eltern wahrgenommen werden […].“[23]

Der Vorrang der Vertretung des Kindes durch seine Eltern ist damit nicht nur ein Elternrecht, sondern zugleich das Recht des Kindes, dessen Selbstbestimmungsrecht nach dem Verständnis der Verfassung am besten dadurch gewahrt wird, dass die elterliche Entscheidungskompetenz Vorrang genießt und nur eingeschränkt werden kann, wenn das Wohl des Kindes nicht durch die Ausübung der elterliche Sorge gewährleistet wird.

Das OVG ist dagegen der Auffassung, dass es den Eltern nicht zukomme, „anstelle [des Jugendamtes] über die Belange ihres Kindes“[24] zu entscheiden. Diese Auffassung ist mit Art. 6 Abs. 2 GG nicht vereinbar. Es ist gerade das natürliche Recht der Eltern, über die Belange ihrer Kinder zu entscheiden. Eine Beschränkung dieses Rechts durch das staatliche Wächteramt ist zwar zulässig, unterliegt aber tatbestandlichen Voraussetzungen, die nicht vorlagen, soweit das der Entscheidung zu entnehmen ist. Das OVG ist ganz offensichtlich nicht der Auffassung, dass die Eltern des Klägers ihre Pflichten aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG defizitär wahrgenommen hätten. Keinesfalls kann eine Beschränkung des Elternrechts – das selbst auch Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Kindes ist – allein daraus abgeleitet werden, dass das Jugendamt Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII bewilligt (oder gar aus der Behinderung eines Kindes).

Die gegenteilige Auffassung des OVG NRW ist daher nicht nur dogmatisch falsch,[25] sondern auch diskriminierend und insofern nicht nur mit Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, sondern mit Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG i. V. m. Art. 7 Abs. 1 UN- Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)[26] unvereinbar.

Vor dem Hintergrund des aktuellen Prozesses der Reform des SGB VIII ist der Irrweg des OVG NRW auch politisch brisant. In der Diskussion um die sog. „inklusive Lösung“, womit die Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen nach dem 2. Teil des SGB IX und nach § 35a SGB VIII im SGB VIII gemeint ist, wurde die Befürchtung geäußert, dass die Jugendämter möglicherweise nicht in der Lage wären, ihre Rolle als Rehabilitationsträger[27] von ihrer Aufgabe im Rahmen des Wächteramtes aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zu unterscheiden. Was das OVG NRW betrifft, erweist sich diese Befürchtung jedenfalls als begründet.

3. Teleologische Reduktion der Verweisung auf § 57 SGB XII a. F.

Mit den zuvor gemachten Ausführungen ist der teleologischen Reduktion, mit der das OVG NRW sich der Verweisung in § 35a Abs. 3 SGB VIII a. F. auf § 57 SGB XII a. F. entledigt, bereits die Grundlage entzogen, die das OVG darin sieht, dass der Zweck von § 57 SGB XII a. F. i. V. m. §§ 17, 159 a. F. SGB IX ohnehin nicht erreichbar sei. Dennoch ist hier auf dieses Argument einzugehen. Das LAG Baden-Württemberg führt zur teleologischen Reduktion aus:

„Zur Rechtsfortbildung durch teleologische Reduktion […] bedarf es einer besonderen Legitimation. Die teleologische Reduktion einer Norm setzt voraus, dass der Wortsinn des Gesetzes mehr Fallgestaltungen erfasst, als vom Zweck des Gesetzes her berechtigt wäre, so dass die nach dem Zweck des Gesetzes nicht erfassten Fälle entgegen dem Wortsinn von der Norm auszunehmen sind […]. Eine solche Ausnahmelücke muss vom Gesetzgeber unbeabsichtigt nicht erkannt worden sein. Ihre Planwidrigkeit muss aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden können. Richterliche Rechtsfortbildung darf jedoch nicht dazu führen, dass ein Gericht seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt. Nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG wird die Staatsgewalt vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. […] Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den Wortlaut des Gesetzes hintanstellt und sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein […].[28]

Keine der hier überzeugend zusammengefassten Voraussetzungen hat das OVG NRW erfüllt. Stattdessen vertritt es nonchalant, dass eine Norm mindestens in der ganz überwiegenden Zahl ihrer Fälle nicht anzuwenden sei, weil die Anwendung der Norm ihrem Zweck im Regelfall widerspreche. Das OVG NRW bezeichnet sein Argument zwar als teleologische Reduktion, aber es nimmt im Grunde eine teleologische Extinktion vor, die mit der Bindung der Gerichte an das Gesetz unvereinbar ist.

4. Vorbeugende Vereitelung der Revision

Oben wurde gezeigt, warum der Autor die Auffassung des OVG NRW materiell-rechtlich für nicht vertretbar hält. Prozessual hat das OVG seine Auffassung nicht etwa zur Grundlage eines Berufungsurteils, sondern eines Beschlusses nach § 124a Abs. 5 S. 1 VwGO gemacht, gegen den ein ordentliches Rechtsmittel nicht gegeben ist. Dabei ist offensichtlich, dass die Frage, ob und inwieweit Personen, die Anspruch auf Leistungen nach § 35a SGB VIII haben, ein Rechtsanspruch auf ein Persönliches Budget zusteht, grundsätzliche Bedeutung sowohl i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (Berufungszulassungsgrund), als auch i. S. v. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (Revisionszulassungs­grund) hat.[29] Das OVG setzt sich damit dem Verdacht aus, seine Rechtsauffassung vor der Überprüfung durch das Revisionsgericht zu schützen, indem es sie zur Grundlage einer Entscheidung über die Nichtzulassung der Berufung und nicht eines Berufungsurteils macht.

Beitrag von Roland Rosenow, Deutscher Caritasverband

Fußnoten

[1] OVG Münster, 10.12.2018, 12 A 3136/17; erste Instanz.

[2] VG Minden, 17.11.2017, 6 K 6310/16.

[3] Die Änderung erfolgte durch das 6. VwGOÄndG vom 01.11.1996, BGBl. I, 1626. Zur Begründung führte die damalige Bundesregierung aus, die Änderung gehe „von dem Grundsatz aus, dass eine Tatsacheninstanz regelmäßig“ ausreiche (Bundestags-Drucksache 13/3993, S. 13). Wird die Berufung zugelassen, ist das OVG allerdings nach wie vor zweite Tatsacheninstanz, § 128 VwGO.

[4] Am Ende der Begründung führt das OVG aus, der Kläger habe die Leistungen selbst beschafft, ohne dass die Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 SGB VIII für einen Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen vorlägen. Daher sei die Rechtsfrage, ob ein Anspruch auf ein persönliches Budget bestehe, nicht entscheidungserheblich und könne in einem Berufungsverfahren nicht geklärt werden. Doch der Senat scheint selbst nicht so recht zu glauben, dass das richtig ist: Die Entscheidungserheblichkeit ist im Berufungszulassungsantrag substantiiert darzulegen (Bay. VGH, 24.4.2020, 15 ZB 19.1987, Rn. 29). Wäre richtig, was der Senat am Ende der Begründung ausführt, hätte er den Antrag als unzulässig ablehnen müssen, was aber ausdrücklich nicht tut (Rn 1).

[5] VG Minden, 17.11.2017, 6 K 6310/16, Rn 41.

[6] Zum Persönlichen Budget als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe siehe Schindler: Persönliches Budget als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe – oder: Nur Mut zum Unbekannten!; Beitrag D4-2012 unter www.reha-recht.de, 28.02.2012; Haack: Schulbegleitung und Schulbeförderung als Teil eines Persönlichen Budgets – Verwaltungsgericht Frankfurt (oder), Urt. v. 07.12.2011, Az. 6 K 1432/08SG, Beitrag A6-2012 unter www.reha-recht.de, 02.03.2012.

[7] Die erstinstanzliche Entscheidung argumentiert diesbezüglich noch offensiver: „Ein unbedingter Anspruch auf ein Persönliches Budget würde jedoch den Strukturprinzipien des SGB VIII widersprechen. Zu ihnen zählen insbesondere der kooperative, durch einen speziellen Hilfeplan gesteuerte Prozess der Hilfegewährung sowie die Begrenzung des Selbstbestimmungsgedankens in § 1 SGB IX durch die Erziehungsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen, für die der Staat im Rahmen seines Wächteramts (Art. 6 Abs. 2 GG) neben den Eltern oder sonstigen Personensorgeberechtigten eine Mitverantwortung trägt“ (Rn. 45).

[8] BGBl. I, S. 3234.

[9] BGBl. I, S. 2572.

[10] Eine teleologische Reduktion schränkt den Anwendungsbereich einer Norm gegenüber dem Wortlaut ein.

[11] Im Zusammenhang mit § 35a SGB VIII und im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem 6. Kap. des SGB XII bis zum 31.12.2019, siehe § 54 SGB XII idF aus Art. 12 Nr. 2 BTHG v. 23.12.2016, BGBl. I, S. 3315; für alle anderen Rehabilitationsträger bis zum 31.12.2017.

[12] „Die dem besonderen Schutz des Art. 6 GG unterliegende Familie wird durch Strukturprinzipien bestimmt, die sich aus der Anknüpfung der Verfassungsnorm an vorgefundene, überkommene Lebensformen und andere Wertentscheidungen der Verfassung ergeben […].“ BVerfG, 26.02.2008, 2 BvR 392/07, Rn 43.

[13] „Gegenstand der Einrichtungsgarantie ist der Kernbestand von Strukturprinzipien, die sich in der Tradition entwickelt und bewährt haben […].“ BVerfG, 19.9.2007, 2 BvF 3/03, Rn 46.

[14] So wird z. B. der Nachrang von steuerfinanzierten Leistungen gelegentlich als Strukturprinzip apostrophiert, z. B.: „Der Grundsatz des Nachrangs stellt ein Strukturprinzip der öffentlichen Fürsorgeleistungen dar […]“; VG Bayreuth, 12.11.2012 – B 3 K 11.545, Rn. 42.

[15] „Als normübergreifende Ordnungsidee können [Strukturprinzipen] für das systematische Verständnis ihre Bedeutung haben.“ Wahrendorf, Volker: Die Fortgeltung der „Strukturprinzipien“ im SGB XII und ihre Durchbrechung durch das SGB II , in: Fahlbusch, Jonathan: 50 Jahre Sozialhilfe. Eine Festschrift, Berlin 2012, 117–130 <121>.

[16] Wahrendorf a. a. O., S. 120.

[17] Die wohl ausführlichste Apologetik zu den Strukturprinzipien der Sozialhilfe hat Rothkegel formuliert; in: ders. (Hg.): Sozialhilferecht, Baden-Baden 2005, S. 43–124.

[18] Erstmals wohl BVerwG, 10.05.1979, V C 79.77: Keine Anwendbarkeit von § 56 SGB I für das BSHG, Strukturprinzipien als vorrangige Regelungen i. S. v. § 37 S. 1 SGB I.

[19] Ausführlich Wahrendorf a. a. O.; siehe auch Coseriu, Pablo: Das „neue“ Sozialhilferecht, in: Bender / Eicher: Sozialrecht – eine Terra incognita, Saarbrücken 2009, S. 225–226.

[20] Welti, Felix: Persönliche Budgets für behinderte Menschen, PKR 2006, 2-7; SG Mannheim, 02.08.2016, S 9 SO 3871/15.

[21] § 6 SGB IX.

[22] BVerfG, 29.06.1968, 1 BvL 20/63, Rn 45.

[23] BVerfG, 11.11.2018, 2 BvR 1057/91, Rn 64.

[24] S. o.

[25] So im Ergebnis jetzt auch OVG Bremen, Beschl. v. 25.05.2020, 2 B 66/20.

[26] BVerfG, 14.10.2004, 2 BvR 1481/04 i. V. m. BVerfG, 23.3.2011, 2 BvR 882/09.

[27] Siehe dazu Schönecker: Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auf die Kinder- und Jugendhilfe – Erste Hinweise für die Praxis – Teil I: Das Jugendamt als Rehabilitationsträger; Beitrag A6-2019 unter www.reha-recht.de; 16.07.2019.

[28] LAG Stuttgart, 21.02.2014, 7 Sa 64/13, Rn 32 mwN.

[29] Grundsatzbedeutung und (revisionsgerichtliche) Klärungsbedürftigkeit werden dadurch eindrucksvoll bekräftigt, dass die VGe in Bezug auf die zentrale Frage, ob im Rahmen von § 35a SGB VIII ein Rechtsanspruch auf ein Persönliches Budget besteht, sehr unterschiedlich entscheiden; VG Gera, 9.2.2018, 6 E 10/18 Ge (Persönliches Budget im einstweiligen Rechtsschutz zuerkannt, aufgehoben durch OVG Thüringen, 22.05.2018, 3 EO 192/18, jedoch ohne Infragestellung des grundsätzlichen Rechtsanspruchs); OVG Berlin-Brandenburg, 21.06.2016, OVG 6 S 12.16 (Anspruch offen gelassen; VG Frankfurt (Oder), 07.12.2011, 6 K 1432/08 (gebundener Anspruch auf Persönliches Budget anerkannt); VG Freiburg, 05.08.2011, 4 K 86/11 (gebundener Anspruch auf Persönliches Budget anerkannt, unveröffentlicht).


Stichwörter:

Kinder- und Jugendhilfe, Persönliches Budget, Persönliches Budget als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe, Jugendamt, Eingliederungshilfe, Kinder mit Behinderung, Kinder und Jugendliche, § 35 a SBG VIII, § 29 SGB IX


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