29.11.2022 A: Sozialrecht Beyerlein: Beitrag A17-2022

Der Sozialraum im Teilhaberecht – Teil II: Vertragliche Konkretisierung auf Landesebene

Der Autor Michael Beyerlein beschäftigt sich im vorliegenden Beitrag mit dem Begriff des Sozialraums, der an mehreren Stellen im SGB IX normiert ist. Im zweiten Teil untersucht der Autor, welche Regelungen zur Sozialraumorientierung in den Landesrahmenverträgen nach § 131 SGB IX vereinbart wurden und ordnet sie ein. Regelungsmuster zur Umsetzung sind z.B. Verpflichtungen zur Kooperation und Vernetzung oder die Sozialraumorientierung der Angebote als Qualitätsmerkmal zu definieren. Jedoch wurden bisher nicht in allen Bundesländern die bundesrechtlichen Vorgaben zur Sozialraumorientierung der Eingliederungshilfe rahmenvertraglich konkretisiert, was insbesondere vor dem Verfassungsgebot der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und Art. 19 UN-BRK problematisch erscheint.

(Zitiervorschlag: Beyerlein: Der Sozialraum im Teilhaberecht – Teil II: Vertragliche Konkretisierung auf Landesebene; Beitrag A17-2022 unter www.reha-recht.de; 29.11.2022.)

I. Einleitung

Im ersten Teil des Beitrags wurde der enge Zusammenhang von Regelungen zur Sozialraumorientierung und der Umsetzung von Art. 19 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) herausgearbeitet. Im aktuellen Staatenprüfungsverfahren beantwortete die Bundesregierung die Frage des UN-Fachausschusses nach konkreten gesetzlichen und politischen Maßnahmen zur Umsetzung von Art. 19 mit einem Hinweis auf die Pflicht der Länder. Diese hätten auf sozialraumorientierte Angebote hinzuwirken. Im Zuge dessen Verweist die Bundesregierung auch auf die zu verhandelnden Landesrahmenverträge nach § 131 SGB IX.[1] In diesen Rahmenverträgen erfolgt eine Konkretisierung der bundesgesetzlichen Vorgaben u. a. zur Sozialraumorientierung durch Leistungsträger und Leistungserbringer auf Landesebene.[2] Dieser Teil des Beitrags untersucht, welche Regelungen zur Sozialraumorientierung in den Landesrahmenverträgen vereinbart wurden und ordnet sie ein.

II. Regelungen zur Sozialraumorientierung der Eingliederungshilfe in den Ländern

Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge listet auf der Homepage seines Projekts zur Umsetzungsbegleitung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) aktuell 15 abgeschlossene Landesrahmenverträge (LRV) und eine Übergangsvereinbarung auf.[3] Diese Dokumente und ihre Anlagen wurden für diesen Beitrag aufbauend auf einer früheren Ausarbeitung des Autors[4] nach Regelungen zur Sozialraumorientierung untersucht.

1. Quantitative Betrachtung

Eine rein zahlenmäßige Betrachtung der Dokumente zeigt, dass Fragen der Sozialraumorientierung nicht in allen Bundesländern im gleichen Maße thematisiert wurden bzw. dazu Regeln vereinbart[5] wurden. Die Abbildung zeigt, dass Sozialraum und damit im Zusammenhang stehende Begriffe wie Sozialraumorientierung, Gemeinwesen oder Quartier quantitativ am häufigsten in Nordrhein-Westfalen (NRW), Thüringen (TH), Mecklenburg-Vorpommern (MV) und Berlin (BE) auftauchen. In Sachsen-Anhalt (ST), Niedersachsen (NI), Baden-Württemberg (BW) und Hamburg (HH) kommen damit in Zusammenhang stehende Begriffe zwischen 10- und 20-mal vor. Keine Erwähnung findet der Begriff in der bayerischen Übergangsvereinbarung und auch in Hessen (HE) sind mit dem Begriff „Sozialräume“ Pausenräume für Mitarbeitende in besonderen Wohnformen gemeint[6]. Die nachfolgende qualitative Betrachtung gibt einen Überblick, welche Regelungen zum Themenfeld Sozialraumorientierung in den Verträgen getroffen wurden.

2. Grundsätzliche Regelungen

Die Verträge stellen mehrheitlich Bezüge zu den bundesrechtlichen Grundlagen der Sozialraumorientierung her. Die Formulierungen leiten sich in unterschiedlichen Kombinationen aus den §§ 90, 104 und 113 SGB IX ab und betonen, dass die im Vertrag beschriebenen Leistungen nach der Besonderheit des Einzelfalls nach Art des Sozialraums erbracht werden sollen und dass es zu den im Vertrag beschriebenen Leistungen zur sozialen Teilhabe  gehört, Leistungsberechtigte zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum zu befähigen oder sie hierbei zu unterstützen.[7] Ein Beispiel ist diese Regelung in § 9 Abs. 1 LRV BW:

„Das Leistungsangebot ist darauf auszurichten, den Leistungsberechtigten entsprechend ihrem spezifischen Bedarf eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Es soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und Lebensführung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können. Dies beinhaltet eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern und sie zu einer selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum zu befähigen oder sie hierbei zu unterstützen.“

Im LRV NRW wird zusätzlich der Sicherstellungsauftrag der Leistungsträger (§ 95 SGB IX) betont, aber auch der kooperative Charakter der sozialen Dienstleistungserstellung[8] (Punkt A.1.3 Abs 3 LRV NRW). Der LRV NRW unterstreicht, dass die Gestaltung eines inklusiven Sozialraums Aufgabe aller staatlichen Ebenen ist. Es sei Aufgabe des Staates und seiner ausführenden Organe und damit auch der Rehabilitationsträger, für einen barrierefreien Sozialraum zu sorgen. Dabei gehe es nicht nur um Sozialleistungen für die Förderung der Anpassung des Wohnraumes und Wohnumfeldes, sondern auch um die Beseitigung physischer, informationeller und kommunikativer Barrieren (LRV NRW, Anlage J.4, S. 4). Auch die LRV NI und RP betonen jeweils in der Präambel der Verträge die Notwendigkeit zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit, um bedarfsdeckende, am Sozialraum orientierte Leistungsangebote zu schaffen. Hier lassen sich Verknüpfungen zur sozialstrukturellen Ebene des SONI-Prinzips[9] herstellen.

3. Definitionen von Sozialraum und Sozialraumorientierung

Die LRV BE, MV und NRW definieren die Begriffe Sozialraum und Sozialraumorientierung in unterschiedlicher Intensität. In Berlin erfolgt die Definition bereits in der Präambel:

„Der Begriff Sozialraumorientierung hat zwei Bedeutungen, die im Zusammenhang zu betrachten sind. Sozialräume sind in diesem Sinne soziale Gebilde und/oder als Planungsgröße zu verstehen.“

In Mecklenburg-Vorpommern findet sich die Definition in § 4 Abs. 21 LRV MV:

„Sozialraumorientierung heißt, den analytischen Blick auf grundlegende soziale und räumliche Entstehungsbedingungen von Hilfsnotwendigkeit zu lenken und zugleich praktische Handlungsperspektiven anzubieten, die an die Möglichkeiten und Ressourcen eines Quartiers sowie der dort lebenden Menschen anknüpfen und die Perspektive der leistungsberechtigten Person einbeziehen.“

Der LRV NRW nimmt in den Anlagen J.4 und J.5 umfangreiche Definitionen der Begriffe Sozialraum und Personenunabhängige Sozialraumarbeit vor. Hier ein Ausschnitt:

„Für die Erbringung von Leistungen der Sozialen Teilhabe ist die Betrachtung des Einzelfalls maßgeblich. Dies gilt auch für die Bewertung der notwendigen, bedarfsdeckenden und angemessenen Eingliederungshilfemaßnahmen zur Erreichung einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung sowohl im eigenen Wohnraum als auch im Sozialraum.

Der Sozialraum wird im Zusammenhang mit politisch-administrativen und sozialplanerischen Vorhaben, z. B. in § 94 Abs. 3 SGB IX, als sozial, geographisch und strukturell abgrenzbarer Raum definiert. Hierbei ist der Sozialraum ein von geographischen Gegebenheiten und von der öffentlichen Verwaltung definierter Siedlungsraum auf kommunaler Ebene. Er umfasst Kreise, Dörfer und Städte mit ihren Quartieren. Insoweit sind Sozialräume als institutionalisierte Planungs- und Steuerungsräume klar gebietsmäßig umgrenzt.“

Es wird deutlich, dass alle drei Definitionen den Sozialraum als individuelles soziales Gebilde einerseits und geographisch definierbare Planungsgröße mit politisch-administrativer Bedeutung andererseits beschreiben. Die Verbindung von Individualisierungsgrundsatz und Strukturverantwortung kommt insbesondere in den Definitionen der LRV MV und NRW zum Ausdruck.

4. Kooperation und Vernetzung

Die in den Verträgen am häufigsten vereinbarte Methode zur Umsetzung von Sozialraumorientierung ist Kooperation und Vernetzung. Beschreibungen davon finden sich in 11 der 16 untersuchten Verträge. Dabei finden sich am häufigsten Regelungen, die eine Kooperation und Vernetzung mit anderen Diensten und Einrichtungen, Vereinen und Akteuren im Quartier, aber auch die Partizipation an übergreifenden Arbeitsgruppen und gemeindepsychiatrischen Verbünden und Kooperationen mit Gemeinden und Reha-Trägern beschreiben. Es finden sich teilweise nur kurze Erwähnungen in Rahmenleistungsvereinbarungen wie in der Rahmenleistungsvereinbarung zu Leistungstyp 5 im LRV BB: Zu indirekten Leistungen zählen insbesondere „[…] Zusammenarbeit mit regionalen und sozialen Diensten“, aber auch detailliertere Beschreibungen wie in § 5 Abs. 3 LRV SH:

„Anstelle oder unterstützend zur einzelfallspezifischen Leistungen kann die Leistungserbringung zur Verbesserung der sozialen Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Sinne der Inklusion fallübergreifend oder fallunspezifisch erfolgen. Dies bedeutet vor allem die Kooperation und Vernetzung mit anderen Fachkräften sowie nicht-professionellen (ehrenamtlichen oder privaten) Schlüssel- bzw. Bezugspersonen der oder des Leistungsberechtigten sowie die Erschließung bestehender nachbarschaftlicher oder Netzwerk-Ressourcen im Sozialraum.“

Oder die bereits erwähnte sehr detaillierte Beschreibung in Anlage J des LRV NRW:

„Personenunabhängige Sozialraumarbeit kann beispielhaft folgende Aktivitäten umfassen:

  1. Kooperation und zielgerichtete Vernetzung mit anderen professionellen und informellen Akteuren im Sozialraum. Zielgerichtet bedeutet, dass nach dem Eruieren der Möglichkeiten des Sozialraums, konkrete Maßnahmen beschrieben und beschritten werden, um die Möglichkeiten des Sozialraums bezogen auf die Bedarfe der Leistungsberechtigten anzupassen bzw. auszubauen. Identifizierung von Beteiligungsmöglichkeiten und sozialräumlich relevanten, informellen Treffpunkten
  • Nachbarschaftsinitiativen und Bürgervereine
  • Sport- und Freizeitmöglichkeiten
  • Kulturschaffende
  • Verbände, Vereine, örtliche Gemeinschaften
  • zivilgesellschaftliche Initiativen
  • z.B. Boule-Platz im Quartier
  1. Mitarbeit an Quartiersentwicklungsprojekten zur Erschließung/ Weiterentwicklung der Angebote/ Ressourcen im Sozialraum (Bewertung der und aktive Einflussnahme auf die Infrastruktur, um Barrieren abzubauen und Ressourcen auf-bzw. auszubauen)
  2. Mitarbeit bei der Entwicklung von Quartierstreffpunkten (integrative Cafés u.ä.) 
  3. Mitarbeit beim Aufbau und Pflege einer Datenbank zur systematischen Erfassung von Angeboten im Quartier.“

Welche Kooperationen konkret angestrebt sind, ist in NRW in Fachkonzepten[10] darzustellen, in Thüringen wird dies in Einzelvereinbarungen erfasst[11]. Mit Kooperation und Vernetzung einher geht in einigen Vertragswerken die Öffnung eigener Angebote in den Sozialraum, wie das der LRV BE bereits in der Präambel voraussetzt:

„Leistungen werden im persönlichen Sozialraum erbracht, was auch beinhaltet, dass sich Angebote im Sozialraum inklusiv öffnen.“

Im LRV NRW wird dies z.B. in der Rahmenleistungsbeschreibung für das Fachmodul Tagesstruktur und Schulungen (Anlage A.5.7) konkretisiert:

„Die Angebote sind öffentlich bekannt zu geben und zugänglich zu machen. Das bedeutet, dass Menschen mit und ohne Behinderung im Sozialraum davon erfahren können; z.B. durch Aushang, Internet, Radio, Flyer, Quartiers-APPs, je nach Situation im Quartier (Stadt/Land).“

Die Landesrahmenverträge HH, MV und NRW weisen den Leistungserbringern im Rahmen der Netzwerkarbeit auch eine Steuerungsverantwortung für die Leistungen anderer Beteiligter in den Netzwerken zu:

„Die Fachkräfte tragen dabei auch die Verantwortung, i.S.e. Begleitung und Steuerung, für die Leistung anderer  Beteiligter in den individuellen sozialräumlichen Kontexten“ (§ 5 Abs. 1 S. 2 LRV HH).

„Volljährige Menschen mit Behinderungen sollen […] Unterstützung zur Nutzung ihres Sozialraums erhalten, dies schließt eine Befähigung der Akteure im jeweiligen Sozialraum zur Erreichung der individuellen Zielsetzung grundsätzlich mit ein“ (Anlage 1, Beschreibung Leistungsbereich V.2 LRV MV).

Die Rahmenleistungsbeschreibung zum Fachmodul Tagesstruktur und Schulungen (Teil der Leistungen zur Sozialen Teilhabe) des LRV NRW formuliert auch die Erwartung, dass keine Leistungsangebote zu schaffen sind, wenn zielidentische Leistungen von anderen Stellen erbracht werden und verweist dabei auf den Nachrang der Eingliederungshilfe gem. § 91 SGB IX (Anlage A.5.7, S. 7 LRV NRW).

Der LRV BE eröffnet zudem die Möglichkeit, dass verschiedene Leistungserbringer ihre Kräfte in einem Sozialraum bündeln und beispielsweise eine gemeinsame Rufbereitschaft für ein Quartier anbieten. Dafür haben die Leistungserbringer untereinander Verträge zu schließen (§ 10 Abs. 4 Anlage 4 LRV BE). Der LRV HH betont, dass der Auf- und Ausbau relevanter Netzwerke und die Kooperation mit Assistenzangeboten des Leistungserbringers und der Region integrale Bestandteile der Leistungserbringung sind (Anlage 3.1 S. 4 LRV HH).

5. Assistenz und Begleitung im persönlichen Sozialraum

Ergänzend zu den dargestellten strukturellen Voraussetzungen der Sozialraumarbeit finden sich in 7 der 16 untersuchten Verträge Regelungen, die beschreiben, welche Assistenzleistungen sich beispielhaft auf den (individuellen) Sozialraum beziehen sollen. Hier sind es meist die Rahmenleistungsbeschreibungen, die vorgeben, wie Leistungsberechtigte in ihren Sozialräumen begleitet werden sollen, zu Mobilität oder Orientierung in ihren Sozialräumen befähigt werden sollen oder Unterstützung bei der Partizipation an Vereinen, Bürgerinitiativen etc. erhalten oder andere Angebote im Sozialraum nutzen können.[12] So zum Beispiel die Formulierung in § 5 Abs. 6 der Anlage 4 des LRV BE:

„(1) Assistenzleistungen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen, kulturellen und politischen Leben einschließlich Formen bürgerschaftlichen Engagements, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten umfassen die vollständige und/oder teilweise Übernahme von Handlungen, die Begleitung sowie das Anleiten und Üben in der Nutzung von Angeboten im Sozialraum.

(2) Hierzu gehören unter anderem eine systematische und regelmäßige Information der Leistungsberechtigten über bestehende Angebote im Sozialraum in einer ihnen verständlichen Form sowie deren tatsächliche Inanspruchnahme zu ermöglichen.“

Oder in Anlage 1 LRV ST:

„Menschen mit Behinderungen sollen dazu befähigt werden, sich innerhalb des Sozialraums zu orientieren. Sie sollen weiter dazu befähigt werden Mobilität in jeglicher Form zu erlangen, mit ihrer Umwelt kommunizieren zu können und soziale Beziehungen aufzubauen und zu erhalten.“

Auf struktureller Ebene sehen drei LRV vor, dass das Quartier, in dem sich ein Dienst oder eine Einrichtung befindet, unter sozialräumlichen Aspekten in Leistungsvereinbarungen oder Fachkonzepten beschrieben werden soll (§ 2 Anlage zu § 7 Abs. 6 LRV BW, Anlage C.4 LRV NRW, Anlage 2 LRV SL). Ebenfalls werden Leistungserbringer in § 6 Abs. 2 LRV TH verpflichtet, Leistungsberechtigte aus einem ihnen zugewiesenen Sozialraum vorrangig aufzunehmen bzw. die zur Verfügung stehenden Kapazitäten vorrangig für die im Sozialraum ansässigen Leistungsberechtigten vorzuhalten. Eine ähnliche Regelung findet sich in einer Mustervereinbarung für heilpädagogische Leistungen in Kindertageseinrichtungen im LRV NRW (Anlage D.2.1).

6. Sozialraumorientierung als Qualitätsmerkmal

Die Sozialraumorientierung der Angebote findet auch in den Vereinbarungen zur Qualität ihren Niederschlag. Hier konnten in 9 Verträgen Regelungen identifiziert werden. Die meisten Bezüge zu Sozialraum und Sozialraumorientierung fanden sich in den Regelungen zur Strukturqualität[13]. Diese regeln in vielen Fällen, dass Teil der Strukturqualität Kooperationen mit anderen Leistungserbringern, die Einbindung des Leistungsangebots in sozialräumliche Versorgungsstrukturen und Gemeinwesen sind:

„Parameter [der Strukturqualität] sind insbesondere: […] sozialräumliche Einbindung in vorhandene Versorgungs- und Kooperationsstrukturen   sowie in das Gemeinwesen, […]“ (§ 10 Abs. 3 LRV BB)

„Parameter [der Strukturqualität] sind insbesondere: Personelle, räumliche und sächliche Ausstattung, Standort und Größe der Einrichtung bzw. des Dienstes, bauliche Standards, Einbindung in die Versorgungs- u. Kooperationsstrukturen, in das Gemeinwesen und in den Sozialraum, Darstellung der Qualitätssicherungsmaßnahmen, Darstellung des vorgehaltenen Angebots insbesondere der spezifischen Freizeit- oder Bildungsangebote, sowie der Einrichtungsphilosophie“ (§ 10 Abs. 2 LRV ST).

Das wird vom LRV BW auch auf WfbM ausgedehnt:

„Jedes WfbM-Angebot hat zu einer qualitätsgerechten Erbringung der Leistungen nach   §§ 67 und 68 LRV nachfolgende Kriterien umzusetzen: […] - Kooperation mit Betrieben und Dienststellen des allgemeinen Arbeitsmarkts sowie sonstigen Partnern im Sozialraum unter Beteiligung der Leistungsberechtigten“ (§ 69 Abs. 1 LRV BW).

Damit wird auf eine Schnittstelle zwischen Art. 19 und Art. 27 UN-BRK hingewiesen. Auch der UN-Fachausschuss unterstreicht, dass individualisierte Unterstützungsdienste, einschließlich persönlicher Assistenz, eine Voraussetzung für die wirksame Ausübung des Rechts auf Arbeit und Beschäftigung sind.[14] 

In den Verträgen ebenso genannt wird Netzwerkarbeit und die regelmäßige und systematische Information der Leistungsberechtigten zu Angeboten im Sozialraum. Kooperation und Vernetzung sowie die Öffnung der Angebote in das Gemeinwesen werden in einigen Fällen auch als Teil der Prozessqualität beschrieben. Die Einbindung der Leistungsberechtigten in den Sozialraum wird in Berlin, NRW und Thüringen auch als Indikator für Ergebnisqualität der Leistung beschrieben.[15]

7. Evolution oder Revolution?

Die getroffenen Regelungen haben es in unterschiedlicher Intensität zum Ziel, das vorhandene Leistungssystem zu verändern. Der LRV Thüringen sticht mit seiner sehr starken Fokussierung auf den Sozialraum heraus. Das zeigt sich bereits an der Formulierung in § 4 Abs. 1 LRV TH:

„Hilfen nach Teil 2 des SGB IX werden für alle Leistungsberechtigten sozialräumlich erbracht. Die Definition der jeweiligen sozialräumlichen Grenzen und Zuordnungen obliegt dem örtlichen Träger der Eingliederungshilfe, wobei eine Aufgliederung des administrativen Territoriums einer Kommune in mehrere Sozialräume möglich ist. Den individuellen Bedarfen der jeweiligen Leistungsberechtigten ist durch entsprechend flexible und offene Konzepte Rechnung zu tragen.“

In § 6 LRV TH, der Art, Umfang, Ziel und Qualität der Leistungen der Eingliederungshilfe regelt, findet sich zudem dieser Abs. 2:

„Der Leistungserbringer ist verpflichtet, im Rahmen der vereinbarten Leistung Leistungsberechtigte zu begleiten und zu unterstützen. Die zur Verfügung stehenden Kapazitäten sind vorrangig für die im Sozialraum ansässigen Leistungsberechtigten vorzuhalten.“

Die in Thüringen getroffenen Vereinbarungen können als erster Schritt hin zur schrittweisen Abschaffung von institutionellen Wohnformen gesehen werden, wie es Artikel 19 UN-BRK langfristig vorsieht.[16] Das zeigt insbesondere § 4 Abs. 2 LRV TH. Die Leistung soll demnach vorrangig durch Kooperationen im Sozialraum die Verfügbarkeit und Erreichbarkeit aller für die Leistungserbringung notwendigen räumlichen und sächlichen Ressourcen gewährleisten und so strukturersetzend wirken.

III. Fazit

In Teil I des Beitrags wurde aufgezeigt, dass es ein wesentliches Ziel der Regelungen zur Sozialraumorientierung in der Eingliederungshilfe ist, Art. 19 UN-BRK umzusetzen. Vertragsstaaten müssen danach gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben. Sie sollen Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben und Einrichtungen für die Allgemeinheit sollen ihren Bedürfnissen Rechnung tragen.

Die bundesgesetzlichen Regelungen wurden, angelehnt an die Definitionen aus der Sozialen Arbeit, hybrid ausgestaltet. So soll einerseits dem Individualitätsgrundsatz Rechnung getragen werden und den ausführenden Akteuren andererseits aufgegeben werden, quartiersnahe, nicht segregierende Angebote zu schaffen und zu diesen zu beraten, um selbstbestimmtes Wohnen außerhalb von Einrichtungen zu ermöglichen. Sozialraumorientierung kann, muss aber nicht zum Ergebnis haben, dass diese Angebote genutzt werden.[17]

Die Konkretisierung dieser bundesgesetzlichen Vorgaben obliegt Leistungsträgern und Leistungserbringern in den Ländern. Es zeigt sich bereits an der Häufigkeit von Begriffen wie Sozialraum oder Sozialraumorientierung in den Landesvereinbarungen, dass diese Konkretisierung nicht in allen Bundesländern gleichermaßen erfolgt ist. Eine tiefere Betrachtung zeigt, dass in nur 9 von 16 Bundesländern in den Landesrahmenverträgen auf zentrale bundesgesetzliche Regelungen zur Sozialraumorientierung wie §§ 95, 104 und 113 SGB IX explizit Bezug genommen wird. Ebenfalls in neun Landesrahmenverträgen wurden Aspekte sozialräumlicher Arbeit als Qualitätsmerkmal festgeschrieben und dort am häufigsten eine Zuordnung zur Strukturqualität vorgenommen. Nur drei Landesrahmenverträge nehmen Definitionen der unbestimmten Begriffe vor. Immerhin 11 der Rahmenverträge beziehen sich auf Kooperation und Vernetzung und setzen damit einen Rahmen für fallunspezifische Sozialraumarbeit. Sieben der Landesregelungen geben in Rahmenleistungsbeschreibungen vor, dass Leistungsberechtigte in ihren Sozialräumen begleitet werden sollen und greifen damit die fallspezifische Seite der Sozialraumorientierung auf. Eine am Status Quo gemessen radikale Veränderung des Leistungssystems hin zu deinstitutionalisierten Angeboten im Sozialraum scheint derzeit nur in Thüringen geplant zu sein.

Die Ergebnisse geben gemessen an Art. 19 UN-BRK keinen Grund zur Euphorie. Allein die Tatsache, dass in zwei großen Flächenländern noch überhaupt keine Regelungen zur Sozialraumorientierung getroffen wurden, lässt befürchten, dass Menschen mit Behinderung kurz- und mittelfristig nicht in jedem Bundesland sozialraumorientierte Leistungsangebote vorfinden werden. Die Ergebnisse der Untersuchung bestätigen insofern die jüngst veröffentlichten Erkenntnisse von Harry Fuchs: „Die erheblichen Unterschiede die bundesweit in den für die Umsetzung des BTHG bedeutsamen Bereichen bestehen, lassen es wenig wahrscheinlich erscheinen, dass das Verfassungsgebot der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse für Menschen mit Behinderung erreicht wird.“[18]

Die Untersuchung hat jedoch auch gezeigt, dass es in einigen Bundesländern sehr ambitionierte und umfangreiche Regelungen zur Sozialraumorientierung gibt, die das Potenzial haben, einen Beitrag zur Umsetzung von Art. 19 UN-BRK zu leisten. Wo es keine rahmenvertraglichen Vorgaben gibt, können sich abweichende Zielvereinbarungen zur Erprobung neuer und zur Weiterentwicklung der bestehenden Leistungs- und Finanzierungsstrukturen nach § 132 SGB IX daran orientieren.

Im Herbst 2023 wird vom Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung der kombinierte zweite und dritte Staatenbericht Deutschlands zur Erfüllung der Verpflichtungen aus der UN-BRK geprüft.[19] Es kann mit Spannung erwartet werden, wie er vor dem Hintergrund der sehr unterschiedlichen Ausgestaltung in den Ländern die Umsetzung von Art. 19 UN-BRK beurteilt.

Literaturverzeichnis

Beyerlein, Michael, Die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in den Bundesländern – Teil II: Konkretisierung durch Landesrahmenverträge und Trennung von Fach- und existenzsichernden Leistungen, Beitrag A5-2020 unter www.reha-recht.de; 02.04.2020.

Beyerlein, Michael, Kurzgutachten zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in den Bundesländern, Bremen 2021, https://www.behindertenbeauftragter.bremen.de/sixcms/media.php/13/2021-08-17%20-%20Beyerlein_Kurzgutachten_final.pdf, zuletzt abgerufen  am 13.10.2022.

Bundesregierung, Zweiter und dritter Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Berlin 2019, https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/das-institut/abteilungen/monitoring-stelle-un-behindertenrechtskonvention/staatenberichtsverfahren zuletzt abgerufen am 07.11.2022.

CRPD/C/DEU/CO/1, Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen - Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands, Genf/New York 2015, https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/Weitere_Publikationen/CRPD_Abschliessende_Bemerkungen_ueber_den_ersten_Staatenbericht_Deutschlands.pdf, zuletzt abgerufen am 07.11.2022.

CRPD/C/GC/5, Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen – Allgemeine Bemerkung Nr. 5 (2017) zum selbstbestimmten Leben und Inklusion in die Gemeinschaft, Genf/New York 2017, https://www.gemeinsam-einfach-machen.de/SharedDocs/Downloads/DE/AS/UN_BRK/AllgBemerkNr5.pdf;jsessionid=636DF7346CD0EC2F11EBF3F2880BC5F5.1_cid330?__blob=publicationFile&v=6, zuletzt abgerufen am 01.11.2022.

Fuchs, Harry, Können gleichwertige Lebensverhältnisse gewahrt werden?, Herausforderungen bei der Umsetzung des BTHG, Beitrag A14-2022 unter www.reha-recht.de; 07.10.2022.

Kahl, Yvonne/Gundlach, Miriam, Mehr sozialraumorientierte Praxis dank BTHG?, Teil I: Rechtlicher Rahmen und theoretische Einordnung des Begriffs Sozialraumorientierung, Beitrag D32-2021 unter www.reha-recht.de; 15.11.2022.

Krämer, Kilian, Relevanz von Fachkonzepten auf dem Weg zu einer personenzentrierten Eingliederungshilfe, Ergebnisse einer Abschlussarbeit im B.A. Soziale Arbeit, Beitrag D15-2021 unter www.reha-recht.de; 07.04.2021.

Kuhn, Andreas, Qualitätsmanagement, in: Deutscher Verein für Öffentliche und Private Fürsorge (Hrsg.), Fachlexikon der Sozialen Arbeit, 9., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage, Baden-Baden 2022 (zitiert: Kuhn, in: Deutscher Verein für Öffentliche und Private Fürsorge (Hrsg.)).

Beitrag von Michael Beyerlein, LL.M., Universität Kassel

Fußnoten

[1] Bundesregierung 2019, Zweiter und dritter Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, S. 36.

[2] Siehe dazu Beyerlein, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht 2020.

[3] Siehe https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/gesetz/umsetzung-laender/, zuletzt abgerufen am 14.11.2022.

[4] Beyerlein 2021, Kurzgutachten zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in den Bundesländern.

[5] Der gesetzliche vorgesehene Normalfall ist, dass Landesrahmenverträge zwischen den Verbänden der Leistungsträger und Leistungserbringer auf Landesebene vereinbart werden. Kommt es nicht innerhalb von sechs Monaten nach schriftlicher Aufforderung durch die Landesregierung zu einem Rahmenvertrag, kann diese die Inhalte durch Rechtsverordnung regeln (§ 131 Abs. 4 SGB IX). Von dieser Möglichkeit hat die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern Gebrauch gemacht. Siehe GVOBl. M-V 2019, S. 858.

[6] Siehe die Erläuterung (dort Fn. 3) zu § 8 Abs. 2 LRV HE.

[7] § 9 LRV BW; § 1 Anlage 4 Teil 1 LRV BE, Leistungstypeschreibungen 2, 4, 5, 10, 11 LRV HB; § 4 Abs. 6 LRV HH, § 13 Abs. 2 LRV MV; Punkte A.1.4, B.4.1 Abs. 3, Anlage J.4 LRV NRW; § 5 Abs. 1 LRV SH; Präambel LRV ST; § 4 Abs. 1 Anlage 4 LRV TH.

[8] Leistungsträger haben sicherzustellen, dass die zur Ausführung von Sozialleistungen erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen. Sie arbeiten darum mit gemeinnützigen und freien Einrichtungen und Organisationen zusammen (§ 17 Abs. 3 SGB I). Die Leistungsträger erhalten dabei auch Unterstützung durch die Länder, die ebenfalls den Auftrag haben, auf flächendeckende, bedarfsdeckende, am Sozialraum orientierte und inklusiv ausgerichtete Angebote von Leistungsanbietern hinzuwirken und die Träger der Eingliederungshilfe bei der Umsetzung ihres Sicherstellungsauftrages zu unterstützen (§ 94 Abs. 3 SGB IX).

[9] Siehe dazu Teil I dieses Beitrags, S. 3.

[10] Vgl. dazu Krämer, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht 2021.

[11] So die Musterleistungsvereinbarung in Anl. 4 LRV TH.

[12] Vgl. Bspw. Anlage Leistungsbeschreibung Assistenz zu § 47 Abs. 6 LRV BW, §§ 5 und 6 Anlage 4 Teil 1 Assistenzleistungen LRV Berlin, Punkt 5.2 Anlage 3.1 LRV HH, Anlage V.2 LRV MV, Anlage A.5.2 Nr. 6 LRV NRW, Anlage 1 LRV ST.

[13] Zu den Qualitätsdimensionen personenbezogener sozialer Dienstleistungen siehe Kuhn, in: Deutscher Verein für Öffentliche und Private Fürsorge (Hrsg.), Fachlexikon der Sozialen Arbeit.

[14] CRPD/C/GC/5, Nr. 91.

[15] § 8 Abs. 3 LRV BE; Punkt A.7.2.3 Abs. 1 LRV NW; § 12 Abs. 7 LRV TH.

[16] CRPD/C/DEU/CO/1, Nr. 49.

[17] Kahl/Gundlach, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht 2021, S. 4.

[18] Fuchs, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht 2022, S. 6.

[19] https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/das-institut/abteilungen/monitoring-stelle-un-behindertenrechtskonvention/staatenberichtsverfahren, zuletzt abgerufen am 14.11.2022.


Stichwörter:

Sozialraum, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Eingliederungshilfe, Soziale Teilhabe, Landesrahmenverträge


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