19.09.2019 A: Sozialrecht Nebe: Beitrag A18-2019

EuGH stärkt den Schutz vor behinderungsbedingter Diskriminierung – kein Abdrängen behinderter Menschen auf vorzeitigen Rentenbezug – Anmerkung zu EUGH, 19.09.2018, C-312/17 (Rs. Bedi)

Die Autorin bespricht die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 19.09.2018 in der Rechtssache Bedi (C-312/17). Der EuGH hatte sich mit einer deutschen Tarifregelung zur sozialen Sicherung der Arbeitnehmer bei Stationierungsstreitkräften in der Bundesrepublik Deutschland zu befassen. Im Kern geht es um die Frage, ob ein Mensch mit Behinderung diskriminiert wird, wenn er die Voraussetzungen der Regelaltersrente oder einer vorgezogenen Rente erfüllt, und deswegen von einer Überbrückungsbeihilfe nach dem Tarifvertrag ausgeschlossen wird.

(Zitiervorschlag: Nebe: EuGH stärkt den Schutz vor behinderungsbedingter Diskriminierung – kein Abdrängen behinderter Menschen auf vorzeitigen Rentenbezug – Anmerkung zu EUGH, 19.09.2018, C-312/17 (Rs. Bedi); Beitrag A18-2019 unter www.reha-recht.de; 19.09.2019)

I. Einleitung – Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

Der EuGH hat in seiner Entscheidung vom 19.9.2018 in der Rechtssache Bedi (C-312/17) das Recht von Menschen mit Behinderungen auf gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben gestärkt. Zu entscheiden war über eine deutsche Tarifregelung. Konkret ging es um den Tarifvertrag vom 31.8.1971 zur sozialen Sicherung der Arbeitnehmer bei den Stationierungsstreitkräften im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Dieser sieht eine Überbrückungsbeihilfe für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor, die wegen weggefallener Beschäftigungsmöglichkeit entlassen worden sind. Der Tarifvertrag schließt wiederum diejenigen von der Leistung aus, die die Voraussetzungen zum Bezug der Regelaltersrente oder einer vorgezogenen Altersrente erfüllen.

Der Kläger im Vorlageverfahren erfüllte schon kurz nach Bezug der Überbrückungsbeihilfe die Voraussetzungen für die vorgezogene Altersrente für schwerbehinderte Menschen, wie sie im deutschen Rentenversicherungsrecht vorgesehen ist.[1] Die Überbrückungsbeihilfe wurde ihm daraufhin versagt. Hiergegen klagte er wegen behinderungsbedingter Diskriminierung. Wie schon Generalanwältin Sharpston sah jetzt auch der EuGH im pauschalen Ausschluss von der Überbrückungsbeihilfe, unabhängig vom tatsächlichen Bezug der vorgezogenen Rentenleistung, eine behinderungsbedingte Diskriminierung.

II. Einordnung in die bisherige Rechtsprechung

Diese Entscheidung ist vor allem deshalb so wichtig, weil das Bundesarbeitsgericht bisher in diesen Fällen anders argumentiert hat: Der Ausschluss von der tariflichen Überbrückungsleistung für den Fall einer vorgezogenen Rentenberechtigung knüpfe, so das Bundesarbeitsgericht, in Anbetracht der unterschiedlichen Voraussetzungen für den Bezug einer vorgezogenen Altersrente nicht an die Behinderung allein an; zudem sei der Ausschluss jedenfalls durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels erforderlich und angemessen.[2] Das vorlegende Landesarbeitsgericht Hamm (Vorlagebeschluss, 28.3.2017, 14 Sa 312/16; zust. bereits Matzke ZESAR 2018, 171) hatte angesichts der bisherigen Rechtsprechung des EuGH[3] Zweifel an dieser höchstrichterlichen deutschen Rechtsprechung (zweifelnd zuvor bspw. auch schon LAG Hessen, 04.09.2015,14 Sa 1288/14, NZA-RR 2016, 122) und wurde in seiner Skepsis nun vom EuGH bestätigt.

III. Entscheidungsgründe des EuGH

Nach sorgfältiger Prüfung bejaht der EuGH zurecht die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Allgemeinen Gleichbehandlungsrichtlinie (RL 2000/78/EG), denn die tarifliche Überbrückungsbeihilfe ist ein Entgelt i. S. d. Art. 157 Abs. 2 Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV), auf den in der Richtlinie Bezug genommen wird. Der Ausschluss von der Leistung wegen des Rechts auf vorgezogene Altersrente stellt noch keine unmittelbare behinderungsbedingte Diskriminierung dar, denn vorgezogene Altersrenten kommen nach deutschem Recht aus verschiedenen, auch behinderungsunabhängigen Gründen in Betracht. Der Gerichtshof stellt sodann jedoch eine mittelbare Diskriminierung gem. Art. 2 Abs. 2 Buchstabe b) RL 2000/78/EG fest. Hierzu vergleicht er das Gesamteinkommen einer behinderten mit dem einer nicht behinderten Person in der Situation des Klägers und stellt fest, dass die vorgezogene und deshalb verringerte Altersrente bei Schwerbehinderung zuzüglich der gesetzlichen maximalen Hinzuverdienstgrenze immer noch geringer ist als das von einer nicht behinderten Person in der gleichen Situation erzielte Gesamteinkommen, bestehend aus der Überbrückungsbeihilfe und der Vergütung aus einem neuen Arbeitsverhältnis. Sodann befasst sich der EuGH näher mit der mittelbaren Ungleichbehandlung und deren Rechtfertigung.

1. Wichtige Prämisse: Vergleichbare Situation behinderter und nichtbehinderter Beschäftigter trotz rentenrechtlicher Vorteile bei Schwerbehinderung

Wichtig ist schon die erste Prämisse des EuGH, mit der er insbesondere der Bundesrepublik Deutschland widerspricht: Menschen mit und ohne Behinderung sind bei betriebsbedingter Entlassung durch ihren Arbeitgeber in derselben Situation, denn die Arbeitsverhältnisse enden aus demselben Grund und unter denselben Voraussetzungen und unabhängig davon, dass für bestimmte Arbeitnehmergruppen nachfolgend günstigere soziale Absicherungsbedingungen bestehen, z. B. bei bevorstehender Regelaltersrente oder bei vorzeitiger Altersrente, z. B. wegen Schwerbehinderung. Dieser rentenrechtliche Vorteil bringt die begünstigten schwerbehinderten Arbeitnehmer nicht in eine andere Situation als z. B. diejenigen Arbeitnehmer, die mit der höheren Regelaltersgrenze zu einem späteren Zeitpunkt eine längere Überbrückungssituation haben. Damit sind alle entlassenen Arbeitnehmer und insbesondere die schwerbehinderten und die nichtbehinderten Arbeitnehmer zunächst vergleichbar.[4] Die mittelbaren Unterschiede in der Gewährung der Überbrückungsbeihilfe sind daher anhand von Art. 2 Abs. 2 Buchstabe b) Ziff. 1) RL 2000/78/EG dahin zu prüfen, ob die unterschiedliche Behandlung durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt ist, die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen sind und nicht über das zur Erreichung des angestrebten Ziels Erforderliche hinausgehen. Auch insoweit arbeitet der EuGH sorgfältig.

2. Rechtfertigungskontrolle der tariflichen Differenzierung

Die Überbrückungsbeihilfe zielt darauf, ältere, langjährig beschäftigte Arbeitnehmer nach der betriebsbedingten Entlassung in ihrem Lebensunterhalt zu unterstützen und geringere Einkommen in einem neuen Arbeitsverhältnis oder aufgrund von Arbeitslosigkeit zu kompensieren. Besonders zu betonen ist der zugleich verfolgte Anreiz, die Beschäftigten mit einem neuen Arbeitsverhältnis außerhalb des Bereichs der Stationierungsstreitkräfte im Arbeitsprozess zu halten und zwar auch dann, wenn die Vergütung den früheren Verdienst oder sogar das Arbeitslosengeld unterschreitet.[5] Der EuGH bejaht die Rechtmäßigkeit des konkreten Ziels der Überbrückung und sieht die Notwendigkeit, angesichts begrenzter Mittel deren gerechte Verteilung zu gewährleisten. Der EuGH hält die konkrete Ausschlussregelung für diejenigen, die eine vorgezogene Altersrente beziehen können und damit zumindest einen wirtschaftlichen Schutz erlangen, nicht für unangemessen.

3. Ungleichbehandlung im Ergebnis nicht erforderlich

Letztlich scheitert die Ungleichbehandlung an der Erforderlichkeit der Regelung zur Erreichung des legitimen sozialpolitischen Ziels der Überbrückung. Denn die Überbrückungshilfe entfällt nicht nur beim tatsächlichen vorzeitigen Bezug der Rente, sondern schon bei der bloßen Möglichkeit, eine vorzeitige Altersrente wegen Schwerbehinderung zu beanspruchen. Dieser konkrete Ausschluss im Tarifvertrag bei der bloßen Möglichkeit des Rentenbezugs nimmt schwerbehinderten Menschen damit die Wahl, bis zum Bezug einer nicht vorgezogenen Altersrente weiter zu arbeiten und daneben die Überbrückungsbeihilfe zu erhalten. Dies liefe zudem auf eine Verletzung des Rechts auf gleichberechtigte Erwerbsteilhabe zuwider, was hier allerdings vom EuGH nicht mehr gesondert angeführt worden ist.[6] Der EuGH kritisiert zudem, dass die Sozialpartner die im Alter wachsenden besonderen Bedarfe behinderter Menschen und den damit verbundenen finanziellen Mehraufwand nicht hinreichend berücksichtigt haben. Hieraus folgert der EuGH, dass die Sozialpartner bei der Verfolgung der legitimen Ziele, einen Ausgleich für die Zukunft zu gewähren und bei der beruflichen Wiedereingliederung zu unterstützen, maßgebliche Interessen der schwerbehinderten Menschen außer Acht gelassen haben. Die über das Erforderliche hinausgehende Tarifregelung kann damit nicht gerechtfertigt werden.

4. Abwägung zwischen Diskriminierungsschutz und Tarifautonomie

Der EuGH setzt sich mit seinem Prüfergebnis auch nicht leichtfertig über die gem. Art. 28 Grundrechtecharta (GRC) gewährleistete Tarifautonomie hinweg. Schon eingangs seiner Ausführungen zur Rechtfertigung[7] weist er auf den weiten Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten und Sozialpartner sowohl hinsichtlich des mit einer Regelung verfolgten konkreten Ziels wie auch bei der Festlegung der konkreten Maßnahmen hin. Als er auf die Erforderlichkeit der tariflichen Ausschlussregelung zu sprechen kommt, hebt er die durch Art. 28 GRC geschützte Tarifautonomie nochmals besonders hervor. Der EuGH macht deutlich, dass ihm der besondere Hintergrund für das Zustandekommen tariflicher Regelungen im Vergleich zu hoheitlichen Maßnahmen bewusst ist, im Rahmen von Kollektivverhandlungen einen Ausgleich zwischen den jeweiligen Interessen der Sozialpartner festzulegen (Urteil, Rn. 68).

V. Fazit: Kollektive Verantwortung für inklusive Arbeitsmarktgestaltung

Gerade aber im schwierigen Verhandlungsfeld sind die Risiken zum Nachteil von Minderheiten gehender Regelungen nicht unwesentlich. Der Weg zum inklusiven Arbeitsmarkt ist nicht nur eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung in der EU, sondern ebenso für die kollektiven Akteure der traditionell jahrzehntelang exkludierenden Arbeitswelt.[8] Für die klare Zuweisung von Verantwortlichkeiten, auch an die durch Art. 28 GRC besonders geschützten Tarifparteien, den Schutz vor behinderungsbedingter Diskriminierung ernst zu nehmen,[9] ist dem EuGH zu danken. Auf eine deutliche Signalwirkung an Mitgliedstaaten und Sozialpartner ist zu hoffen.

Beitrag von Prof. Dr. iur. Katja Nebe, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Fußnote

[1] Vgl. § 236a bzw. § 37 SGB VI.

[2] Vgl. BAG, Beschluss vom 06.10.2011, 6 AZN 815/11, BAGE 139, 226 = NZA 2011, 1431.

[3] Vgl. EuGH, 6.12.2012, Rs. Odar, C‑152/11, NZA 2012, 1435, zust. Heuschmid AuR 2013, 269.

[4] Vgl. so auch schon BAG, 21.11.2017, 9 AZR 141/17, ZTR 2018, 217, Rn. 27 ff. gegen differenzierende Vorruhestandsregelungen; zust. Vossen DB 2018, 1031.

[5] Vgl. Urteil, Rn. 37.

[6] Vgl. dazu nur Brose, Das Recht auf Arbeit behinderter Menschen nach Art. 27 UN-BRK, in: Bieback, u. a. (Hrsg.), Der Beitrag des Sozialrechts zur Realisierung des Rechts auf Gesundheit und des Rechts auf Arbeit für behinderte Menschen, S. 135 ff.

[7] Vgl. Urteil, Rn. 59.

[8] Vgl. nur Interpretationsleitfaden des EGB zur Rahmenvereinbarung über Integrative Arbeitsmärkte, http://resourcecentre.etuc.org/spaw_uploads/files/CES_travail%20inclusif_AL_BAT.PDF, zuletzt abgerufen am 19.09.2019.

[9] Dazu auch Nebe in Deinert/Heuschmid/Kittner/Schmidt (Hrsg.), Festschrift für Klebe, S. 292.


Stichwörter:

Europäischer Gerichtshof (EuGH), Altersrente, Diskriminierung, Diskriminierungsschutz


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