20.09.2019 A: Sozialrecht Köppen: Beitrag A19-2019

Zugang zur Universität trotz Behinderung – Anmerkung zu EGMR Urteil v. 30.01.2018, Enver Sahin ./. Türkei

Die Autorin bespricht eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte  (EGMR) vom 30.01.2018, Enver Sahin ./. Türkei. Der EGMR befasst sich in der Entscheidung mit der Frage, ob der querschnittgelähmte Beschwerdeführer, der aufgrund nicht behinderungsgerechter Hochschulgebäude an seinem Studium gehindert wird, in seinen Rechten aus Art. 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) i. V. m. Art. 2 1. Zusatzprotokoll EMRK (Recht auf Bildung) verletzt ist (Beschwerdenummer: 23065/12. Das Urteil ist derzeit nur auf Französisch verfügbar. In englischer Sprache: Pressemitteilung (Press Release by the Registrar of the Court) ECHR 037 (2018) vom 30.8.2018 unter https://hudoc.echr.coe.int/eng-press#{%22itemid%22:[%22003-5989451-7665919%22]}. Alle EGMR Urteile sind offiziell auf www.hudoc.echr.coe.int  zu finden.

Der Beitrag ist zuerst in der Zeitschrift Recht und Praxis der Rehabilitation (RP-Reha), Heft 4/2018 erschienen.

(Zitiervorschlag: Köppen: Zugang zur Universität trotz Behinderung – Anmerkung zu EGMR Urteil v. 30.01.2018, Enver Sahin ./. Türkei; Beitrag A19-2019 unter www.reha-recht.de; 20.09.2019)

I. Einleitung

Der querschnittsgelähmte Beschwerdeführer (Bf.) konnte sein Hochschulstudium nicht fortsetzen, da die Verwaltung das Gebäude nicht behinderungsgerecht umbaute. Der EGMR sah darin eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) i. V. m. Art. 2 1. Zusatzprotokoll (ZP) EMRK (Recht auf Bildung). Richter Lemmens äußerte in einem Sondervotum (dissenting opinion) systematische Gegenargumente, die im Ergebnis jedoch nicht überzeugen können. Vielmehr ist die Entscheidung des Gerichts, die die Rechte von Menschen mit Behinderung stärkt, begrüßenswert.

II. Sachverhalt

Gegenstand des Urteils war die Beschwerde von Enver Sahin gegen die Türkei.

Der Bf. studierte Mechanik an der Universität Firat, als er 2005 unfallbedingt eine Querschnittlähmung erlitt. Nachdem sich sein Gesundheitszustand ausreichend stabilisiert hatte, wollte er 2007/2008 sein Hochschulstudium fortsetzen. Er ersuchte die Universität um Umbaumaßnahmen, damit die Räume auch für ihn mit seiner Beeinträchtigung zugänglich werden. Die Universität lehnte dies jedoch angesichts der Kürze der Zeit und wegen fehlender finanzieller Mittel ab. Dagegen klagte der Bf. von 2007 bis 2011 erfolglos vor den türkischen Verwaltungsgerichten.

Der Bf. sah sich in seinem Recht auf Bildung (Art. 2 1. ZP i. V. m. Art. 14 EMRK) verletzt und diskriminiert. Den Lösungsvorschlag der Universität, ihm einen Begleiter zur Verfügung zu stellen, der ihn durch das dreistöckige Gebäude trägt, wies er als entwürdigend und als Eingriff in sein Privatleben (Art. 8 EMRK) zurück.

III. Die Entscheidung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied, dass die Beschwerde zulässig und in Bezug auf die Verletzung von Art. 2 1. ZP i. V. m. Art. 14 EMRK begründet ist. Der EGMR sieht den Bf. in seinem Recht auf Bildung diskriminiert. Dem Bf. wurden 10.000 € für den erlittenen immateriellen Schaden und 2.952 € für aufgewendete Gerichtskosten zugesprochen.

1. Verletzung von Art. 2 1. ZP i. V. m. Art. 14 EMRK

Der EGMR stellt zunächst klar, dass für ihn die Diskriminierung im Mittelpunkt der Individualbeschwerde steht. Art. 14 EMRK hat keine eigenständige Bedeutung, sondern vervollständigt nur die anderen Rechte aus der Konvention und kann daher nur im Zusammenhang mit der Verletzung eines anderen Rechts aus der EMRK geltend gemacht werden. Dafür zieht der EGMR das Recht auf Bildung (Art. 2 1. ZP) heran.

Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK)

Die EMRK selbst enthält keinen allgemeinen Gleichheitssatz[1], sondern nur ein Diskriminierungsverbot mit einem Katalog von Diskriminierungsgründen, wobei „Behinderung“ nicht explizit mit aufgezählt wird, aber als sonstiger Status anerkannt ist.[2] In Bezug auf die garantierten Rechte der Konvention („festgelegte Rechte und Pflichten“) ist jede statusbezogene Diskriminierung untersagt.[3] Art. 14 EMRK kann somit nur im Zusammenhang mit einem anderen Recht der Konvention geltend gemacht werden (sog. Akzessorietät des Diskriminierungsverbots). [4]

Diskriminierung meint eine objektiv ungerechtfertigte Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren Situationen. Die Ungleichbehandlung ist objektiv und vernünftigerweise ungerechtfertigt, wenn sie keinen legitimen Zweck verfolgt und unverhältnismäßig ist. Art. 14 EMRK verbietet es Staaten jedoch nicht, sondern gebietet es unter Umständen sogar (sog. positiv obligation), verschiedene Gruppen unterschiedlich zu behandeln, um „faktische Ungleichbehandlungen“ zu korrigieren.[5]

Recht auf Bildung (Art. 2 1. ZP)

„Niemandem darf das Recht auf Bildung verwehrt werden. (…)“

Das in der Negation formulierte Recht auf Bildung beschreibt ein subjektives Teilhaberecht und ist die zentrale Garantie des Art. 2 1. ZP.[6] Daraus folgt ein Recht auf Zugang zu bestehenden staatlichen Bildungseinrichtungen, wie z.B. Universitäten.[7] Das Recht auf Bildung ist jedoch nicht absolut, sondern kann beschränkt werden, wenn die Beschränkungen vorhersehbar sind, ein legitimes Ziel verfolgen, verhältnismäßig sind und Konflikte mit entgegenstehenden Rechten ausgeglichen werden.[8]

Aus der negativen Formulierung folgt das Prinzip der Gleichbehandlung aller bei der Ausübung des Rechts auf Bildung.[9] Außerdem folgt aus Art. 2 1. ZP i. V. m. Art. 14 EMRK ein Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu bestehenden Bildungseinrichtungen.[10]

Zunächst hat der EGMR die Eröffnung des Anwendungsbereichs von Art. 2 1. ZP i. V. m. Art. 14 EMRK festgestellt und die Zulässigkeit der Beschwerde geprüft und bejaht. Sodann erläutert der EGMR im Rahmen der Begründetheit zunächst verschiedene Grundprinzipien,[11] z. B. bzgl. des Schutzumfangs des Rechts auf Bildung und des Diskriminierungsverbots. Der EGMR erinnert daran, dass die einzelnen Rechte der Konvention immer im Lichte der Konvention als Ganzes gesehen werden müssen und im Rahmen anderen geltenden internationalen Rechts. Vorliegend sei insbesondere die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu beachten. Auch spricht der EGMR davon (Rn 62), dass Konsens darüber besteht, dass inklusive Bildung Bestandteil der internationalen Verantwortung der Staaten ist.[12]

Der EGMR setzt sich mit den gegen den Umbau vorgetragenen Einwänden auseinander. Das Argument, es seien spontan keine finanziellen Mittel verfügbar, lässt der Gerichtshof trotz des Einschätzungsspielraums der Staaten nicht gelten (Rn 64). Die für den Bf. erforderliche Zugänglichkeit könne nicht solange ausgesetzt werden, bis alle finanziellen Mittel zur freien Verfügung stehen und die Umbaumaßnahmen abgeschlossen sind. Vielmehr ist es in einem solchen wie dem vorliegenden Fall die positive Pflicht der Staaten, aktiv die Konventionsrechte zu stärken anstatt nur passiv zu bleiben.[13] Dies ist nötig, um die Rechte der EMRK nicht nur illusorisch, sondern konkret und effektiv zu garantieren.[14]

Der EGMR geht davon aus, dass es sich hier um einen Fall „angemessener Vorkehrungen“ handelt (Art. 5 UN-BRK). Solche seien, vereinfacht gesagt, zu treffen, damit Menschen mit Behinderungen am alltäglichen Leben teilhaben können. Der EGMR definiert nicht, was genau solche angemessenen Vorkehrungen sein können, sondern begrenzt sich in seiner Prüfung auf die Frage, ob die Türkei aufmerksam und umsichtig mit ihren Pflichten bzgl. Menschen mit Behinderungen umgegangen ist und die Auswirkungen ihrer Wahl bedacht und abgewogen hat, insbesondere im Hinblick auf die besondere Schutzbedürftigkeit von Menschen mit Behinderungen.

Unter diesem Aspekt stellt der EGMR fest, dass das Hilfsangebot in Form eines Begleiters, der den Bf. innerhalb des Universitätsgebäudes tragen würde, dieser Anforderung nicht gerecht wird. Vielmehr verkenne dieser Vorschlag die Bedürfnisse des Bf., sein Recht auf eine autonome, selbstbestimmte Lebensweise (vgl. Art. 3 a UN-BRK) sowie seine Würde und Sicherheit. Dieses unpassende Angebot könne daher, im Hinblick auf das Recht auf Privatleben des Bf. (Art. 8 EMRK), nicht als angemessen angesehen werden.

Unter Berücksichtigung all dieser Überlegungen kommt der EGMR vorliegend zu dem Schluss, dass die türkischen Gerichte in ihrer Abwägung zwischen dem Recht auf Bildung und den begrenzten Möglichkeiten der Verwaltung die Bedürfnisse des Bf. weitestgehend außer Acht gelassen haben. Die fehlende erforderliche Sorgfalt führte dazu, dass kein angemessener Ausgleich erzielt wurde.

Der EGMR sieht daher Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 2 1. ZP als verletzt an.

2. Verletzung von Art. 2 1. ZP (selbstständig) und Verletzung von Art. 8 EMRK i. V. m. Art. 14 EMRK

(1) Der EGMR erachtet es nicht als notwendig, eine mögliche Verletzung von Art. 2 1. ZP eigenständig zu prüfen.[15]

(2) Der Bf. sah sich gleichzeitig durch das Angebot einer Assistenz in seinem Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK) verletzt. Der EGMR hält dies für zulässig, lehnt eine gesonderte Prüfung dessen im Rahmen der Begründetheit aber ab.

IV. Sondervotum von Richter Lemmens

Das Urteil erging mit einer Mehrheit von sechs zu eins Stimmen. Richter Lemmens begründet im Anhang zum Urteil auf 10 Seiten sein abweichendes Votum sehr ausführlich.

Er kritisiert im Wesentlichen, dass es sich nicht um einen Fall versagter „angemessener Vorkehrungen“ und der Diskriminierung handele, sondern des „Zugangs“ und des Rechts auf Bildung. Die Beschwerde sei weiterhin unbegründet, ihre Zulässigkeit bzgl. Art. 8 EMRK zweifelhaft.

1. Angemessene Vorkehrungen oder Zugänglichkeit? Art. 14 EMRK oder Art. 2 1. ZP?

Nach Richter Lemmens‘ Auffassung stehe nicht die Diskriminierung im Mittelpunkt der Beschwerde, sondern das Recht auf Zugang zu Bildung (Art. 2 1. ZP). Der EGMR hatte diese Position mehrheitlich abgelehnt und es nach der Befassung mit der Diskriminierung nicht für nötig befunden, Art. 2 1. ZP eigenständig zu prüfen.

Aber eben diese Entscheidung sei wegweisend für die weitere Prüfung. Der Ansatz des Gerichts (Diskriminierung) führt zu der Frage der positiven Pflichten des Staates bzgl. angemessener Vorkehrungen. Bei Lemmens‘ Ansatz geht es eher um die Frage des Zugangs zu Bildung. Die beiden Begriffe, angemessene Vorkehrungen und Zugang, umfassen jedoch verschiedene Aspekte und werden in der UN-BRK unterschiedlich geregelt.

Angemessene Vorkehrungen sind in Art. 2 UN-BRK definiert. Der Begriff des Zugangs ist hingegen in Art. 9 UN-BRK geregelt und ist weitreichender als angemessene Vorkehrungen.

Art. 2 BRK – Angemessene Vorkehrungen

Im Sinne dieses Übereinkommens (…) bedeutet „angemessene Vorkehrungen“ notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können.

Art. 9 BRK – Zugänglichkeit

(1) Um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen mit dem Ziel, für Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, zu gewährleisten. Diese Maßnahmen, welche die Feststellung und Beseitigung von Zugangshindernissen und -barrieren einschließen, gelten unter anderem für Gebäude, Straßen, Transportmittel sowie andere Einrichtungen in Gebäuden und im Freien, einschließlich Schulen, Wohnhäusern, medizinischer Einrichtungen und Arbeitsstätten; Informations-, Kommunikations- und andere Dienste, einschließlich elektronischer Dienste und Notdienste.

Art. 24 BRK – Bildung

(5) Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen haben. Zu diesem Zweck stellen die Vertragsstaaten sicher, dass für Menschen mit Behinderungen angemessene Vorkehrungen getroffen werden.

Der Unterschied zwischen den beiden Begriffen wurde auch vom Komitee für die Rechte der Menschen mit Behinderung herausgearbeitet und mehrfach betont.[16]

Demnach muss zwischen den Verpflichtungen bei Neubauten (Stichwort universelles Design) und barrierefreien Umbauten unterschieden werden. Staaten sind verpflichtet, Menschen mit Behinderungen den Zugang u. a. zu öffentlichen Gebäuden sicherzustellen. Für die schrittweise Umsetzung dieser Verpflichtung bzgl. Altbauten sollen von den Staaten feste Zeitpläne vorgegeben werden und angemessene Mittel zu Verfügung gestellt werden. (Nr. 24 der Allg. Anmerkung Nr. 2) „Zugänglichkeit“ bezieht sich auf Gruppen und besteht ex ante, während sich „angemessene Vorkehrungen“ auf Einzelpersonen bezieht und ex nunc wirkt. Eine Person mit einer seltenen Beeinträchtigung, für die quasi die allg. Zugänglichkeit nicht ausreicht (blinde Person, die z. B. Braille-Schrift nicht lesen kann), könnte eine Vorkehrung verlangen, die außerhalb des Anwendungsbereichs der Zugänglichkeit liegt. Sparmaßnahmen sind keine Entschuldigung für die Nichtumsetzung der Pflicht zur Verwirklichung der Zugänglichkeit. Diese gilt vorbehaltslos. Aber die Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen besteht nur, wenn die Verwirklichung keine unzumutbare Belastung bedeutet. (Nr. 25, 26 der Allg. Anmerkung Nr. 2)

Für die Konventionsstaaten ergibt sich somit, dass sie ihrer allgemeinen Pflicht des Zugangs gerecht werden müssen und sie evtl. noch verpflichtet werden können, in Einzelfällen angemessene Vorkehrungen zu treffen.

Vorliegend beschwert sich der Bf. inhaltlich über die fehlende Zugänglichkeit und nicht über unterbliebene angemessene Vorkehrungen, die nur ihm gerecht werden würden. Die Beschwerde sei daher auf Art. 2 1. ZP gerichtet und nicht auf die Diskriminierung.

2. Zugang zu Bildung (Art. 2 1. ZP)

Der Zugang zu Bildung ist fest im ersten Satz des Art. 2 1. ZP verankert. Es ist folglich die Pflicht der Staaten, die Gebäude – auch für Menschen mit Behinderungen – zugänglich zu machen. Diese Pflicht muss von der Türkei schrittweise und fristgerecht verwirklicht werden (s. o.). In der Türkei existierte ein Gesetz,[17] das vorsah, dass alle öffentlichen Gebäude innerhalb von sieben Jahren ab 2005 für Menschen mit Behinderungen zugänglich gemacht werden sollen. Somit hatte die Türkei geplant, bis 2012 ihren Verpflichtungen gerecht zu werden, und dafür auch finanzielle Mittel bereitgestellt. Der Sachverhalt spielt innerhalb der Frist, in der die Umbauten stattfinden sollten. Dennoch forderte der Bf. den Umbau sofort, woraufhin die Universität antwortete, dass dies ad hoc nicht möglich sei, ihm aber eine Hilfsperson angeboten werde.

Nach Auffassung des Richters Lemmens seien an dieser Stelle nicht genügend Fakten des Sachverhalts bekannt, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass die Universität ihrer Pflicht nicht ausreichend nachgekommen sei. Der Bf. habe vielmehr nicht ausreichend mit der Universität kommuniziert und erst vor dem Gericht wesentliche Punkte vorgetragen. Während die gesetzliche Frist noch lief, konnte die Universität nicht innerhalb weniger Wochen vor Beginn des Semesters Umbaumaßnahmen vornehmen. Übergangsweise wurde daher eine Hilfsperson angeboten. Dieses Angebot war, laut Richter Lemmens, tatsächlich keine akzeptable Lösung, aber der Bf. hat darauf nie geantwortet oder der Universität erklärt, warum es nicht in Betracht kommt. Der Bf. wirft der Universität später vor, dass dies von ihrem Unverständnis gegenüber seiner Situation zeugt. Richter Lemmens sieht darin eher das Kommunikationsproblem des Bf. bestätigt und vermutet, dass der Rektor bei genaueren Informationen sicherlich ein anderes Angebot noch hätte unterbreiten können. Diese Möglichkeit habe ihm der Bf. nicht eröffnet.

Richter Lemmens kommt zu dem Schluss, dass das Geschehen unglücklich war, aber dass der Staat damit nicht seine Pflicht aus Art. 2 1. ZP verletzt hat.

3. Versagung angemessener Vorkehrungen (Art. 14 EMRK)

Aus denselben Gründen wie bei Art. 2 1. ZP sieht Richter Lemmens nicht, dass dem Bf. hinsichtlich seiner besonderen Situation angemessene Vorkehrungen versagt worden sind und somit auch Art. 14 EMRK nicht verletzt sei. Abermals betont der Richter, dass sich bei besserer Kommunikation der Sachverhalt anders dargestellt hätte. Wenn die Universität auch bei größerer Transparenz keine Maßnahmen zugunsten des Bf. ergriffen hätte, sei seine Meinung bzgl. des Vorliegens einer Diskriminierung sicherlich anders.

4. Angebot einer Begleitperson (Art. 8 EMRK evtl. i. V. m. Art. 14 EMRK)

Die Mehrheit der Richterinnen und Richter sah die Beschwerde bzgl. Art. 8 EMRK als zulässig an, hielt jedoch die Prüfung der Begründetheit für nicht notwendig.

Streitgegenstand dieses Punktes ist das Angebot der Universität, dem Bf. eine Begleitperson zur Seite zu stellen, welches der Bf. nicht in Anspruch nahm. Somit hat eine Assistenz durch eine Hilfsperson nie stattgefunden. Nach Richter Lemmens‘ Meinung stellt dies – ein bloßer Vorschlag ohne tatsächliche Auswirkungen – keine Verletzung i. S. d. Art. 34 EMRK dar. Die Beschwerde wäre damit unter diesem Punkt unzulässig.

V. Würdigung /Kritik

Die dissenting opinion von Richter Lemmens spricht viele unschlüssige Punkte im Urteil an.

Insbesondere bzgl. Art. 8 EMRK ist Richter Lemmens zuzustimmen. Der gut gemeinte, aber unpassende Vorschlag einer Hilfsperson verletzt noch nicht das Privatleben. Die Beschwerde in diesem Punkt innerhalb von vier Sätzen (§§ 77–79) für zulässig zu erklären, aber eine Prüfung der Begründetheit für unnötig zu halten, kann so nicht überzeugen.

Bezüglich der Ausführungen zu Art. 2 1. ZP und Art. 14 EMRK ist ihm hingegen nicht zuzustimmen. Es ist hervorzuheben, dass der EGMR in ähnlichen Fällen seine Argumentation ebenfalls auf Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 2 1. ZP und die Frage von angemessenen Vorkehrungen stützt.[18] Zu Art. 2 1. ZP trägt Richter Lemmens vor, es lägen nicht genügend Sachverhaltsangaben vor, um zu schlussfolgern, die Universität sei ihren Pflichten nicht ausreichend nachgekommen und es habe sich dem Anschein nach eher um ein Kommunikationsproblem gehandelt. Sicherlich wirkt sich eine klare Kommunikation grundsätzlich positiv aus. Dass nicht genügend Fakten vorlägen, kann jedoch nicht überzeugen. Der Bf. hatte bei der Universität mehrmals (Umbau-)Maßnahmen erfragt. Diese wurden mittelfristig abgelehnt und ihm dafür eine Hilfsperson angeboten. Dies trug der Bf. vor und ist damit seiner prima facie Beweislast gerecht geworden. Mit dem unangemessenen Angebot einer Hilfsperson ist die Universität ihrer Pflicht zur diskriminierungsfreien Gestaltung des Zugangs zu ihren Einrichtungen nicht gerecht geworden. Die mangelnde Kommunikation, die Richter Lemmens dem Bf. vorwirft, kann somit ebenso der Universität vorgehalten werden. Dass der Rektor bei weiterer Kommunikation „sicherlich andere Angebote hätte finden können“, ist recht spekulativ.

Richter Lemmens zeigt jedoch auf, dass die Mehrheit der Richterinnen und Richter mit den Begrifflichkeiten der UN-BRK ungenau verfährt. Seine Hinweise und Strukturierungen dazu sind insofern berechtigt und lesenswert. Nichtsdestotrotz gelangt Lemmens zu einem falschen Schluss. Eine bessere Kommunikation ist sicherlich grundsätzlich hilfreich, um die Zugänglichkeit selbst auch diskriminierungsfrei zu organisieren, dennoch ist es das Recht des Bf., den Klageweg zu beschreiten. Dies kann ihm nicht vorgeworfen werden, wie vorliegend implizit durch Richter Lemmens geschehen. Vielmehr hätte das erstinstanzliche Gericht für eine umfassende Sachverhaltsaufklärung sorgen müssen, sodass mögliche Kommunikationsdefizite hätten behoben werden können. Dies geschah jedoch nicht und der Situation wurde keine Abhilfe geschaffen.

Sparmaßnahmen können, wie der EGMR ausführte, dem Recht auf Bildung nicht grundsätzlich entgegenstehen. Natürlich müssen die Belange der Staaten berücksichtigt werden und Richter Lemmens‘ Einwand, dass ein Umbau quasi von heute auf morgen unrealistisch ist, ist richtig. Dies muss in der Abwägung berücksichtigt werden. Das Recht auf Bildung ist jedoch essenziell und somit von erheblichem Gewicht. Die Rechte der Konvention sollen, wie bereits dargestellt, praktisch und effektiv gewährleistet werden, damit der Menschenrechtsschutz in Europa nicht nur theoretisch und illusorisch ist. Das Recht auf Bildung beginnt vorliegend ganz praktisch mit dem Zugang zu dem Universitätsgebäude. Dieser Zugang wurde dem Bf. vorliegend verwehrt. Das Angebot einer Hilfsperson, die den Bf. trägt, kann dem nicht gerecht werden. Wohl aber hätte die Universität andere Möglichkeiten, wie z. B. einen Raumwechsel, bedenken können, solange die gesetzliche Frist zum behinderungsgerechten Umbau noch nicht abgelaufen ist. Der EGMR bedenkt all diese Faktoren innerhalb seiner Abwägung. Der de-facto-Ausschluss des Bf. von dem Zugang zu dem Universitätsgebäude und seine Rechtsverletzung wiegen dabei deutlich schwerer als die staatlichen Interessen. Eine Verletzung der Konventionsrechte wurde zu Recht festgestellt. Es ist zu begrüßen, dass der EGMR die Rechte von Menschen mit Behinderung betont und stärkt, auch wenn das Urteil zu diesem Ergebnis auf rechtssystematisch nicht ganz präzisen Wegen gelangt.

Weitere Fälle zum Thema Universitätszugang:

  • Urteil v. 10.11.2005, Nr. 44774/98, Leyla Şahin ./. Türkei

Verbot des Tragens von religiösen Kopftüchern an der Universität Istanbul stellt keine Verletzung der Konvention (Art. 8, 9, 10, 14 EMRK, Art. 2 1. ZP) dar.

  • Urteil v. 7.2.2006, Nr. 60856/00, Mürsel Eren ./. Türkei

Verletzung von Art. 2 1. ZP durch die willkürliche Nichtzulassung zur Universität wegen zu gut bestandenem Eignungstest.

  • Urteil v. 23.2.2016, Nr. 51500/08, Çam ./. Türkei

Verletzung von Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 2 1. ZP durch Nichtzulassung zum Konservatorium (Instrument: „Baglama“) wegen Blindheit.

Beitrag von Sophie Köppen, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Fußnoten

[1] Erst später wurde zusätzlich Art. 1 12. ZP eingeführt.

[2] Vgl. EGMR U. v. 30.4.2009, Nr. 13444/04 (Glor ./. Schweiz), Rn 80.

[3] Grabenwarter/Pabel, EMRK, 6. Aufl., 2016, § 26, Rn 1.

[4] Vgl. Frowein/Peukert, Art. 14 Rn 2; Siehe u. a. EGMR U.v. 12.4.2006, Nr. 65731/01 u. 65900/01 (Stec u. a. ./. UK); EGMR U.v. 22.1.2008, Nr. 43546/02 (E.B. ./. Frankreich).

[5] Siehe u.a. EGMR U.v. 13.11.2007, Nr. 57325/00 (D.H. u. a. ./. Tschechien); EGMR U. v. 7.11.2013, Nr. 29381/09 u. 32684/09 (Vallianatos u. a. ./. Griechenland).

[6] Grabenwarter/Pabel, EMRK, 6. Aufl., 2016, § 22, Rn 81.

[7] Grabenwarter/Pabel, EMRK, 6. Aufl., 2016, § 22, Rn 87; EGMR U.v. 10.11.2005, Nr. 44774/98 (Leyla Sahin ./. Türkei); EGMR U.v. 7.2.2006, Nr. 60856/00 (Mürsel Eren ./. Türkei).

[8] Grabenwarter/Pabel, EMRK, 6. Aufl., 2016, § 22, Rn 88.

[9] EGMR U.v. 10.11.2005, Nr. 44774/98 (Leyla Sahin ./. Türkei).

[10] EGMR U.v. 7.2.2006, Nr. 60856/00 (Mürsel Eren ./. Türkei).

[11] „General priciples“ oder „Principles généraux“.

[12] So auch der EGMR bereits in U. v. 23.2.2016, Nr. 51500/08 (Çam ./. Türkei), Rn 64.

[13] Vgl. EGMR U. v. 13.6.1979, Nr. 6833/74 (Marckx ./. Belgien).

[14] EGMR in ständiger Rechtsprechung seit EGMR U.v. 9.10.1979, Nr. 6289/73 (Airey ./. Irland), so auch EGMR U. v. 10.11.2005, Nr. 44774/78, § 136 (Leyla Sahin ./. Türkei).

[15] In EGMR U. v. 23.2.2016, Nr. 51500/08 (Çam ./. Türkei) sah der EGMR eine separate Prüfung von Art. 2 1. ZP neben einer Verletzung von Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 2 1. ZP ebenfalls als nicht notwendig an.

[16] Komitee für die Rechte der Menschen mit Behinderung, Allgemeine Bemerkung Nr. 2 (2014) zu Art. 9 BRK (Zugang) vom 11. April 2014 und Allgemeine Anmerkung Nr. 4 (2016) dort insb. Nr. 29.

[17] Art. 2 Gesetz Nr. 5378 vom 1. Juli 2005 abgedruckt im Urteil unter Nr. 22.

[18] EGMR U.v. 23.2.2016, Nr. 51500/08 (Çam ./. Türkei). Siehe dazu auch Welti/Frankenstein/Hlava, Angemessene Vorkehrungen und Sozialrecht, S. 32.


Stichwörter:

Chancengleiche Teilhabe an Hochschulbildung, Internationales, Angemessene Vorkehrungen, Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), Menschenrechtskonforme Auslegung


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