18.09.2020 A: Sozialrecht Jordan: Beitrag A19-2020

Die Informationspflicht im Kinder- und Jugendhilferecht (§36a Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII) bei selbstbeschafften Leistungen im Spiegel der Genehmigungsfiktion nach § 18 SGB IX

Der Autor Andreas Jordan befasst sich damit, ob die Informationspflicht im Kinder- und Jugendhilferecht (§ 36a Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII) im Rahmen des Kostenerstattungsanspruchs infolge einer Genehmigungsfiktion (§ 18 Abs. 3, 4 SGB IX) zu berücksichtigen ist. Der Autor prüft zunächst die Anwendung der Regelungen zur rehabilitationsrechtlichen Genehmigungsfiktion im Kinder- und Jugendhilferecht und anschließend das Verhältnis zwischen den Regelungen im SGB IX und SGB VIII. Er kommt zu dem Schluss, dass die kinder- und jugendhilferechtliche Pflicht zur Information des leistenden Trägers über die Selbstbeschaffung einer Leistung keine Voraussetzung für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 18 Abs. 4 SGB IX darstellt. Die Regelung stärke die Position der Leistungsbegehrenden, gleichwohl sieht er gesetzgeberischen Handlunsgbedarf.

PhDr. Andreas Jordan, LL.M. arbeitet als Sozialjurist beim Landkreis Kassel und ist Lehr­beauftragter an der CVJM-Hochschule Kassel sowie der Universität Kassel.

(Zitiervorschlag: Jordan: Die Informationspflicht im Kinder- und Jugendhilferecht [§ 36a Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII] bei selbstbeschafften Leistungen im Spiegel der Genehmigungsfiktion nach § 18 SGB IX; Beitrag A19-2020 unter www.reha-recht.de; 18.09.2020)

I. Fragestellung

Mit § 14 SGB IX wurde vom Gesetzgeber eine Regelung in das SGB IX aufgenommen, um das Teilhabeverfahren zu konzentrieren, zu vereinfachen und ein mehrfaches Hin- und Herschieben („Ping-Pong“) zwischen den Behörden zu vermeiden.[1] Im Vordergrund standen zwei wichtige Aspekte, zum einen eine rasche Klärung der Zuständigkeit,[2] zum anderen eine möglichst schnelle Leistungsentscheidung.

Mit Einführung der Vorschrift wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass behinderte Menschen die benötigten Teilhabeleistungen zügig und wie „aus einer Hand“ erhalten.[3]

Um die Rechte der behinderten Menschen zu stärken, wurde am 1. Januar 2018 das Bundesteilhabegesetz (BTHG) auf den Weg gebracht, das in unterschiedlichen Stufen in Kraft trat. Allerdings ist ein Großteil der Veränderungen noch nicht in der Verwaltungspraxis aller Jugendämter angekommen.[4]

In der Praxis spürt man, dass die unterschiedlichen Reformstufen des BTHG für viel Verunsicherung sorgen, da die Vorschriften des Teilhaberechts (SGB IX) nicht immer deckungsgleich mit den Vorschriften des Kinder- und Jugendhilferechts (SGB VIII) sind. Die Synchronisation der beiden Regelungskreise ist nicht immer einfach und es entstehen viele unterschiedliche Rechtsfragen, die nach und nach gelöst werden müssen.

In dem vorliegenden Beitrag soll untersucht werden, ob ein Kostenerstattungsanspruch gemäß § 18 Abs. 4 SGB IX von dem leistenden Rehabilitationsträger gemäß § 14 SGB IX abgelehnt werden darf, wenn sich die Betroffenen die beantragte Teilhabe­leistung aufgrund einer fingierten Genehmigung gemäß § 18 Abs. 3 SGB IX selbst beschaffen und die Selbstbeschaffung nicht angemeldet wurde. Problematisch ist, dass das Kinder- und Jugendhilferecht (§ 36a Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII) im Gegensatz zu § 18 Abs. 3 SGB IX im Falle einer Selbstbeschaffung eine Informationspflicht an den zu­ständigen Jugendhilfeträger vorsieht.

II. Die Genehmigungsfiktion nach § 18 Abs. 3 SGB IX

Der leistende Rehabilitationsträger hat gem. § 14 Abs. 2 SGB IX den Rehabilitations­bedarf des Antragstellers unverzüglich und umfassend festzustellen und die Leistung zu erbringen. Bleibt der leistende Rehabilitationsträger jedoch untätig, könnten sich die Betrof­fenen die Leistungen zur Teilhabe nach § 18 Abs. 3 und 4 SGB IX selbst beschaffen. Schließlich soll die Untätigkeit des Rehabilitationsträgers nicht auf dem Rücken der behinderten Menschen ausgetragen werden.

Nach § 18 Abs. 1 SGB IX sind die leistenden Rehabilitationsträger dazu verpflichtet, innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Antragseingang den Leistungsberechtig­ten schriftlich darüber zu informieren, was die Gründe dafür sind, dass die Behörde noch keine Entscheidung getroffen hat. Erfolgt nach § 18 Abs. 3 SGB IX keine begründete Mitteilung, gilt die beantragte Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt (Genehmi­gungsfiktion). Die Leistung gilt aber auch dann als genehmigt, wenn der in der Mitteilung bestimmte Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag ohne weitere begründete Mit­teilung des Rehabilitationsträgers abgelaufen ist.

Die Genehmigungsfiktion wurde am 1. Januar 2018 neu in das SGB IX aufgenommen. Sinn und Zweck der Genehmigungsfiktion ist, die Rechtsposition der Menschen mit Behinderungen zu stärken und die Rechtsfolge bei einer Fristüberschreitung der Reha­bilitationsträger zu regeln.[5] Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) empfiehlt für die ersten verwaltungsrechtlichen Gehversuche der Genehmigungsfiktion, die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 13 Abs. 3a SGB V heran­zuziehen. Eine kurze Zusammenfassung der einschlägigen BSG-Urteile befindet sich auf der Internetseite der BAR.[6] Mittlerweile haben der erste und dritte Senat des BSG in zwei Entscheidungen die ideellen Wechselwirkungen von § 13 Abs. 3a SGB V und § 18 Abs. 3 SGB IX hervorgehoben.[7]

Durch diese relativ neue Rechtsfigur erhalten die Leistungsberechtigten die Möglichkeit, sich die Leistung selbst zu beschaffen und einen Kostenerstattungsanspruch gegen den “leistenden Rehabilitationsträger” geltend zu machen.[8]

Die neue Rechtsfigur gilt jedoch nicht für die Träger der öffentlichen Jugendhilfe (SGB VIII). In § 18 Abs. 7 SGB IX heißt es:

„Die Absätze 1 bis 5 gelten nicht für die Träger der Eingliederungshilfe, der öffentlichen Jugendhilfe und der Kriegsopferfürsorge.“

Schaumberg stellt in diesem Zusammenhang die interessante Frage, ob die Anwendung der Genehmigungsfiktion auch dann ausschlossen ist, wenn ein anderer als in § 18 Abs. 7 SGB IX genannter Rehabilitationsträger (z. B. Krankenkasse, Rentenversiche­rungsträger, etc.) über Leistungen nach dem SGB VIII entscheiden muss. Denn nach § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX ist es auch möglich, leistender Rehabilitationsträger zu werden, obwohl der jeweilige Rehabilitationsträger nicht nach seinem Leistungsgesetz zuständig ist.[9]

Das Sozialgericht (SG) Reutlingen[10] ist der Ansicht, dass Rehabilitationsträger, die beispielweise auf der Grundlage des SGB VIII eine Entscheidung treffen müssen, selbst zum Träger der öffentlichen Jugendhilfe werden. Dem hält Schaumberg jedoch entgegen, dass der Begriff des Jugendhilfeträgers im Sozialgesetzbuch klar definiert ist und dass für die Leistungsbewilligung nach § 14 SGB IX keine Notwendigkeit bestehe, selbst zum Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu werden.

Sind also Rehabilitationsträger, die nicht nach § 18 Abs. 7 SGB IX ausgenommen sind, leistende Rehabilitationsträger, dann gelten für sie die Regelungen der § 18 Abs. 1 bis 5 SGB IX auch dann, wenn sie die Leistungen auf der Grundlage der Leistungsgesetze der ausgenommenen Rehabilitationsträger bewilligen.“[11]

Im Umkehrschluss bedeutet das Ergebnis von Schaumberg, dass die Genehmigungsfiktion nicht anwendbar ist, wenn beispielsweise die Träger der öffentlichen Jugendhilfe aufgrund von § 14 SGB IX Teilhabeleistungen nach dem SGB III, SGB V, SGB VI oder SGB VII erbringen müssen.

Werden also Leistungen auf der Grundlage des SGB VIII erbracht, muss der leistende Rehabilitationsträger, der nicht Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist, die Leistungs­gesetze im Kinder- und Jugendhilferecht berücksichtigen und die Genehmigungsfiktion ist anwendbar.

Problematisch ist allerdings, dass sich die Betroffenen die benötigte Leistung zunächst selbst beschaffen müssen, indem sie das jeweilige Hilfesystem rechtzeitig aktivieren und ggf. in finanzielle Vorleistung[12] treten müssen. Erst dadurch erhalten sie einen Kostenerstattungsanspruch gegen den leistenden Rehabilitationsträger (vgl. § 18 Abs. 4 SGB IX). Hier besteht jedoch im Kinder- und Jugendhilferecht die Möglichkeit, dass der leistende Rehabilitationsträger den Kostenerstattungsanspruch mit der Begründung ablehnt, dass er im Vorfeld nicht über die selbstbeschaffte Leistung informiert wurde, da § 36a Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII im Gegensatz zu § 18 Abs. 3 SGB IX im Falle einer Selbstbeschaffung eine Informationspflicht an den zuständigen Jugendhilfeträger vorsieht. Schließlich fordert das SGB IX den leistenden Rehabilitationsträger dazu auf, die Leistungen nach den jeweiligen Leistungsgesetzen (im eigenen Namen) zu erbringen.

III. Verhältnis von § 18 Abs. 4 SGB IX zu § 36a Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII

Das Kinder- und Jugendhilferecht ist historisch gewachsen und so aufgebaut, dass die Steuerungsverantwortung für einen Hilfeprozess von Beginn an bei dem zuständigen Jugendamt liegt. Der Gesetzgeber möchte, dass das Jugendamt die Kosten nur dann trägt, wenn es selbst fachlich über die Eignung und Notwendigkeit der Hilfe entschieden hat. Aus diesem Grunde verbietet § 36a Abs. 1 SGB VIII grundsätzlich die Selbst­beschaffung einer Leistung (§ 2 Abs. 2 SGB VIII).[13] Das Verbot wurde 2005 mit dem KICK (Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz) in das SGB VIII aufgenom­men. Mit § 36a SGB VIII reagierte der Gesetzgeber auf die Kritik der Jugendämter, dass diese als bloße Zahlstellen missbraucht wurden.[14]

Unter Bezug auf das von der Rechtsprechung entwickelte Haftungsinstrument zum Selbstbeschaffungsverbot[15] wurde mit § 36a Abs. 3 SGB VIII eine Vorschrift in das Gesetz aufgenommen, welche Ausnahmen von diesem „Grundsatz“ vorsieht. Eine Voraus­setzung ist, dass das System der Jugendämter für dringend erforderliche Sach- und Dienstleistungen versagt.[16] Ein Systemversagen liegt beispielweise vor, wenn die Träger der öffentlichen Jugendhilfe trotz einer gesetzlichen Verpflichtung die Leistung nicht erbringen und der Leistungsberechtigte gezwungen ist, sich die Leistung selbst zu beschaffen.[17] Diese Bedingung ist erfüllt, wenn die Leistungserbringung zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung unaufschiebbar war.[18] Einen Kostenerstattungsanspruch haben die Berechtigten allerdings nur dann, wenn sie das Jugendamt vor der Selbstbeschaf­fung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt haben.

Zu klären ist, ob im Falle einer selbstbeschafften Leistung im Rahmen der Genehmigungsfiktion der leistende Rehabilitationsträger nach § 14 SGB IX zu informieren ist, wenn er im eigenen Namen Leistungen der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche erbringen muss, weil er den Antrag auf Leistungen zur Teilhabe für seelisch behinderte Kinder nicht innerhalb der Zwei-Wochen-Frist an den sachlich zuständigen Jugendhilfeträger weitergeleitet hat.

Nach § 36a Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII sind nämlich die Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn der Leistungsberechtigte den Jugendhilfeträger vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis setzte.

Die Informationspflicht ist im Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII) von fundamentaler Bedeutung. Es gibt eine Vielzahl an Gerichtsentscheidungen, die zu dem Ergebnis kamen, dass Jugendhilfeträger nur dann die Kosten erstatten müssen, wenn sie im Vorfeld über die Inanspruchnahme der Leistung(en) informiert wurden.[19]

Zunächst muss geklärt werden, ob die Informationspflicht aus dem Kinder- und Jugend­hilferecht im Rahmen der Genehmigungsfiktion überhaupt anwendbar ist, da nach § 7 Abs. 1 SGB IX die Vorschriften des Teil 1 (§§ 1–89 SGB IX) nur gelten, soweit sich aus den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen nichts Abweichendes ergibt.

Vorliegend kommt es jedoch zu einer Abweichung, da § 36a Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII im Gegensatz zum Kostenerstattungsanspruch aus § 18 Abs. 4 SGB IX eine Kenntnis voraussetzt. Damit ist eine Selbstbeschaffung der Leistung nur möglich, wenn der Leistungsberechtigte den leistenden Rehabilitationsträger im Voraus über die Selbst­beschaffung informiert hat.

Dem Wortlaut nach („in Kenntnis gesetzt“) muss der Hilfesuchende den Bedarf beim Jugendamt anmelden. Kunkel und Pattar sind der Ansicht, dass eine Anmeldung zwingend erforderlich ist, wobei die Anmeldung auch formlos oder konkludent erfolgen kann.[20]

Sollte die Anmeldung des Bedarfs aus objektiven und subjektiven Gründen nicht möglich sein, muss der Hilfeempfänger den Bedarf ohne schuldhaftes Zögern (vgl. § 121 Abs. 1 BGB) nachmelden, sobald das Hindernis entfallen ist (§ 36a Abs. 3 S. 2 SGB VIII). Ansonsten hat der Hilfeempfänger keinen Anspruch auf die selbstbeschaffte Leistung.[21]

Die Konkurrenzregelung des § 7 Abs. 2 SGB IX schreibt den Rehabilitationsträgern jedoch vor, dass abweichend von Abs. 1 die verfahrensrechtlichen Regelungen nach den §§ 9–25 SGB IX den Leistungsgesetzen vorgehen. Wie lassen sich die beiden Vorgaben mit dem Kinder- und Jugendhilferecht synchronisieren?

Fraglich ist zunächst, ob § 36a Abs. 3 SGB VIII dem Leistungsrecht oder dem Verfahrensrecht zuzuordnen ist. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 SGB VIII umfasst der Leistungs­katalog der Jugendhilfe auch Hilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (§§ 35a bis 37 SGB VIII). Dem Wortlaut nach ist die Vorschrift eng mit den §§ 36, 36a und 37 SGB VIII verzahnt. Hintergrund ist, dass die Entscheidung über die Leistungsart (auch im Rahmen der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder) im Zusammen­wirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden sollte, um den Leistungsanspruch zu konkretisieren. Eine Leistungsbewilligung ohne Hilfeplanung macht den Bewilligungs­bescheid (§ 31 SGB X) rechtswidrig.[22] Obwohl § 36 SGB VIII dem Verwaltungsrecht zuzuordnen ist, enthält § 36a Abs. 3 SGB VIII eindeutige leistungsrechtliche Vorgaben, unter deren Voraussetzungen die Jugendhilfe selbstbeschaffte Leistungen erstatten muss (Aufwendungsersatz).[23] § 36a Abs. 3 SGB VIII beinhaltet damit eine subjektive Anspruchsgrundlage für den Leistungsberechtigten und ist somit eindeutig dem Leistungs­recht im Sinne des § 7 SGB IX zuzuordnen.[24]

Dem Wortlaut nach schränkt § 7 Abs. 2 SGB IX den Vorrang der Leistungsgesetze eindeutig ein, und somit auch die in § 36a Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII verankerte Informations­pflicht.

Diese Annahme wird auch durch die Gesetzesbegründung zu § 7 SGB IX gestützt. Aus ihr ist zu entnehmen, dass die Verfahrensvorschriften zur Koordinierung der Leistungen (Kapitel 4) stets vorrangig gelten. Das Wort „vorrangig“ bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch, dass etwas „oberste Priorität“ hat.[25] Die Verfahrensvorschriften gelten damit „unmittelbar und uneingeschränkt“. Der Gesetzgeber untermauert damit noch einmal die Wichtigkeit der Verfahrensvorschriften von Kapitel 4 (§§ 14–24) des SGB IX, indem er herausstellt, dass diese Vorschriften „abweichungsfest“ im Sinne von Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG seien. Nach diesem Grundgesetzartikel kann der Bund (in Ausnahme­fällen) wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung das Verwaltungsverfahren ohne Abweichungsmöglichkeit für die Länder regeln.[26]

Sinn und Zweck von § 7 SGB IX ist, dem Rehabilitationsrecht mehr Bedeutung zu verschaffen, indem § 7 SGB IX das Verhältnis zwischen dem SGB IX und den Leistungs­gesetzen verschärft.[27] Dieser Zweck würde jedoch konterkariert werden, wenn unklar bliebe, für welche Rehabilitationsträger diese Vorschrift gälte und unter welchen Voraus­setzungen § 18 Abs. 3 SGB IX anwendbar wäre.

Hinzu kommt, dass § 7 SGB IX in einem systematischen Zusammenhang zu § 18 SGB IX steht. Ebenso wie § 7 SGB IX hat auch die Genehmigungsfiktion das Ziel, die rechtliche Position von behinderten Menschen zu stärken. Mit § 18 Abs. 3 SGB IX wurde den Betroffenen ein rechtliches Instrument an die Hand gegeben, um den Behörden nicht hilflos ausgeliefert zu sein, wenn diese sich nicht an die gesetzlichen Fristen halten. Es wäre absurd, wenn die behinderten Menschen ihre Hilflosigkeit noch beim leistenden Rehabilitationsträger anmelden müssten. Das wäre widersprüchlich und würde dem Grundgedanken des SGB IX entgegenlaufen. Außerdem könnte das Vertrauen in den Rechtstaat verloren gehen, wenn der Rehabilitationsträger einen Kostenerstattungs­anspruch ablehnt, nur weil die behinderten Kinder bzw. die Personensorgeberechtigten vergessen haben (oder es nicht wussten), den leistenden Rehabilitationsträger im Vorfeld über die Selbstbeschaffung zu informieren.

Die Auslegung von § 7 Abs. 2 SGB IX ist auch mit der verfassungsrechtlichen Perspektive vereinbar, da hier vertreten werden könnte, dass eine „Vorabinformations­pflicht“ an den leistenden Rehabilitationsträger den Anwendungsbereich des Art. 3 GG eröffnet. Art. 3 Abs. 1 GG schützt vor Ungleichbehandlungen. Eine Ungleichbehandlung liegt vor, wenn der Staat wesentlich Gleiches ohne sachlichen Grund ungleich behandelt.[28] Nach dieser Auffassung würde der Staat seelisch behinderte Kinder gegenüber anderen Menschen mit Behinderung ungleich behandeln, wenn die Leis­tungsgesetze des SGB VIII den Vorschriften des SGB IX vorgehen würden und die Betroffenen vor der Inanspruchnahme einer selbstbeschafften Leistung den leistenden Rehabilitationsträger informieren müssten. Denn die Leistungsgesetze der in § 6 Abs. 1 SGB IX genannten Rehabilitationsträger sehen diese „Vorabinformationspflicht“ nicht vor. Und dies, obwohl sie an dieselben verwaltungsrechtlichen Vorschriften (SGB I, SGB IX und SGB X) gebunden sind. Eine verfassungsrechtlich tragbare Begründung für die Ungleichbehandlung[29] ist aus den Gesetzesmaterialien nicht ersichtlich.[30] Der Gesetzgeber darf nur Gesetze erlassen, die inhaltlich dem Gleichheitsgrundsatz ent­sprechen. Mithin muss auch im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung davon ausgegangen werden, dass die in § 36a Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII verankerte „Vorab­informationspflicht“ für selbstbeschaffte Leistungen nach § 18 Abs. 3 SGB IX nicht anwendbar ist.

Eine Synchronisation der beiden Vorschriften ist somit über § 7 SGB IX nicht möglich, da § 7 Abs. 2 SGB IX die Anwendung der Leistungsgesetze, auch des SGB VIII, einschränkt und dem SGB IX (§§ 14–24) einen Vorrang einräumt. Damit ist § 7 SGB VIII untrennbar verwoben mit dem gesetzlichen Gewebe des 4. Kapitels des SGB IX.

IV. Ergebnis

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass § 18 SGB IX unter die Vorgabe des § 7 Abs. 2 SGB IX fällt und somit die Informationspflicht an den leistenden Rehabilitationsträger nach § 36a SGB VIII für die Anmeldung des Kostenerstattungsanspruchs entbehrlich ist.

Hier stellt sich jedoch die interessante Frage, ob sich der Leistungsberechtigte bei der Selbstbeschaffung nach der Genehmigungsfiktion an das Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB VIII halten muss. Denn nach § 36 Abs. 1 S. 4 SGB VIII ist nur dann den Wünschen zu entsprechen, wenn sie nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sind (Mehrkostenvorbehalt).

Es ist davon auszugehen, dass die Leistungsberechtigten die Komplexität der jugend­hilferechtlichen Regelungen in den seltensten Fällen kennen. Das ist auch dem Gesetz­geber bewusst. Aus diesem Grunde existieren im allgemeinen Teil des Sozialgesetz­buches (SGB I) umfassende Beratungs- und Informationspflichten (§§ 13–15 SGB I). Es wäre unangemessen, wenn man die Not und die Unwissenheit der Leistungsberechtigten ausnutzen und auf ihrem Rücken austragen würde, indem man ihnen die Mehrkosten für eine selbstbeschaffte Leistung nicht erstattet. Denn hätte der leistende Rehabilita­tionsträger zeitnah gehandelt, wären die Leistungsberechtigten erst gar nicht in diese Not- bzw. Zwangslage geraten, sich die Leistung im Rahmen der Genehmigungsfiktion selbst beschaffen zu müssen. Demensprechend ist es nicht nachvollziehbar, wenn die Leistungsberechtigen, im Falle einer unwirtschaftlichen Selbstbeschaffung, das Leistungs­versagen des nach § 14 SGB IX zuständigen Rehabilitationsträger „ausbaden“ müssten.

Diese Auffassung wird auch durch den Wortlaut von § 18 Abs. 4 S. 1 SGB IX gestützt. Dort heißt es, beschaffen sich Leistungsberechtigte eine als genehmigt geltende Leistung selbst, ist der leistende Rehabilitationsträger zur Erstattung der Aufwendun­gen für selbstbeschaffte Leistungen verpflichtet. Dass der Mehrkostenvorbehalt aus § 36 Abs. 1 SGB VIII berücksichtigt werden muss, ist § 18 Abs. 4 SGB IX nicht zu entnehmen.

Etwas anderes lässt sich auch der Gesetzesbegründung nicht entnehmen. Der Gesetz­geber möchte, dass sich der Anspruch auf Ersatz der Aufwendungen nach § 18 Abs. 4 SGB IX gegen den nach § 14 SGB IX leistenden Rehabilitationsträger richtet und grundsätzlich un­beschränkt ist, soweit nicht ein Ausschlusstatbestand nach § 18 Abs. 5 SGB IX eingreift. Auf die Wirtschaftlichkeit und Rechtmäßigkeit, also insbesondere auf die Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit der selbst beschafften Leistung, kommt es nicht an.[31]

Hinzu kommt, dass § 36 SGB VIII eine verfahrensrechtliche Vorschrift ist, die nicht den Leistungsberechtigten, sondern ausschließlich den leistenden Rehabilitationsträger bindet. Somit muss sich der Selbstbeschaffer auch nicht das Wirtschaftlichkeitsgebot entgegenhalten lassen, was den meisten Leistungsberechtigten ohnehin nicht bekannt sein dürfte.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Genehmigungsfiktion nach § 18 SGB IX die rechtliche Position von seelisch behinderten Kindern und Jugendlichen stärkt, sofern der leistende Rehabilitationsträger nicht die Jugendhilfe ist. Das ist jedoch ein gesetzes­systematischer Widerspruch, der umgehend behoben werden muss. Denn sollten nicht alle seelisch behinderten Kinder und Jugendliche gleichbehandelt werden, unabhängig davon, wer der leistende Rehabilitationsträger ist?

Beitrag von PhDr. Andreas Jordan, LL.M., Landkreis Kassel

Fußnoten

[1] SG Osnabrück, Urteil vom 22.8.2019 – S 43 AL 155/16.

[2] Bundestags-Drucksache 14/5074, S. 95.

[3] Bundestags-Drucksache 14/5074, S. 102.

[4] Ulrich, Das BTHG und seine Folgen: Re- oder Umorganisationswelle in den Jugendämtern, JAmt 2019, 603. Siehe dazu auch Schönecker: Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auf die Kinder- und Jugendhilfe – Erste Hinweise für die Praxis – Teil I: Das Jugend­amt als Rehabilitationsträger; Beitrag A6-2019 unter reha-recht.de; 16.07.2019.

[5] Siehe dazu Schaumberg: Kostenerstattung nach Genehmigungsfiktion gemäß § 18 Abs. 4 SGB IX; Beitrag A13-2020 unter reha-recht.de; 04.06.2020; Dittmann: Die rehabilitations­rechtliche Genehmigungsfiktion aus wissenschaftlicher, richterlicher und anwaltlicher Sicht – Neues vom 13. REHA-Rechtstag 2019; Beitrag A15-2020 unter reha-recht.de; 12.06.2020.

[6] https://www.bar-frankfurt.de/service/reha-info-und-newsletter/reha-info-2018/reha-info-012018/genehmigungsfiktion-bei-nicht-fristgerechter-entscheidung-ueber-den-antrag.html; 18.05.2020.

[7] Bundessozialgericht (BSG), Urt. v. 26.05.2020, B 1 KR 9/18 R; BSG, Urt. v. 18.06.2020, B 3 KR 14/18 R, B 3 KR 6/19 R, B 3 KR 13/19 R.

[8] Bundestags-Drucksache 18/9522 S. 238.

[9] Schaumberg, Kostenerstattung nach Genehmigungsfiktion gemäß § 18 Abs. 4 SGB IX; Beitrag A13-2020 unter reha-recht.de; 04.06.2020).

[10] SG Reutlingen, Beschl. v. 08.11.2018 – S 1 KR 2376/18 ER.

[11] Schaumberg, Kostenerstattung nach Genehmigungsfiktion gemäß § 18 Abs. 4 SGB IX; Beitrag A13-2020 unter reha-recht.de; 04.06.2020).

[12] Dazu ausführlich: Meysen, in: FK-SGB VIII, § 36a Rn. 55. Lt. Schaumberg besteht neben der Selbstbeschaffung mit anschließender Kostenerstattung auch die Möglichkeit der Freistellung von der Zahlungsverpflichtung und die Option, den primären Sachleistungs­anspruch geltend zu machen. Vgl. Schaumberg: Kostenerstattung nach Genehmigungs­fiktion gemäß § 18 Abs. 4 SGB IX; Beitrag A13-2020 unter reha-recht.de; 04.06.2020. S. 7.

[13] Schmidt-Oberkirchner, in: Münder/Wiesner/Meysen, Handbuch KJHR, Kap. 3.8.1 Rn. 2–3.

[14] Meysen, in: FK-SGB VIII, § 36a Rn. 2.

[15] BVerwG, Urt. v. 28.9.2000 – 5 C 29.99.

[16] Kunkel/Pattar, in: LPK-SGB VIII, § 36a Rn. 3.

[17] Zu den Grundsätzen der Selbstbeschaffung siehe auch: Störmer: Voraussetzungen des Aufwendungsersatzanspruchs für selbstbeschaffte Hilfemaßnahmen – Anmerkung zu BVerwG, Urt. v. 18.10.2012 – 5 C 21/11; Forum A, Beitrag A7-2013 unter reha-recht.de; 02.07.2013.

[18] Schmidt-Oberkirchner, in: Münder/Wiesner/Meysen, Handbuch KJHR, Kap. 3.8.1 Rn. 5

[19] Vgl. hierzu beispielweise VG Kassel, Urt. V. 9.7.2018 – 5 K 875/15.KS.

[20] Kunkel, Keppert, Pattar, in: LPK-SGB VIII, § 36a, Rn. 16.

[21] Kunkel, Pattar, in: LPK-SGB VIII, § 36a, Rn. 17.

[22] Vgl. dazu auch Schmid, in: Münder/Wiesner/Meysen, Handbuch KJHR, Kap. 3.8 Rn. 25.

[23] Meysen, in: FK-SGB VIII, § 36a Rn. 39.

[24] Kunkel, Pattar, in: LPK-SGB VIII, § 36a, Rn. 2.

[25] Online-Wörterbuch Wortbedeutung.info, https://www.wortbedeutung.info/vorrangig; 02.04.2020.

[26] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 229.

[27] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 229.

[28] Etwa BVerfGE 49, 148 (165).

[29] Oberrath, Staatsrecht, 2010, Rn. 294.

[30] Vgl. dazu Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 239.

[31] Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 238.


Stichwörter:

Kinder- und Jugendhilfe, Selbstbeschaffung, Kostenerstattung, Kostenerstattungsanspruch, Informationspflicht, Genehmigungsfiktion, Kinder mit Behinderung, Seelische Behinderung


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