11.12.2018 A: Sozialrecht Frankenstein: Beitrag A25-2018

Eingliederungshilfeleistungen in Form eines Persönlichen Budgets und deren rechtliche Begrenzungsmöglichkeiten im Kontext von Art. 19 UN-BRK – Anmerkung zu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.02.2018, Az. L 7 SO 3516/14 – Teil I

Der Autor Arne Frankenstein setzt sich in seinem mehrteiligen Beitrag vor dem Hintergrund des Urteils des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22.02.2018, Az. L 7 SO 3516/14 mit den rechtlichen Möglichkeiten einer Begrenzung von Eingliederungshilfeleistungen in Form eines persönlichen Budgets auseinander. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat entschieden, dass der budgetverantwortliche Träger im Hinblick auf die Mehrkostenvorbehalte aus § 9 Abs. 2 S. 3 SGB XII und § 13 Abs. 1 S. 3 SGB XII konkret darzulegen hat, welche andere als die begehrte Leistung nicht nur geeignet und zumutbar ist, sondern auch tatsächlich zur Verfügung steht. Pauschale Aussagen seien nicht ausreichend, um das Vorliegen geeigneter und zumutbarer Leistungsalternativen zu belegen.

Im ersten Teil des Beitrags stellt Frankenstein das Urteil des LSG Baden-Württemberg vor und kritisiert die aus seiner Sicht unzureichende Unterscheidung des Gerichts zwischen dem für alle Leistungsarten geltenden Mehrkostenvorbehalt in § 9  SGB XII und der Regelung zu unverhältnismäßigen Mehrkosten von ambulanten Leistungen in § 13 SGB XII. Bei der Prüfung von Anspruchsbegrenzungen müsse zwingend Verfassungsrecht, allgemeines und besonderes Sozialrecht sowie Völkerrecht in Gestalt der UN-BRK herangezogen und in Einklang gebracht werden.

(Zitiervorschlag: Frankenstein: Eingliederungshilfeleistungen in Form eines Persönli-chen Budgets und deren rechtliche Begrenzungsmöglichkeiten im Kontext von Art. 19 UN-BRK – Anmerkung zu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.02.2018, Az. L 7 SO 3516/14 – Teil I; Beitrag A25-2018 unter www.reha-recht.de; 11.12.2018.)

I. Thesen des Autors

  1. Die Entscheidung darüber, ob Art. 19 UN-BRK einen subjektiv-rechtlichen Anspruch eines behinderten Menschen auf Gewährung von Sozialleistungen enthält, muss im konkreten Einzelfall und für die unterschiedlichen Pflichtendimensionen der Vorschrift gesondert geprüft werden. Die hierzu erforderliche Auslegung hat unter Zugrundelegung der Wiener Vertragsrechtskonvention umfassend den Bedeutungsgehalt und die Justiziabilität der Vorschrift zu ermitteln.
  2. Die Mehrkostenvorbehalte des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII und § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII sind geeignet, den Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen in Form eines Persönlichen Budgets zu begrenzen. Die Auslegung des Tatbestands und die Ausübung von Ermessen hat jedoch im Sinne einer völkerrechtskonformen Auslegung den Bedeutungsgehalt von Art. 19 UN-BRK zu berücksichtigen.
  3. Die schlichte Begrenzung des Leistungsanspruchs auf ein Persönliches Budget auf die Kosten einer stationären Unterbringung ist materiell rechtswidrig.
  4. Die einfachgesetzlichen und höherrangigen Regelungen, die in Hinblick auf die Bewilligung eines Persönlichen Budgets regelmäßig einschlägig sind, sind derart gewichtig, dass auch bei sehr hohen zur Bedarfsdeckung erforderlichen Kosten die Schwelle der Unverhältnismäßigkeit der Mehrkostenvorbehalte als Ausprägung des Übermaßverbots nur im Ausnahmefall erreicht werden dürfte.
  5. Führt der Vorbehalt der Budgetneutralität nach § 17 Abs. 3 Satz 4 SGB IX a. F. zur Begrenzung des Anspruchs auf ein Persönliches Budget, obwohl eine solche nach Prüfung der Mehrkostenvorbehalte nicht in Betracht kommt, ist dies im Rahmen der Ermessensausübung besonders begründungsbedürftig.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Der budgetverantwortliche Träger hat in Hinblick auf die Mehrkostenvorbehalte aus § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII und § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII darzulegen, dass eine andere als die begehrte ambulante Leistung nicht nur geeignet und zumutbar ist, sondern auch tatsächlich zur Verfügung steht. Hierüber hat er den behinderten Menschen aufzuklären. Ein pauschales Vorbringen reicht insoweit nicht aus, um das Vorhandensein einer geeigneten und zumutbaren Leistungsalternative zu belegen.
  2. Der Mehrkostenvorbehalt des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII greift bei allen Leistungsformen ein und gilt nicht nur im Verhältnis ambulanter zu stationären Leistungen.
  3. Art. 19 UN-BRK begründet keinen subjektiv-rechtlichen Anspruch des behinderten Menschen auf die Gewährung von Sozialleistungen.
  4. Art. 19 UN-BRK dispensiert weder den Mehrkostenvorbehalt des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII noch den des § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII.

III. Der Fall

Die Klägerin beantragte bei der Beklagten Leistungen der Eingliederungshilfe in Form eines Persönlichen Budgets. Mit diesem beabsichtigte sie, aus der elterlichen Wohnung auszuziehen, um bei Sicherstellung aller erforderlichen behinderungsbedingten Unterstützungsbedarfe künftig in einer eigenen Wohnung zu leben. Die von ihr ausgewählte Wohnung befand sich in einem genossenschaftlichen inklusiven Wohnprojekt. Neben Wohnungen zur freien Vergabe und gemeinschaftlich genutzten Wohnungen waren Wohnungen für Menschen mit Pflege- und Betreuungsbedarf und solche für Menschen mit sog. erhöhtem Betreuungsbedarf eingerichtet. Kooperationspartner des Wohnprojekts war ein Träger der freien Wohlfahrtspflege, der weitgehend die Unterstützungs-, Förder- und Assistenzleistungen erbrachte.

Die Klägerin machte geltend, sie benötige Unterstützung in Form von Hilfe zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, Hilfe zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten, Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten und Hilfe zur Pflege. Die Beklagte bewilligte der Klägerin nach erfolgter Bedarfsfeststellung hierfür für den Zeitraum von einem Jahr Eingliederungshilfeleistungen in Form eines Persönlichen Budgets in Höhe von monatlich 2.700,00 EUR.

Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin zunächst Widerspruch und dann Klage zum Sozialgericht Freiburg. Sie legte dar, dass der bewilligte Betrag nicht bedarfsdeckend sei. Sie benötige eine 24-Stunden-Betreuung, teilweise in Form einer kostenintensiven Eins-zu-Eins-Betreuung, die jedoch nicht anerkannt worden sei. Ferner rügte sie, dass pauschal stationäre Vergütungssätze in Bezug auf die Höhe der Budgetbemessung veranschlagt worden seien. Die Bedarfsermittlung müsse sie als Budgetnehmerin in die Lage versetzen, die als notwendig ermittelten Leistungen tatsächlich auf dem Markt einzukaufen. Das gelte umso mehr, als ihr aufgrund ihres hohen Förder- und Betreuungsbedarfs keine bedarfsdeckende stationäre Versorgung zur Verfügung stehe. Eine solche sei von der Beklagten auch nicht benannt worden. Ferner argumentierte die Klägerin, dass ihr die bislang erarbeitete Selbstständigkeit und Teilhabe genommen würden, wenn sie – eine entsprechende Verfügbarkeit vorausgesetzt – in eine stationäre Einrichtung zu ziehen gezwungen wäre. Aufgrund der zu geringen Budgethöhe würden derzeit noch viele Leistungen durch ihre Eltern aufgefangen, bei denen sie zu diesem Zwecke auch wohne. Sowohl dieser Zustand als auch die Alternative, zur Bedarfsdeckung in eine stationäre Einrichtung ziehen zu müssen, stünden der freien Wahl des Wohnorts entgegen. Hierin liege ein Verstoß gegen Art. 19 UN-BRK. Danach habe sie einen Anspruch darauf, dass ihr gewährleistet werde, gleichberechtigt ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie lebe und nicht verpflichtet sei, in besonderen Wohnformen zu leben.

Die Beklagte wies den Widerspruch zurück und trat der Klage entgegen. Nach ihrer Auffassung könnten Leistungen des Persönlichen Budgets in Form einer Pauschale nach einer entsprechenden Hilfebedarfsgruppe abgegolten werden. Folgerichtig sei die Klägerin insoweit in Hilfebedarfsgruppe 4 eingruppiert und hiernach die Budgethöhe bemessen worden. Zugunsten der Klägerin sei hierbei nach oben von den für eine stationäre Betreuung anerkannten Durchschnittsbeträgen abgewichen worden. Nach der Bildung von Vergleichsgruppen mit den Durchschnittsbeträgen des angrenzenden Landkreises und nach der Gewichtung der erreichten Punktzahl innerhalb der Hilfebedarfsgruppe 4 habe sich eine Erhöhung des Durchschnittsbetrags um 5,00 EUR pro Tag ergeben. Zusätzlich sei bei der Klägerin der Umstand, dass sie erstmals außerhalb des elterlichen Haushalts betreut werde, insofern berücksichtigt worden, als für das erste Jahr der errechnete Leistungssatz um 20 Prozent angehoben worden sei. Diese Erhöhung würde bei einer vergleichbaren Sachleistung nicht vorgenommen werden. Sofern die Klägerin geltend mache, dass die Höhe des Budgets nicht ausreiche, obliege es ihrer Eigenverantwortung, die Angebote zu vergleichen und das günstigste von den für sie geeigneten Angebote auszuwählen. Es genüge den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit nicht, sich auf einen Anbieter festzulegen und lediglich dieses Angebot wahrzunehmen. Schließlich vertrat die Beklagte die Auffassung, dass aufgrund der gesetzlichen Obergrenze in § 17 Abs. 3 Satz 4 SGB IX a. F. der Geldleistungsanspruch grundsätzlich nicht zu einer Kostensteigerung gegenüber dem Sachleistungsanspruch führen dürfe.

Nachdem das Sozialgericht (SG) Freiburg die Klage abgewiesen hatte, legte die Klägerin Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg ein. Erstinstanzlich hatte die Klägerin die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung eines Persönlichen Budgets im Umfang von „mindestens“ 5.928,80 Euro pro Monat beantragt. Im Berufungsverfahren beantragte sie sodann, den Gerichtsbescheid des SG Freiburg aufzuheben und festzustellen, dass der Bescheid rechtswidrig ist und sie in ihren Rechten verletze.

IV. Die Entscheidung und ihre rechtliche Würdigung

Das LSG Baden-Württemberg kam zu dem Ergebnis, dass der Bescheid insoweit rechtswidrig ist, als der Begrenzung des Anspruchs keine hinreichenden Tatsachenfeststellungen zugrunde gelegen haben, weil der beklagte Träger der Eingliederungshilfe die Höhe des Persönlichen Budgets im konkreten Fall ohne hinreichende Grundlage auf die Kosten einer stationären Betreuung begrenzt und nicht dargelegt hat, dass die Voraussetzungen der Mehrkostenvorbehalte (§§ 9 Abs. 2 Satz 3 und 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII) vorgelegen haben. Er habe lediglich ausgeführt, dass es bei der Beeinträchtigung der Klägerin ohne weitere Einschränkung möglich sei, eine adäquate Einrichtung, auch am Wohnort der Klägerin in Freiburg oder in der Nähe, zu finden. Dieses pauschale Vorbringen reiche jedoch nicht aus, um das tatsächliche Vorhandensein einer geeigneten und zumutbaren Unterbringung zu belegen. Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage sei hierbei der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, weshalb auch eine Nachholung im Prozess nicht mehr möglich war.

Das Gericht macht damit in wenigen Sätzen deutlich, dass die behördliche Entscheidungsfindung nur rechtmäßig ist, wenn sie auf Tatsachengrundlagen beruht, die unabhängig und ausgewogen ermittelt worden sind. Es verweist damit auf die Pflicht zur Amtsermittlung (§ 20 SGB X). Die Beweislast hierfür liegt bereits nach allgemeinen Grundsätzen beim Träger der Sozialhilfe. Über diese Selbstverständlichkeiten eines rechtsstaatlichen Verfahrens hinaus weist das Gericht darauf hin, dass die Voraussetzungen der den Anspruch auf das Persönliche Budget begrenzenden Normen stets im konkreten Einzelfall zu prüfen sind und sich das Vorhandensein geeigneter und zumutbarer Alternativen nur nach umfassender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung belegen lässt. Dies gilt, ohne dass es das Gericht ausdrücklich sagt, erst recht in einem Bereich, der – wie hier – verfassungsrechtlich und menschenrechtlich relevant ist.

Die zutreffenden Erwägungen des Gerichts genügen, um der Klägerin zum Erfolg in der Hauptsache zu verhelfen. Soweit sich das Gericht darüber hinaus der Streitsache materiell-rechtlich angenommen hat, ist die Einordnung der rechtlichen Entscheidungsgrundlagen aber teilweise kritikwürdig.

Das Persönliche Budget soll der leistungsberechtigten Person in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben ermöglichen (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SGB IX a. F.; seit 1. Januar 2018 § 29 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Sie organisiert mit dem Budget die Bedarfsdeckung selbst und ist nicht mehr auf die laufenden Entscheidungen von Rehabilitationsträgern sowie auf Vorgaben des Leistungserbringungsrechts angewiesen. Wie das LSG zu Recht betont, steht die Gewährung einer Eingliederungshilfeleistung in Form eines Persönlichen Budgets nicht im Ermessen des Leistungsträgers, vielmehr besteht hierauf ein Anspruch der leistungsberechtigten Person, soweit ein Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe besteht. Dieser Anspruch bezieht sich auf eine im Rahmen des Bedarfsfeststellungsverfahrens festgestellte Leistung. Der Grundsatz der Individualisierung konkretisiert die sozialhilferechtliche Verpflichtung zur Bedarfsdeckung, indem er dessen Zielrichtung auf die Besonderheiten des Einzelnen lenkt. Beide Grundgedanken sind aufeinander bezogen.[1] Einen speziellen Anwendungsfall des Individualisierungsprinzips stellt das Wunsch- und Wahlrecht nach § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB XII (seit 1. Januar 2018: § 8 Abs. 1 SGB IX) dar.[2] Es kennzeichnet den das Sozialhilferecht überragenden Grundsatz, dass die Ausgestaltung der Leistung der Würde des Menschen zu entsprechen hat.[3] Dieses Wunsch- und Wahlrecht hat die Klägerin mit ihrem Antrag auf ein Persönliches Budget und das Leben in einer konkreten Wohnform auf Grundlage eines entsprechenden Unterstützungsbedarfs ausgeübt. Zweck des Wunsch- und Wahlrechts ist, dass die leistungsberechtigte Person bei der Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen nicht entmündigt und nicht zum Objekt behördlichen Handelns wird, sondern in ihrer Eigenständigkeit weitestgehend geschützt und unterstützt werden soll.[4]

Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB XII soll Wünschen, die sich auf die Gestaltung der Leistung richten, entsprochen werden, wenn diese angemessen sind. Der Begriff der Angemessenheit beinhaltet ein wertendes und vergleichendes Element, er ist gerichtlich voll überprüfbar.[5] Wirtschaftlichkeitserwägungen sind bei der Prüfung jedoch außer Acht zu lassen, da § 9 Abs. 2 Satz 3 und § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII als leges speciales hierfür eigenständige Regelungen vorsehen.[6] Es gilt allerdings das Übermaßverbot: Unmögliche oder nur mit erheblichem Aufwand realisierbare Wünsche müssen nicht berücksichtigt werden.[7] Soweit das Gericht daher ausführt, dass sich aus diesem Wunschrecht noch nicht abschließend die Leistung ergibt und es durch die Mehrkostenvorbehalte sowie den Vorbehalt der Budgetneutralität begrenzt sein kann, ist diesem zuzustimmen. Wichtig ist jedoch, dass Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkte erst dann zum Tragen kommen, wenn über das „Ob“ der Leistung entschieden ist und dem Wunsch des Leistungsberechtigten eine gleich geeignete, aber günstigere Maßnahme entgegensteht.[8]

V. Begrenzung des Wunsch- und Wahlrechts durch Mehrkostenvorbehalte

Seit Langem ist kontrovers, wie sich das Wunsch- und Wahlrecht zum Wirtschaftlichkeitsgebot verhält. § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII greift diese Kontroverse ebenso wie § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII auf und knüpft insoweit an das an, was aus dem öffentlichen Haushaltsrecht überkommen und anerkannt ist: Aus Steuern und Beiträgen finanzierte Leistungen müssen wirtschaftlich erbracht werden. Das Gesetz führt hierfür den Begriff der unverhältnismäßigen Mehrkosten ein.[9] Daraus folgt zum einen, dass Mehrkosten per se einer Leistung nicht entgegenstehen und sie nur begrenzen, wenn sie unverhältnismäßig sind, zum anderen muss der unbestimmte Rechtsbegriff der Unverhältnismäßigkeit ausgefüllt werden.

Ober- und höchstrichterlich geklärt erscheint, dass die Mehrkostenvorbehalte nach § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII und § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII tatbestandlich voraussetzen, dass zumindest gleich geeignete Möglichkeiten der Bedarfsdeckung existieren, die auch zumutbar sein müssen.[10] Demnach darf sich die Prüfung der Leistungsvoraussetzungen nicht darauf beschränken, ob eine zur Eingliederung objektiv geeignete Einrichtung vorhanden ist. Wichtig ist vielmehr, ob der vom Wunsch- und Wahlrecht abweichende Verweis auf eine konkrete Einrichtung für den behinderten Menschen – unter Beachtung der konkreten und auch die Einbindung in die soziale Gemeinschaft berücksichtigenden persönlichen Verhältnisse – bei gleichwertiger Bedarfsdeckung und gleichwertigem Eingliederungserfolg zumutbar ist. Es ist also die am besten geeignete Leistung geschuldet[11], wobei diese nur dann vom Wunsch der leistungsberechtigten Person abweichen darf, wenn sie zumutbar ist. Diese Kriterien lassen sich in eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung überführen, in der die Möglichkeit, Geeignetheit und Zumutbarkeit zu prüfen sind.

Das Gericht nimmt unausgesprochen einen wesentlichen materiellen Gleichlauf zwischen den Regelungen der Mehrkostenvorbehalte in § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII und § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII an. Deren Unterscheidung prüft es nur insoweit, als es um die Frage geht, ob § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII lediglich im Verhältnis von ambulanten zu stationären Leistungen oder – wie vom LSG in dieser Entscheidung vertreten – für alle Leistungsformen gilt. Historisch und systematisch greift die Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII die Regelung „ambulant vor stationär“ aus § 13 Abs. 1 Satz 2 SGB XII auf und macht durch die weitgehend inhaltsgleiche Kodifikation des Mehrkostenvorbehalts deutlich, dass dieser Vorrang auch durch die Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts nicht durchbrochen werden kann.[12] Insofern spricht einiges dafür, den Anwendungsbereich zu begrenzen und § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII nur anzuwenden, wenn es darum geht, ob ausnahmsweise von der Vorrangigkeit ambulanter Versorgung abgewichen werden kann.[13] Ob die Vorschrift einschlägig ist, hängt dann davon ab, ob eine Leistung ambulant oder (teil-)stationär ist.[14]

Dass das Gericht umfänglich § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII prüft und sodann feststellt, dass sich für § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII kein anderes Ergebnis ergibt, scheint aufgrund der skizzierten Rechtsprechungsentwicklung auf Tatbestandsseite folgerichtig und ist für die weitere Bewertung unwesentlich. Auf Rechtsfolgenseite indes handelt es sich bei § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII um eine nicht widerlegbare Ausnahmefiktion („gilt nicht“), während im Rahmen von § 9 Abs.2 Satz 3 SGB XII Wünschen in der Regel nicht entsprochen werden „soll“, also um Ermessen, in dessen Rahmen atypische Fallkonstellationen denkbar sind, in denen sich trotz Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen doch das Wunsch- und Wahlrecht durchsetzt.[15]

Aus der Gesetzessystematik folgt ein Regel-Ausnahmeverhältnis der aufeinander bezogenen Vorschriften insoweit, als der Grundsatz die aus dem Bedarf gefolgerte und am konkreten Wahlrecht ausgerichtete Leistung ist und deren Begrenzung die begründungsbedürftige Ausnahme. Dies ist bei der Auslegung des Tatbestands und der Ausübung von Ermessen zu beachten. Die Prüfung der anspruchsbegrenzenden Vorschriften hat zudem die zwingend geltenden Rechte aus der Verfassung, dem allgemeinen und besonderen Sozialrecht und aus der UN-Behindertenrechtskonvention einzubeziehen und miteinander in Einklang zu bringen.

Beitrag von Ass. iur. Arne Frankenstein, Bremen 

Fußnoten

[1] Vgl. Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII Kommentar, § 9 Rn. 4.

[2] Schulte/Trenk-Hinterbeger, Sozialhilfe, S. 118; beruhend hierauf findet sich eine übergeordnete Entsprechung in § 33 SGB I.

[3] Vgl. Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII-Kommentar, § 9 Rn. 14.

[4] Vgl. Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII-Kommentar, § 9 Rn. 14

[5] Müller-Grune, in: jurisPK-SGB XII, § 9 Rn. 27.

[6] Insoweit überzeugend: Siefert, Sgb 2015, S. 14. Die Ansicht, nach der von einer gleitenden Skala auszugehen ist, deren äußerstes Ende durch die Unverhältnismäßigkeit markiert wird, vgl. Müller-Grune, in: jurisPK-SGB XII, § 9 Rn. 27, führt letztlich zu keinem anderen Ergebnis, da nur die unverhältnismäßigen Kosten ausscheiden, diese aber ohnehin geprüft werden müssen.

[7] Fuhrmann/Heine, SGb 2009, S. 519.

[8] Joussen, in: LPK-SGB IX § 9 Rn. 8.

[9] Er beruht auf dem aus § 3a BSHG stammenden Begriff der „unvertretbaren Mehrkosten“, der seit 1996 mit dem Ziel der Kostensenkung gilt.

[10] Vgl. bereits BVerwG, Urteil vom 2. September 1993 – 5 C 50/91– juris Rn. 14 zu § 3 Abs. 2 Satz 2 BSHG; BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 1994 – 5 C 28/91 – juris Rn. 29 zu § 93 Abs. 2 Satz 2 BSHG.

[11] Amann/Theben, Stichwortkommentar Behindertenrecht, 2. Auflage, Wunsch- und Wahlrecht, S. 1247.

[12] Vgl. Müller-Grune, in: jurisPK § 9 Rn. 9.

[13] So wohl Coseriu, in: jurisPK § 17 Rn. 39.1 und Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, § 9 Rn. 36. Mit Inkrafttreten der letzten Stufe des BTHG zum 01.01.2020 wird sich diese Fragestellung künftig nicht mehr so stellen, da der Grundsatz „ambulant vor stationär“ in seiner jetzigen Form wegfallen wird.

[14] Zur Abgrenzung siehe nähe BSG, Urteil vom 05.06.2014 – B 4 AS 32/13 R – juris Rn. 27.

[15] Im Rahmen der Änderungen durch das BTHG ist der Grundsatz „ambulant vor stationär“ aufgelöst worden, sodass sich ab 01.01.2020 die maßgeblichen Voraussetzungen aus § 104 SGB IX n. F. ergeben. Die sich hierdurch ergebenden Änderungen müssen weitergehenden Betrachtungen vorbehalten bleiben.


Stichwörter:

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