12.08.2021 A: Sozialrecht Lund: Beitrag A25-2021

BSG mit neuer Rechtsauffassung zur Genehmigungsfiktion – Anmerkung zu BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R

Der Autor Johann Jesper Lund stellt in diesem Beitrag ein Urteil des Bundessozialgerichts vor. In der Entscheidung vom 26. Mai 2020 wurde um die Versorgung des Klägers mit einem Arzneimittel durch die beklagte Krankenkasse gestritten. In diesem Zusammenhang hatte sich der entscheidende Senat mit mehreren Rechtsfragen zur krankenversicherungsrechtlichen Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V auseinanderzusetzen (Naturalleistungsanspruch, Vertrauensschutz, Rechtsnatur), die er mit einer teilweisen Aufgabe und Weiterentwicklung seiner bisherigen Rechtsprechung beantwortete.

Lund ordnet die Entscheidung vor dem Hintergrund der Entwicklungen von Gesetzgebung und Rechtsprechung ein, zeigt Folgen für die Rechtsanwendung auf und macht darauf aufmerksam, dass die Rechtsstreitigkeiten zur Genehmigungsfiktion mit dieser Entscheidung vermutlich noch nicht erledigt sind.

(Zitiervorschlag: Lund: BSG mit neuer Rechtsauffassung zur Genehmigungsfiktion – Anmerkung zu BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R; Beitrag A25-2021 unter www.reha-recht.de; 12.08.2021)

I. Thesen des Autors

  1. Durch die Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung und die Herstellung des „Einvernehmens“ zwischen 1. und 3. Senat wurden Unsicherheiten hinsichtlich der Rechtslage zur Genehmigungsfiktion beseitigt.
  2. Die Abkehr vom Sachleistungsanspruch entspricht der Wortlautauslegung und dem Inhalt der Gesetzgebungsunterlagen.
  3. Die bislang sehr versichertenfreundlich geprägte Rechtsprechung verschiebt sich zu Gunsten der Leistungsträger. Sanktionswirkung und Beschleunigungszweck bestehen – wenn auch abgeschwächt – fort.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Eine fingierte Genehmigung nach § 13 Abs. 3a SGB V begründet keinen eigenständigen Naturalleistungsanspruch. Sie vermittelt nur eine Rechtsposition, die es ihnen erlaubt, sich die Leistung selbst zu beschaffen.
  2. Das durch die Genehmigungsfiktion begründete Recht zur Selbstbeschaffung auf Kosten der Krankenkasse besteht auch bei materieller Rechtswidrigkeit der selbstbeschafften Leistung, sofern der Versicherte im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis vom Nichtbestehen des materiellen Leistungsanspruchs hat.
  3. Die nach Fristablauf fingierte Genehmigung eines Antrags auf Leistungen hat nicht die Qualität eines Verwaltungsaktes. Das Verwaltungsverfahren ist noch nicht beendet; die Krankenkasse ist weiterhin berechtigt und verpflichtet über den gestellten Antrag zu entscheiden und das laufende Verwaltungsverfahren abzuschließen.
  4. Ist über den materiell-rechtlichen Leistungsanspruch bindend entschieden oder hat sich der Antrag anderweitig erledigt, endet das durch die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V begründete Recht auf Selbstbeschaffung der beantragten Leistung zu Lasten der Krankenkasse.

III. Der Sachverhalt

Dem Verfahren lag der Streit der Beteiligten über die Versorgung des Klägers mit dem Arzneimittel Fampyra zu Grunde.

Der Kläger beantragte bei der Beklagten (Krankenkasse) die Versorgung mit dem o. g. Medikament im Off-Label-Use zur Behandlung seiner zerebellaren Ataxie bei kernspintomographisch nachgewiesener Kleinhirnatrophie. Fampyra ist derzeit nur zur Behandlung der Gangstörung bei Multipler Sklerose zugelassen. Ein Therapieversuch aufgrund privatärztlicher Verordnung habe vorausgehend die Gangstörung deutlich verbessert. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK). Aufgrund des MDK-Gutachtens lehnte die Beklagte die beantragte Versorgung ab. Auch das durchgeführte Widerspruchsverfahren blieb erfolglos. Die Voraussetzungen eines Off-Label-Use seien nicht gegeben. Das SG Speyer hat mittels Gerichtsbescheid unter Aufhebung dieser Bescheide die Beklagte verurteilt, den Kläger entsprechend ärztlicher Verordnung mit Fampyra zu versorgen. Das LSG Rheinland-Pfalz hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Der Kläger habe aus der fingierten Genehmigung seines hinreichend bestimmten, zulässigen Antrags einen Anspruch auf Versorgung mit Fampyra. Diese sei weder durch die rechtswidrige nachträgliche Ablehnung des Antrags entfallen noch habe sie sich auf andere Weise erledigt. Die Beklagte habe den Antrag des Klägers nicht innerhalb der hier maßgeblichen gesetzlichen Frist von fünf Wochen beschieden. Der Kläger habe die Versorgung mit Fampyra aufgrund der Stellungnahme seines Arztes auch subjektiv für erforderlich halten dürfen.[1]

IV. Die Entscheidung

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts verwies die Sache wegen fehlender Feststellungen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück an das LSG Rheinland-Pfalz, urteilte im Übrigen aber wie folgt:

  1. Die bisherige Rechtsprechung zum eigenständigen Naturalleistungsanspruch[2] wurde aufgegeben: Eine fingierte Genehmigung nach dem Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gemäß § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V begründe keinen eigenständigen Naturalleistungsanspruch, sondern vermittle dem Versicherten lediglich eine Rechtsposition eigener Art („sui generis“). Diese erlaube es ihm, sich die Leistung bei Gutgläubigkeit selbst zu beschaffen und verbiete es der KK nach erfolgter Selbstbeschaffung, eine beantragte Kostenerstattung mit der Begründung abzulehnen, nach dem Recht der GKV bestehe kein Rechtsanspruch auf die Leistung.
    Dies ergebe sich insbesondere aus dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte, Binnensystematik der Vorschrift und der Fortentwicklung des Genehmigungsfiktionsrechts in der parallelen Vorschrift des § 18 Abs. 1 bis 6 SGB IX.           
    Aus dem Wortlaut des § 13 Abs. 3a SGB V ergebe sich lediglich, dass mit Eintritt der Genehmigungsfiktion nach Ablauf der Frist Versicherte die Möglichkeit der Selbstbeschaffung mit Anspruch auf Kostenerstattung hätten. Sie regele aber weder die Rechtsnatur der Genehmigungsfiktion im Sinne eines Verwaltungsakts noch ordne sie einen Naturalleistungsanspruch sui generis als ihre Rechtsfolge ausdrücklich an.
    Die Gesetzgebungsunterlagen bestätigten den Wunsch des Gesetzgebers, einen eigenständigen Kostenerstattungsanspruch zu schaffen.[3]         
    Auch die Systematik des § 13 Abs. 3a SGB V spreche u. a. aufgrund der Überschrift „Kostenerstattung“ für die Auslegung, dass kein Naturalleistungsanspruch sui generis eröffnet sei. Die Vorschrift regele in ihrem Satz 7 als Rechtsfolge ausdrücklich nur eine Kostenerstattung; zu einem Naturalleistungsanspruch werde keine Aussage getroffen.
    Auch der systematische Vergleich des § 13 Abs. 3a SGB V mit § 18 Abs. 3 und 4 SGB IX bestätige dies. Mit der Schaffung des § 18 Abs. 3 und 4 SGB IX durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) habe der Gesetzgeber das schon in § 13 Abs. 3a SGB V angelegte Regelungskonzept noch konkreter ausgeformt. Die amtliche Überschrift bestätige, dass es um die „Erstattung selbstbeschaffter Leistungen“ gehe. Die Gesetzesmaterialien belegten dies ebenfalls. Aus der Begründung zu § 18 SGB IX im BTHG-Entwurf der Bundesregierung ergebe sich, dass damit nur der „Anspruch auf Kostenerstattung bei der Selbstbeschaffung von Leistungen […] gesetzlich weiterentwickelt“ wurde[4]. Nach Eintritt der Genehmigungsfiktion könne sich die Beklagte nicht mehr auf die materielle Rechtswidrigkeit der beantragten und selbstbeschafften Leistung berufen, wenn sich der Kläger die Leistung nach Eintritt der Genehmigungsfiktion beschafft habe. Denn die Leistung gelte als genehmigt. Dies stelle die Begründung zu § 18 SGB IX im BTHG-Entwurf dar.[5]       
    Außerdem stehe die Auslegung des § 13 Abs. 3a SGB V als Kostenerstattungsregelung auch mit dem Beschleunigungszweck und dem Sanktionscharakter in Einklang. Zweck der Vorschrift sei es nicht, einem Versicherten Leistungen zu verschaffen, auf die er nach dem Recht der GKV keinen Anspruch hat. Der Beschleunigungseffekt werde bereits durch die Eröffnung der Selbstbeschaffung mit Kostenerstattung erzielt. Der spezifische Zweck der Genehmigungsfiktion liegt in dem Druck, den diese auf die Krankenkasse dadurch ausübt, sich nach Ablauf der Frist nicht mehr auf „materielle Rechtswidrigkeit“ der beantragten Leistung berufen zu können, wenn sich die Versicherten die Leistung beschafft haben.          
    Im Übrigen verletze § 13 Abs. 3a Satz 6 und 7 SGB V nicht den allgemeinen Gleichheitssatz dadurch, dass ein Naturalleistungsanspruch ausgeschlossen werde. Entscheidend sei, dass alle Versicherten nach den gleichen rechtlichen Grundsätzen Zugang zu den Sachleistungsansprüchen der GKV hätten.
  2. Das durch die Genehmigungsfiktion begründete Recht zur Selbstbeschaffung auf Kosten der Krankenkasse bestehe auch bei materieller Rechtswidrigkeit der selbstbeschafften Leistung, sofern der Versicherte im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis vom Nichtbestehen des materiellen Leistungsanspruchs habe.[6] Bislang hätten die mit § 13 Abs. 3a SGB V verfolgten Zwecke ihre Grenze beim Rechtsmissbrauch gefunden. Diesen Rechtsgedanken habe der Gesetzgeber in § 18 Abs. 5 SGB IX konkretisiert und den in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X geregelten Verschuldensmaßstab aufgegriffen. Im Hinblick auf die Parallelität der Regelungen sei es sachgerecht, dies auch bei der vergleichbaren Vorschrift des § 13 Abs. 3a SGB V zur Anwendung zu bringen.           
    Das Tatbestandsmerkmal der groben Fahrlässigkeit solle nur eine Kostenerstattung offensichtlich rechtswidriger Leistungen ausschließen.[7] Je offensichtlicher die beantragte Leistung außerhalb des GKV-Leistungskatalogs liege, desto eher sei von einer zumindest grob fahrlässigen Unkenntnis (Bösgläubigkeit) der Versicherten im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung auszugehen. Eine nähere Kenntnis des GKV-Rechts dürfe den Versicherten nicht abverlangt werden. 
    Es komme dabei auch nicht auf eine formale Ablehnungsentscheidung an, sondern auf die Qualität der fachlichen Argumente und ihre Nachvollziehbarkeit durch die Versicherten. Deshalb folge aus einer ablehnenden Entscheidung der KK für sich genommen noch keine grobe Fahrlässigkeit. Unabhängig von dem Grad der Unkenntnis vermag eine Selbstbeschaffung jedenfalls dann keinen Kostenerstattungsanspruch mehr auszulösen, wenn sie erst erfolgt, nachdem über den materiell-rechtlichen Leistungsanspruch bindend entschieden wurde oder sich der Antrag anderweitig erledigt habe.
  3. Die nach Fristablauf fingierte Genehmigung eines Antrags auf Leistungen habe nicht die Qualität eines Verwaltungsaktes. Durch den Eintritt der Genehmigungsfiktion werde das durch den Antrag in Gang gesetzte Verwaltungsverfahren nicht abgeschlossen. Die Krankenkasse sei weiterhin berechtigt und verpflichtet, über den gestellten Antrag zu entscheiden und damit das laufende Verwaltungsverfahren abzuschließen.[8]
    Würde die Genehmigungsfiktion das Verwaltungsverfahren beenden, hätte dies die vom Gesetz nicht gewollte Folge, dass der Naturalleistungsanspruch entfiele. Denn § 13 Abs. 3a SGB V eröffne nur einen Kostenerstattungsanspruch.
  4. Ob die Ablehnung der Versorgung mit Fampyra als Naturalleistung rechtswidrig sei und dem Kläger ein Anspruch hierauf zustehe, könne nicht abschließend geklärt werden. Es komme nur noch ein Anspruch des Klägers auf Grundlage eines Off-Label-Use in Betracht. Hierzu seien weitere Feststellungen des LSG erforderlich.

V. Würdigung/Kritik

Die oben aufgeführte Entscheidung ist ein Musterbeispiel für einen Rechtsprechungswandel in der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Hieran lässt sich illustrieren, dass selbst die Rechtsprechung des BSG nicht „in Stein gemeißelt“ ist und eine Norm ohne irgendeine Änderung des Wortlauts – im Gegensatz zu den entscheidenden Personen[9] – eine andere bzw. neue Bedeutung zukommen kann.[10]

Es ist zu begrüßen, dass der langjährig bestehende Streit zwischen 1. und 3. Senat des BSG bezüglich der Aufhebbarkeit einer durch die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V eingetretenen Genehmigung nun beigelegt zu sein scheint.[11] Was allerdings noch abzuwarten bleibt, ist, wie die für § 18 SGB IX zuständigen Senate (u. a. für das Rentenversicherungsrecht zuständigen Senate) sich im Rahmen von Entscheidungen zu § 18 SGB IX positionieren werden[12].

Mit dem Patientenrechtegesetz vom 20. Februar 2013[13] wurde die Regelung des § 13 Abs. 3a SGB V, die eine Genehmigungsfiktion bei nicht fristgerechter Leistungsentscheidung vorsieht, eingeführt. Seit Einführung dieses Rechtsinstruments in das soziale Leistungsrecht sind eine Reihe sozialverwaltungsrechtlicher Fragestellungen aufgetaucht. Sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft bestehen zahlreiche Diskussionen über die Interpretation des Wortlauts.[14] Daher hat sich der Gesetzgeber bei der Schaffung der Regelung des § 18 SGB IX im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) das erklärte Ziel gesetzt, die bisherige sozialgerichtliche Rechtsprechung zur Konkretisierung des § 13 Abs. 3a SGB V aufzugreifen und Unklarheiten bereits im Gesetzgebungsverfahren durch eindeutige Formulierungen auszuschließen.[15] Aufgrund dieses Umstandes erscheint der Ansatz des BSG nachvollziehbar, § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V unter Rückgriff auf die Gesetzesmaterialen zum BTHG neu zu interpretieren. Der Gesetzgeber sah im Rahmen das BTHG-Gesetzgebungsverfahrens und auch im Weiteren bislang davon ab, das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung – auch in Hinblick auf die allgemein bekannten Auslegungsstreitigkeiten und der Rechtsprechung des BSG[16] – in dieser Hinsicht zu ändern oder zu ergänzen.

Die „Neuinterpretation“ des 1. Senats[17] – der vom 3. Senat nun zugestimmt wird – räumt den Versicherten lediglich nach Eintritt der Genehmigungsfiktion eine vorübergehende „Möglichkeit der Selbstbeschaffung mit Anspruch auf Kostenerstattung“ ein. Diese Möglichkeit mündet allerdings nur dann in einem tatsächlichen Kostenerstattungsanspruch, sofern der Versicherte von diesem Selbstbeschaffungsrecht Gebrauch macht, bevor bindend über den Antrag entschieden wurde. Durch Bescheiderteilung endet das (Ausgangs-)Verfahren. Sollte eine Bewilligung ausgesprochen werden, erfolge hieraus ein Sachleistungsanspruch. In Anmerkungen zu der obigen Entscheidung wird das „neue Konstrukt“ teilweise abgelehnt[18]; dennoch ist anzuerkennen, dass die Entscheidungsgründe in dieser Hinsicht nachvollziehbar sind und tragen. Sollte vom Gesetzgeber eine andere Intention vorhanden bzw. vorhanden gewesen sein, so ist es an ihm, dies in einem Parlamentsgesetz umzusetzen und den Wortlaut entsprechend anzupassen.

Mit der Übertragung des subjektiven Erfordernisses führt der 1. Senat seine Rechtsprechung konsequent fort und entwickelt diese insoweit weiter. Der Versicherte dürfe im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung keine Kenntnis davon haben, dass ein materieller Leistungsanspruch nicht bestehe, zumindest müsse ihm dies ohne grobe Fahrlässigkeit unbekannt gewesen sein. Dieses Merkmal der „Gutgläubigkeit“ leitet der 1. Senat von der Regelung des § 18 Abs. 5 SGB IX ab, die ihrerseits Rückgriff auf § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X und den dort geregelten Verschuldensmaßstab genommen hat.[19] Es erscheint aufgrund der vielfältigen Beurteilungsmöglichkeiten in diesem Kontext durchaus möglich, dass in absehbarer Zeit in der Praxis Auseinandersetzungen zu den subjektiven Merkmalen aufkommen.

Die Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des 1. Senats in Bezug auf die dogmatische Einordnung der Genehmigungsfiktion ist nachvollziehbar. Bislang ging der 1. Senat davon aus, dass eine zumindest fiktive Verwaltungsaktqualität gegeben sei. Mit der „neuen Auslegung“ kommt der Senat nun dazu, dass es sich bei der durch § 13 Abs. 3a Satz 6 und 7 SGB V vermittelten Rechtsposition lediglich um eine vorläufige Rechtsposition handele – die Verwaltungsakt-Qualität wird somit verneint und die Problematik einer Aufhebung ist obsolet. Das Sozialverwaltungsverfahren endet nun erst durch Bescheiderteilung. Dies stellt im öffentlichen Recht einen sozialrechtlichen Sonderweg dar.[20]

Insgesamt ist die Entscheidung und der damit verbundene Wandel in der Rechtsprechung zu den Genehmigungsfiktionen im Sozialrecht nach Ansicht des Autors zu begrüßen. Zwar wird vielerorts kritisiert, dass die Genehmigungsfiktion an „Biss“ verloren habe[21] und die vom Gesetzgeber beabsichtigte Sanktionswirkung und der Beschleunigungszweck stark abgeschwächt wurden. Allerdings bleibt es festzustellen, dass die „Genehmigungsfiktion“ weiterhin bei Versäumnissen der Krankenkassen in Bezug auf die gesetzlichen Fristen zur Bescheidung eines Leistungsantrags, zu einem Kostenerstattungsanspruch führen kann. Zwar entfällt der bisher angenommene Sachleistungsanspruch und die bislang sehr versichertenfreundliche Rechtsprechung verschiebt sich zu Gunsten der Leistungsträger. Allerdings werden die Leistungsträger weiterhin zu einer zügigen Bearbeitung angehalten und die Unsicherheiten durch divergierende Ansichten von zwei Senaten des BSG wurden beseitigt.

Der weitere Verlauf ist dennoch spannend und bleibt abzuwarten. Es bleibt zu beobachten, welchen Einfluss die neue Rechtsprechung auf die Verwaltungsverfahren in sozialrechtlichen Leistungsverwaltung haben wird. Außerdem hält der Sozialverband VdK die Entscheidung des BSG für versichertenfeindlich und einen „Blankoscheck für langsames Arbeiten“. VdK-Präsidentin Bentele kündigte eine Verfassungsbeschwerde an.[22]

Beitrag von Johann Jesper Lund

Fußnoten

[1] Urteil des SG Speyer vom 15.02.2018 - S 17 KR 57/17.

[2] Aufgabe von BSG vom 08.03.2016 - B 1 KR 25/15 R - BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr. 33 Rd. Nr. 25; zuletzt BSG vom 27.08.2019 - B 1 KR 36/18 R - SozR 4-2500 § 13 Nr. 48 Rd. Nr. 16.

[3] Vgl. u. a. Bundestags-Drucksache 17/11710, S 18.

[4] Vgl Bundestags-Drucksache 18/9522, S 238.

[5] Bundestags-Drucksache 18/9522, S 238.

[6] Fortentwicklung von BSG vom 08.03.2016 - B 1 KR 25/15 R - BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33, Rd. Nr. 26; zuletzt BSG vom 27.08.2019 - B 1 KR 9/19 R - juris Rd. Nr. 29; a. A. Knispel, SGb 2014, 374 (375 f.); Hahn, SGb 2015, 144 (149).

[7] Vgl. Bundestags-Drucksache 18/9522, S 238.

[8] Aufgabe von BSG vom 11.07.2017 - B 1 KR 26/16 R - BSGE 123, 293 = SozR 4-2500 § 13 Nr. 36, Rd. Nr. 10 und 37; zuletzt BSG vom 27.08.2019 - B 1 KR 36/18 R - SozR 4-2500 § 13 Nr. 48 Rd. Nr. 11 und 42.

[9] Der 1. Senat steht seit Ende 2019 unter dem Vorsitz des Präsidenten des BSG Prof. Dr. Schlegl, der Ernst Hauck ablöste.

[10] Vgl. Felix, Alles neu macht der Mai? Die Kehrtwende der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu § 13 Abs. 3a SGB V, SGb 2020, 517 (523).

[11] Der 3. Senat des BSG (Urt. v. 18.06.2020 – B 3 KR 14/18 R) hat sich der neuen Rechtsprechung des 1. Senats angeschlossen.

[12] Zu den Abweichungen der Regelungen des § 18 SGB IX und des § 13 III a SGB V vgl. Kingreen in: Becker/Kingreen, SGB V, 7. Aufl. 2020, § 13 Rn. 28).

[13] BGBl. I, (277).

[14] Uyanik, Die Aufhebung von Genehmigungsfiktionen gemäß § 13 Abs. 3a SGB V nach § 45 SGB X – Wie gewonnen, so zerronnen?, KrV 2018, 53 (53 f.).

[15] Bundestags-Drucksache. 18/9522, 1 (238).

[16] BSG Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R, BSGE 121,40 = SGb 2016, 592, Rn. 25 – Auslegung eines Kostenerstattungsanspruchs und Sachleistungsanspruchs.

[17] Ebenfalls 3. Senat (Urt. v. 18.06.2020 – B 3 KR 14/18 R).

[18] U. a. Kellner, BSG: Grenzen der Genehmigungsfiktion im SGB V, NJW 2020, 3267 (3272).

[19] Ebenso Helbig, NZS 2021, 22 (28).

[20] Vgl. Felix, SGb 2020, 517 (521 ff.).

[21] U. a. Wortmann, BSG kassiert Anspruch auf Sachleistung bei versäumter Kassenfrist, https://link.springer.com/article/10.1007/s12634-020-1078-4, abgerufen am 24.05.2021.

[22] Pressemitteilung des VDK vom 27.05.2020, Urteil: Bundessozialgericht lässt Versicherte im Stich, https://www.vdk.de/bayern/pages/presse/pressemitteilungen_archiv/79652/urteil_bundessozialgericht_laesst_versicherte_im_stich?dscc=ok, abgerufen am 24.05.2021.


Stichwörter:

Gesetzliche Krankenversicherung (GKV), Genehmigungsfiktion, Kostenerstattung, Kostenerstattungsanspruch, Sachleistung


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