I. Einleitung
Im ersten Teil dieses Beitrags wurde das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22.02.2018, Az. L 7 SO 3516/14 vorgestellt. Insbesondere die unzureichende Differenzierung der unterschiedlichen Mehrkostenvorbehalte im Verhältnis zum Wunsch- und Wahlrecht scheint hierbei kritikwürdig. Inwieweit darüber hinaus das übrige Sozial-, Verfassungs- und Völkerrecht die Auslegung der streitentscheidenden Normen beeinflusst, wird nachfolgend mit Schwerpunkt auf Art. 19 UN-BRK erörtert.
II. Völkerrechtliche Einordnung
Das Gericht setzt sich mit den rechtlichen Wirkungen von Art. 19 UN-BRK auseinander, den es für die freie Wahl des Aufenthaltsorts aufgrund der Behinderung der Klägerin richtigerweise für einschlägig hält. Die Ausführungen geben jedoch Anlass zu einer vertiefteren völkerrechtlichen Betrachtung.
Der Ausgangspunkt der Überlegungen zum Bedeutungsgehalt und den rechtlichen Wirkungen von Art. 19 UN-BRK ist völkerrechtlicher Natur. Zwar ist für die UN-BRK durch förmliches Gesetz[1] in Gänze der Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden, über den Rang der einzelnen Vorschriften ist hierdurch aber keine Aussage gemacht. Diese hängt von der Beantwortung der Frage ab, welche völkerrechtliche Qualität eine Vorschrift hat. Während „allgemeine Regeln des Völkerrechts“ im Sinne von Art. 25 S. 1 GG gewissermaßen zwischen Bundesrecht und Verfassungsrecht stehen, teilen völkervertragsrechtliche Vorschriften den Rang des ihnen den Anwendungsbefehl erteilenden Zustimmungsgesetzes und sind damit als einfaches Bundesrecht zu qualifizieren, Art. 59 Abs. 2 GG. Eine allgemeine Regel des Völkergewohnheitsrechts ist eine Regel, die von einer gefestigten Praxis zahlreicher, nicht notwendigerweise aller Staaten (usus) in der Überzeugung einer völkerrechtlichen Verpflichtung (opinio juris sive necessitatis) getragen wird.[2] Zwar scheint es wegen der zunehmenden Anerkennung jedenfalls elementarer Menschenrechte als Völkergewohnheitsrecht[3] nicht abwegig, auch Vorschriften der UN-BRK diese Qualität zusprechen zu können, gleichwohl sind gerade aufgrund unterschiedlicher kultureller Gepflogenheiten im Umgang mit behinderten Menschen und deren unabhängiger Lebensführung Zweifel an einer solchen Einordnung angebracht. Für die weitere Betrachtung wird davon ausgegangen werden, dass Art. 19 UN-BRK einfaches Bundesrecht ist, das zu beachten ist.
1. Subjektiv-rechtlicher Anspruch
Eine weitere Prüfungsebene ist, ob sich aus Art. 19 UN-BRK subjektive Ansprüche Einzelner ergeben. Voraussetzung für diese Justiziabilität ist, dass die Vorschrift unmittelbar anwendbar ist und zugleich ein subjektives Recht vermittelt. Die unmittelbare Anwendbarkeit völkervertragsrechtlicher Bestimmungen setzt voraus, dass die Bestimmung alle Eigenschaften hat, die ein nationalstaatliches Gesetz hat, um Einzelne berechtigen oder verpflichten zu können.[4] Dafür muss ihre Auslegung ergeben, dass sie geeignet und hinreichend bestimmt ist, wie eine innerstaatliche Vorschrift rechtliche Wirkung zu entfalten, ohne dass es einer weiteren normativen Ausfüllung bedarf.[5]
Soweit das Gericht die unmittelbare Anwendung von Art. 19 UN-BRK daran knüpft, ob diese der Anwendbarkeit von § 9 Abs. 2 S. 3 SGB XII entgegensteht, verkennt diese Ansicht den Gleichrang der Vorschriften im bundesrechtlichen Normgefüge. Selbst wenn man zu der Auffassung gelangte, Art. 19 UN-BRK sei unmittelbar anwendbar, würde sich hieraus nicht zwangsweise ergeben, dass § 9 Abs. 2 S. 3 SGB XII keine Anwendung fände. Vielmehr bestünde möglicherweise eine weitere Anspruchsgrundlage für den Erhalt der Leistung, die – wie auch immer der Umfang materiell zu qualifizieren wäre –, auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen zu prüfen wäre. Nicht ausgeschlossen ist insoweit, dass die UN-BRK über anderes nationales Gesetzesrecht hinausgeht, auch wenn es dessen Rang teilt. Fraglich bliebe dann zwar möglicherweise, wie diese Normen zueinander ins Verhältnis zu stellen wären. Ohne einen konkreten Gehalt der Vorschrift ermittelt zu haben, wäre eine solche Prüfung jedoch überhaupt nicht möglich. Konkurrenzrechtliche Probleme wären auf Grundlage einer entsprechenden Vorprüfung lediglich dann unbeachtlich, wenn die völkerrechtliche Vorschrift dazu führte, dass mit ihr eine Verfassungswidrigkeit der Norm des § 9 Abs. 2 S. 3 SGB XII einherginge. Aufgrund des Verwerfungsmonopols des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) wäre dies durch die Vorlage an das BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zu klären und das Verfahren solange auszusetzen.
2. Völkerrechtlicher Auslegungsmaßstab
Zu Recht legt das Gericht dar, dass die Prüfung von Art. 19 UN-BRK anhand der Vorschriften über die Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen nach der Wiener Vertragsrechtskonvention[6] vorzunehmen ist, engt den Prüfungsmaßstab allerdings insoweit ein, als es sich auf die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit beschränkt. Dies verkennt, dass bereits die Auslegung des deutschen Rechts die Vorschrift und ihren völkerrechtlichen Gehalt unabhängig von ihrem Charakter als unmittelbar verpflichtende Norm zu beachten hat. Inwieweit Art. 19 UN-BRK einen unmittelbaren Anspruch auf Erhalt des Persönlichen Budgets liefert, ist mithin nicht per se entscheidungserheblich, sondern mitunter, so wie in diesem Fall, von dogmatischer Bedeutung. Entscheidungserheblich wäre ein möglicher Anspruch aus der UN-BRK nur dann, wenn nicht schon durch konventionsgemäße Auslegung der deutschen Regelung ein Ergebnis zu erzielen wäre, das Art. 19 UN-BRK entspricht, also wenn das deutsche Recht der leistungsberechtigten Person anspruchsweise eine freie Wahl des Wohnorts und der Wohnform ermöglichte. Das ist hier gerade nicht der Fall. UN-BRK und deutsches Recht stehen sich entgegen.
3. Auslegung der begrenzenden Tatbestände
Den Maßstab für die Prüfung bildet insoweit die Rechtsprechung des BVerfG, nach der menschenrechtliche Verträge als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Vorgaben des Grundgesetzes dienen[7], auch wenn sie keinen eigenständigen Prüfungsmaßstab des BVerfG bilden.[8] In der Folge ist die Konvention im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung auch zur Bestimmung von Inhalt und Reichweite einfachgesetzlicher Normen heranzuziehen, solange hiermit keine Einschränkung des Grundrechtsschutzes verbunden ist. Sind unterschiedliche Auslegungen möglich, ist zu prüfen, ob eine Auslegung zu einem Verstoß gegen höherrangiges Recht führt. Falls ja, muss diese durch eine andere Auslegung überwunden werden, die mit höherrangigem Recht vereinbar ist.
a) Verfassungsgemäße Auslegung
Es erscheint denkbar, dass die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Verhältnismäßigkeit, die das Wunsch- und Wahlrecht verkürzt, indem es allein auf die Mehrkostenvorbehalte abstellt und diese nicht in Beziehung zu anderen rechtlichen Gewährleistungen setzt, gegen Art. 11 GG i.V.m. Art. 19 UN-BRK verstößt.
Freizügigkeit im Sinne von Art. 11 Abs. 1 GG umfasst das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebietes Aufenthalt und Wohnung zu nehmen.[9] Hierzu gehören die Einreise nach Deutschland zum Zweck der Wohnsitznahme und die Freizügigkeit zwischen Ländern, Gemeinden und innerhalb einer Gemeinde.[10] Die Vorschriften des § 9 Abs. 2 S. 3 SGB XII und des § 13 Abs. 1 S. 3 SGB XII hindern die Klägerin zwar nicht unmittelbar an der Wahl eines anderen Wohnortes als des von ihr gewünschten. Soweit man ihr jedoch die sozialhilferechtliche Gewährung eines Persönlichen Budgets versagt, knüpft man an die von ihr durchgeführte Wahl zugunsten der Wohngemeinschaft eine sozialrechtlich nachteilige Rechtsfolge. Faktisch verbleibt der Klägerin aufgrund der hohen finanziellen Belastung, der sie ohne Sozialhilfeleistung ausgesetzt ist, keine andere Möglichkeit, als ihre Wahl zugunsten einer bedarfsdeckenden Unterstützung hintanzustellen. Grundrechte können nicht nur durch final und imperative Eingriffe, sondern auch durch mittelbare Maßnahmen beeinträchtigt sein. Das Grundgesetz bindet den Schutz vor Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht an den Begriff des Eingriffs oder gibt diesen inhaltlich vor. Auch staatliche Maßnahmen, die eine mittelbare Wirkung entfalten, können Grundrechte beeinträchtigen und müssen daher von Verfassungswegen hinreichend gerechtfertigt sein.[11]
Ob ein solcher Fall gegeben ist, hätte Gegenstand der gerichtlichen Prüfung sein müssen. Im entschiedenen Fall bestehen gute Gründe, einen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 11 Abs. 1 GG zu bejahen. Die angegriffene Regelung schließt nämlich regelmäßig sozialhilferechtliche Ansprüche aus, soweit deren wunschgemäße Ausgestaltung mit unverhältnismäßigen Belastungen einhergeht. Diese Regelung knüpft damit für die Klägerin an die Ausübung der Freizügigkeit einen spürbaren Nachteil. Darin dürfte eine mittelbare zielgerichtete Beeinträchtigung des Grundrechts liegen, deren Verfassungsmäßigkeit an Art. 11 Abs. 2 GG zu messen ist.[12]
Einschlägige Schranke könnte Art. 11 Abs. 2 Var. 1 GG sein, wonach eine Beschränkung in Betracht kommt, die auf besondere Lasten der Allgemeinheit bei Fehlen einer ausreichenden Lebensgrundlage gestützt wird. Art. 11 Abs. 2 Variante 1 GG gibt unter diesen Voraussetzungen dem Gesetzgeber die Befugnis, unter Einschränkung des Grundrechts der Freizügigkeit die Lasten auf Länder und kommunale Gebietskörperschaften zu verteilen und damit insbesondere einer Überlastung einzelner Gemeinden entgegenzuwirken.[13] Zunächst ist hierbei zu klären, inwieweit der Bezug von Sozialhilfe bedeutet, dass eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist, wofür jedoch aufgrund der Subsidiarität der Sozialhilfe einiges spricht. Schwieriger erscheint jedoch, ob daraus nicht unerhebliche Belastungen besonderer Art erwachsen. Es ist schon fraglich, ob dieser interlokale Lastenausgleich überhaupt nach Sinn und Zweck der Vorschrift zur Anwendung kommen kann. Wenn die Vorschrift nur die Abwehr besonderer Belastungen ermöglicht, müsste jedenfalls begründet werden, warum dieser Einzelfall bezogen auf den Gesamtetat eines Sozialhilfeträgers eine derart übermäßige Belastung darstellt, dass der Hilfebedarf vom zuständigen Träger nicht gedeckt werden kann. Soweit man eine Einschränkung insoweit für möglich hielte, wären die Mehrkostenvorbehalte als gesetzliche Grundlage einer Rechtfertigung im Weiteren näher zu prüfen. Soweit man Art. 11 Abs. 2 Var. 1 GG bereits ausschließt, müsste mit einem Erst-Recht-Schluss im Vergleich zu schrankenlos gewährleisteten Grundrechten auch die Prüfung von kollidierendem Verfassungsrecht als Rechtfertigung in Betracht gezogen werden.
Möglich erscheint darüber hinaus, dass der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG i.V.m. Art. 19 UN-BRK durch eine Auslegung, die allein auf die Mehrkostenvorbehalte abstellt, verletzt sein könnte.[14] Nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes erschöpft sich hierbei nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht in der Anordnung, behinderte und nichtbehinderte Menschen rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme kompensiert wird.[15] Vorliegend knüpfen die Mehrkostenvorbehalte zwar nicht an das Merkmal der Behinderung an, möglich erscheint jedoch, dass dieser Ausschluss systematisch behinderte Menschen mit einem besonders hohen Hilfebedarf trifft. Für diesen Fall erscheint es geboten, diese Benachteiligung durch verfassungskonforme Auslegung zu überwinden.
b) Konventionsgemäße Auslegung anhand des ermittelten Bedeutungsgehalts von Art. 19 UN-BRK
Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist auch einfaches Recht konventionsgemäß auszulegen, solange dies methodisch vertretbar ist. Das bedeutet, dass der Bedeutungsgehalt der UN-BRK insbesondere bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und der Ausübung von Ermessen Eingang in das juristische Verfahren erlangt. Der verfassungskonformen und völkerrechtskonformen Auslegung ist dabei immanent, dass sie nur unter Rückgriff auf den konkreten Bedeutungsgehalt von Art. 19 UN-BRK gelingen können. Um den Bedeutungsgehalt einer Vorschrift der UN-BRK, die ein völkerrechtlicher Vertrag ist, zu ermitteln, hat eine Auslegung anhand der Vorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention[16] zu erfolgen. In diesem Zuge sind alle maßgeblichen Erkenntnisquellen zu berücksichtigen, die den Bedeutungsgehalt näher konturieren können. Hierzu sind neben der Entstehungsgeschichte der Vorschrift insbesondere auch die Äußerungen des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen heranzuziehen. Dieser äußert sich im turnusmäßigen Monitoring der Staatenberichtsprüfungen, in Individualbeschwerdeverfahren und in General Comments. Den Äußerungen kommt die Aufgabe zu, die Auslegung der Konventionsvorschriften zu vereinheitlichen. Ihre Berücksichtigungspflicht ergibt sich sowohl aus dem völkerrechtlichen Grundsatz von Treu und Glauben[17], für die Auslegung deutschen Rechts zudem bereits länger aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung.[18] Sie bedeutet nach Auffassung des BVerfG, dass das nationale Gericht sich mit seinen Ausführungen in gutem Glauben argumentativ auseinanderzusetzen hat und diese insoweit in die Auslegung einzubeziehen sind.[19]
Diese Erkenntnis erlangt gerade bei Art. 19 UN-BRK Bedeutung, weil der Fachausschuss dargelegt hat, dass sich sowohl das Konzept der selbstbestimmten Lebensführung als auch das der Einbeziehung in die Gemeinschaft auf Lebensformen außerhalb von Einrichtungen beziehen.[20] Er betont zudem, dass besondere Wohnformen, in denen zu leben behinderte Menschen nach Art. 19 lit. a UN-BRK nicht verpflichtet sind, schon dort beginnen, wo – unabhängig von Größe, Name und Struktur – Definitionselemente typischer Einrichtungen vorzufinden sind.[21] Überall, wo unabhängig von der Art der Wohnform eine strukturelle Abhängigkeit des behinderten Menschen besteht, ist menschenrechtlich von einer besonderen Wohnform auszugehen, die nicht akzeptiert werden muss. Dies gilt erst Recht, wenn der behinderte Mensch, wie die Klägerin in diesem Fall, gerade außerhalb einer Einrichtung, nämlich in einem Wohnprojekt, leben möchte. Da der Begriff der besonderen Wohnform im deutschen Recht nicht legal definiert ist, ist auf die Auslegung des Fachausschusses zurückzugreifen. Die insoweit zugrunde zu legende Definition wird zukünftig noch stärker in den Fokus rücken, wenn sie als Schlüsselbegriff des ab 01.01.2020 geltenden SGB IX für die Grundsätze der Leistungsgewährung in § 104 Abs. 3 SGB IX n. F. Bedeutung erlangt.
Ferner hat der Fachausschuss in seinen allgemeinen Bemerkungen zur Staatenberichtsprüfung Deutschlands ausdrücklich dargelegt, dass er besorgt ist über den hohen Grad der Institutionalisierung.[22] Ausdrücklich empfiehlt er eine Novellierung des Mehrkostenvorbehalts in § 13 Abs. 1 S. 3 SGB XII, um die Durchsetzung der Rechte aus Art. 19 UN-BRK zu ermöglichen.[23] Daraus kann rechtlich freilich nicht gefolgert werden, dass das zuständige Gericht die Vorschrift nicht zur Anwendung zu bringen hat; das wäre aufgrund des Verwerfungsmonopols des BVerfG rechtsstaatlich unmöglich. Indes bedeutet es, dass die dargestellten menschenrechtlichen Erwägungen in die Entscheidung eingestellt werden müssen, da andernfalls eine konventionswidrige Anwendung deutschen Rechts droht.
4. Durchführungsaspekte der Abwägung und Kostenaspekte
Den dargestellten Regelungen und Grundsätzen sind die Aspekte gegenüberzustellen, die eine Unverhältnismäßigkeit der gewünschten Leistung gegenüber einer anderen, nicht vom Leistungsberechtigten gewünschten Leistung begründen. Hierbei sind richtigerweise die sich ergebenden Kosten der Leistung einzustellen. § 9 Abs. 2 S. 3 SGB XII stellt als Teil des generellen Übermaßverbots – nicht nur, aber auch – klar, dass es um die Verteilung steuerfinanzierter Leistungen geht, die in ihrer Endlichkeit nicht beliebig verteilt werden können.[24] Der Mehrkostenvorbehalt erschöpft sich jedoch nicht in einem rein rechnerischen Kostenvergleich, sondern verlangt vielmehr eine wertendende Betrachtung, bei der das Gewicht der gewünschten Gestaltung für die individuelle Situation umfassend zu berücksichtigen ist.[25]
Für die Einbeziehung von Kosten folgt bereits aus dem Begriff „unverhältnismäßig“, dass eine Leistung nicht nur abzulehnen ist, wenn sie mehr als eine stationäre kostet, vielmehr müssen bei gleicher Geeignetheit der Alternative, die zu einem gleichwertigen Eingliederungserfolg führt, gravierende Kostenunterschiede bestehen.[26] Daraus folgt auch, dass eine schlichte Begrenzung des Leistungsanspruchs auf die Kosten einer stationären Unterbringung materiell rechtswidrig ist. Entgegen anderslautender Ansichten[27] verbietet sich zudem eine starre Bemessung von relationalen Größen, ab denen eine Unverhältnismäßigkeit angenommen werden muss. Auch bei einer erheblichen Abweichung der Kosten für eine gewünschte gegenüber einer anderen Leistung kann eine Unverhältnismäßigkeit verneint und die Leistung gewährt werden. Anders als im Krankenversicherungsrecht, das wegen der solidarischen Beitragsfinanzierung besonders auf die Aufrechterhaltung des wirtschaftlich funktionierenden Systems gerichtet ist und vorschreibt, dass unter den ausreichenden und zweckmäßigen Leistungen die günstigste auszuwählen ist (§ 12 SGB V), werden wirtschaftliche Aspekte des Haushaltsgesetzgebers bei der Auslegung der Mehrkostenvorbehalte des Sozialhilferechts nur im Ausnahmefall durchgreifen. Die dargestellten einfachgesetzlichen und höherrangigen rechtlichen Regelungen sind so gewichtig, dass bei wertender Betrachtung im Regelfall auch wegen des Ausnahmecharakters der Begrenzungsvorschriften die Schwelle der Unverhältnismäßigkeit nicht erreicht werden dürfte. Die Unverhältnismäßigkeit ist insoweit nicht als allgemeiner Haushaltsvorbehalt zu verstehen, sie bildet vielmehr die Grenze dessen, was unter Abwägung aller relevanten Aspekte im Sinne eines Übermaßverbots rechtsstaatlich noch hinnehmbar ist, um den Eingliederungserfolg sicherzustellen.
Bei der Auslegung ist im vorliegenden Streitfall zu bedenken, dass noch weitere bundesrechtliche Vorschriften und deren Wertungen in Betracht zu ziehen sind. Sowohl im SGB IX als auch im SGB XII gilt zwingend § 2 Abs. 2 SGB I, wonach das unmittelbar geltende soziale Recht auf Teilhabe aus § 10 SGB I bei der Auslegung der einzelnen Bücher des SGB und beim Ermessen zu beachten ist. Es muss sichergestellt werden, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. In diesem Lichte ist auch das Recht aus § 10 Nr. 4 SGB I zu bewerten, das die möglichst selbstständige und selbstbestimmte Lebensführung sowie deren rechtliche Ermöglichung zum Prinzip erhebt.[28]
Ist nach alledem eine Begrenzung durch die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme möglich, löst dies auf Rechtsfolgenseite ein intendiertes Ermessen (sollen in der Regel) aus. Weitgehend dürften sich die auf Tatbestandsseite aufgeworfenen Fragen an dieser Stelle wiederholen. Auszuschließen ist jedoch selbst dann nicht, dass ein atypischer Fall vorliegt, in dem von der Soll-Vorschrift abzuweichen ist. Jedenfalls soweit die Behörde hierzu nichts vorträgt, kann hierin ein Ermessensfehler in Gestalt eines Ermessensausfalls liegen.
Beitrag von Ass. iur. Arne Frankenstein, Bremen
Fußnoten
Art. 19 UN-BRK, § 9 Abs. 2 SGB XII, Wunsch- und Wahlrecht, Mehrkostenvorbehalt, Mehrkosten, Recht auf Freizügigkeit, § 13 Abs. 1 SGB XII, Benachteiligungsverbot, Persönliches Budget, Eingliederungshilfe
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