19.02.2021 A: Sozialrecht Ennuschat: Beitrag A8-2021

Das Verbot der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) und seine Bedeutung für Nachteilsausgleiche in Prüfungen

In dem vorliegenden Beitrag befasst sich Prof. Dr. Ennuschat mit dem Verbot der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG im Zusammenhang mit prüfungsrechtlichen Nachteilsausgleichen für Studierende mit Behinderungen.

Einleitend wird kurz die Rechtsprechung des BVerwG aus dem Jahre 1985 dargestellt, die bis heute für Entscheidungen über Nachteilsausgleiche herangezogen werde und insbesondere Studierende mit psychischen Beeinträchtigungen benachteilige. Im Anschluss beleuchtet der Autor die Bedeutung der Diskriminierungsverbote aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 2 UN-BRK für die diesbezügliche Verwaltungspraxis der Hochschulen. Insbesondere wird dabei untersucht, unter welchen Voraussetzungen Art. 3 Abs. 3 S. 2 eingeschränkt werden darf und welche konkreten Pflichten den Hochschulen aus dem Benachteiligungsverbot erwachsen. Abschließend kritisiert der Autor, dass die Gerichte bei Entscheidungen über Nachteilsausgleiche die UN-BRK nicht hinreichend würdigen.

Dieser Beitrag wurde bereits in der Zeitschrift für Beratung und Studium erstveröffentlicht (ZBS 4/2020, 104-107). Wir danken dem UniversitätsVerlagWebler für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.

(Zitiervorschlag: Ennuschat: Das Verbot der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) und seine Bedeutung für Nachteilsausgleiche in Prüfungen; Beitrag A8-2021 unter www.reha-recht.de; 19.02.2021)

I. Einleitung: eine jahrzehntealte Rechtsprechung[1]

Im Aktionsplan 2.0 der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention heißt es wie folgt:[2]

„In Deutschland studieren etwa 450.000 Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Von diesen berichteten 95.000 Studierende (ca. 4 Prozent aller Studierenden) von schwereren Beeinträchtigungen, die zu Schwierigkeiten im Studium führen. Dabei sind psychische Beeinträchtigungen und chronisch-somatische Erkrankungen die am häufigsten genannten Beeinträchtigungen.“

Die Beeinträchtigungen betreffen häufig auch die Prüfungen. Nachteilsausgleiche könnten vielfach Chancengleichheit sichern, werden indessen immer wieder nicht gewährt, insb. nicht bei psychischen Beeinträchtigungen. Hintergrund ist ein Beschluss des Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) aus dem Jahre 1985:[3]

Dauerleiden [hier: eine biphasische endogene Psychose] prägen als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften die Leistungsfähigkeit des Prüflings. Ihre Folgen bestimmen deshalb im Gegensatz zu sonstigen krankheitsbedingten Leistungsminderungen das normale Leistungsbild des Prüflings. Sie sind mithin zur Beurteilung der Befähigung bedeutsam, die durch die Prüfung festzustellen ist. Der in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte prüfungsrechtliche Grundsatz der Chancengleichheit läßt es daher … nicht zu, eine von den Auswirkungen eines Dauerleidens betroffene Prüfungsleistung unberücksichtigt zu lassen (…).“

Diese Entscheidung, die ihrerseits an noch ältere Judikate anknüpft, prägt seit 35 Jahren die Rechtsprechung zu Nachteilsausgleichen in Prüfungen.

II. Verdienste der bisherigen Rechtsprechung

Diese Rechtsprechung hat durchaus ihre Vorzüge. Besonders verdienstvoll ist die Konstruktion des prüfungsrechtlichen Grundsatzes der Chancengleichheit, der unmittelbar im Grundgesetz – in Art. 3 Abs. 1 GG – wurzelt. Konsequenz ist, dass Studierende einen Anspruch auf Nachteilsausgleich selbst dann geltend machen können, wenn die einschlägige Prüfungsordnung Nachteilsausgleiche nicht oder nur lückenhaft vorsieht. Das ist auch heute noch wichtig, wie eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) Berlin vom 09. September 2020 verdeutlicht:[4]

„Nach § [xy] der Prüfungsordnung … sind Prüfungsteilnehmern, die aufgrund ihrer Behinderung anderen Prüfungsteilnehmern gegenüber wesentliche Nachteile haben, auf Antrag durch den Vorsitzenden des Prüfungsausschusses die ihrer Behinderung angemessenen Erleichterungen im Prüfungsverfahren einzuräumen. Die Bestimmung ist auf die hier im Streit stehende Zwischenprüfung nicht unmittelbar anwendbar. Ein entsprechender Anspruch auf Herstellung chancengleicher Prüfungsbedingungen dürfte mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung … unmittelbar aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG folgen...“

Hervorzuheben ist dabei, dass diese Rechtsprechung die Position von Studierenden mit Behinderung schon verbessert hat, bevor das Verbot der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung Eingang in das Grundgesetz gefunden hat (1994) und lange bevor die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Kraft getreten ist (2009).

III. Warum Art. 3 Abs. 1 GG? Warum nicht Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG?

Die beiden Rechtsprechungszitate von 1985 und von 2020 weisen darauf hin, dass die Rechtsprechung Ansprüche auf Nachteilsausgleiche für Studierende mit Behinderungen auf Art. 3 Abs. 1 GG stützt; diese Norm lautet:

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“

1. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ist lex specialis zu Art. 3 Abs. 1 GG

Seit 1994 gibt es mit Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG jedoch einen speziellen Gleichheitsgrundsatz für Menschen mit Behinderungen:

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ist lex specialis[5] zu Art. 3 Abs. 1 GG und deshalb vorrangig anwendbar. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verbietet auch mittelbare Benachteiligungen, wie das BVerfG in jüngerer Zeit mehrfach ausgeführt hat.[6]

Das ist genau die Situation in Prüfungen: Wenn z. B. eine Prüfungsordnung vorgibt, dass die Schreibzeit für eine Examensklausur 120 Minuten beträgt, dann gilt die Regelung formal für alle Prüflinge gleichermaßen, benachteiligt mittelbar aber den Prüfling mit einer Schreibbehinderung.

Nun stellt sich folgende Frage: Können (mittelbare) Benachteiligungen, die an eine Behinderung anknüpfen, trotz des Verbotes in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ausnahmsweise gerechtfertigt werden? Das BVerfG bejaht dies in einer Entscheidung von Januar 2019, aber nur unter sehr engen Voraussetzungen:[7]

Eine (auch nur mittelbare) „Schlechterstellung Behinderter ist nur zulässig, wenn zwingende Gründe eine solche rechtfertigen … Die Rechtfertigung einer Benachteiligung entgegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG unterliegt damit einem strengen Maßstab...“

Ganz ähnlich lautet eine Formulierung des BVerfG aus dem Jahr 2020:[8]

„… eine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderungen ist nur zulässig, wenn dafür zwingende Gründe vorliegen…“

2. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verlangt zwingende Gründe zur Rechtfertigung einer (mittelbaren) Benachteiligung von Studierenden mit Behinderung

Eine mittelbare Benachteiligung, die durch das Prüfungssetting entsteht, ist also nur dann zulässig, wenn es zwingende Gründe für das Prüfungssetting gibt. An das Merkmal „zwingend“ ist ein strenger Maßstab anzulegen. Als rechtfertigender zwingender Grund kommt der Prüfungszweck in Betracht. Aber dann muss das Prüfungsamt überzeugend darlegen, warum der Prüfungszweck dem Nachteilsausgleich zwingend entgegensteht.

Zur Erläuterung ein Beispiel:

A hat eine Behinderung/chronische Erkrankung, die mit erheblichen Rückenproblemen und Schmerzen einhergeht. Sie kann eine fünfstündige Examensklausur nur durchhalten, wenn sie regelmäßige kurze Gymnastikpausen einlegt, sobald die Schmerzen unerträglich zu werden drohen. Das Prüfungsamt gewährt ihr Nachteilsausgleich in Form von Gymnastikpausen, die nicht auf die Schreibzeit angerechnet werden.

B hat eine Behinderung/chronische Erkrankung (z.B. Angststörung), die dazu führt, dass seine Konzentrationsfähigkeit nach einiger Zeit abbricht. Um die Konzentrationsfähigkeit wiederherzustellen, benötigt er regelmäßige kurze Ruhepausen für Entspannungsübungen. Das Prüfungsamt verweigert ihm Nachteilsausgleich mit der Begründung, dass seine Konzentrationsprobleme/Angststörung als persönlichkeitsbedingte Eigenschaft seine Leistungsfähigkeit und sein normales Leistungsbild prägen.

Steht der Prüfungszweck bei B wirklich zwingend entgegen, wenn er nur begehrt, was A in ganz ähnlicher Weise gewährt wird?

3. Wenn keine zwingenden Gründe vorliegen: Anspruch auf hinlängliche Kompensation der Benachteiligung

Das Benachteiligungsverbot gem. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG kann staatliche Handlungspflichten auslösen, wie das BVerfG ausgeführt hat:[9]

„Eine Benachteiligung i.S.v. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG liegt bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt vor, soweit dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme[10]  hinlänglich kompensiert wird.“

Die hinlängliche Kompensation erfolgt dann z. B. durch den Nachteilsausgleich in einer Prüfung (etwa zusätzliche Ruhepausen oder Schreibzeitverlängerung etc.).

4. Nur sehr eingeschränkter Ressourcenvorbehalt

Das BVerfG verknüpft die Pflicht zur hinlänglichen Kompensation mit einem eng umgrenzten Ressourcenvorbehalt: Die mittelbare Benachteiligung ist nur dann zulässig, wenn Kompensationsmaßnahmen „unmöglich oder unzumutbar“ sind.[11] Im Regelfall ist der zusätzliche Verwaltungsaufwand für die Gewährung eines Nachteilsausgleichs aber nicht so groß, dass es für die Hochschule unmöglich oder unzumutbar ist.

Im Übrigen müsste die Hochschule darlegen, warum Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit gegeben sind. Deshalb kann sie sich erst dann überzeugend auf die Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit berufen, wenn sie ein Gesamtkonzept erarbeitet hat, aus dem hervorgeht, wie sie trotz begrenzter Ressourcen im Wege praktischer Konkordanz möglichst allen Belangen – auch den Belangen der betroffenen Studierenden mit Behinderungen – Rechnung tragen will.[12]

5. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG als Legitimation für eine gesetzliche Besserstellung von Menschen mit Behinderung

Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ist in erster Linie ein spezielles Gleichheitsgebot und verbietet insoweit die Schlechterstellung von Menschen mit Behinderung. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ermöglicht indessen sogar deren Besserstellung. Während das Verbot der Schlechterstellung und der Anspruch auf Gleichstellung unmittelbar aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG folgen, kann ein Anspruch auf Besserstellung erst/nur durch den Gesetzgeber begründet werden.[13]

Prüfungsrechtliche Relevanz entfaltet Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG z. B. für den sog. Notenschutz im Schulbereich, wonach Rechtschreibfehler von legasthenen Schülerinnen und Schülern nicht in die Bewertung einfließen. Nötig ist dann ein entsprechender Zeugnisvermerk. Die Nachteilsausgleichsansprüche, die in diesem Beitrag im Fokus stehen, begründen jedoch keine Besserstellung, sondern sollen lediglich die Schlechterstellung verhindern.

IV. Selbst wenn Art. 3 Abs. 1 GG herangezogen wird – warum dann nicht unter konsequenter Anwendung der sog. neuen Formel?

Die Rechtsprechung blendet bislang Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG aus und stellt auf Art. 3 Abs. 1 GG ab. Aber selbst dann ist ihr vorzuhalten, dass sie bei der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes die sog. neue Formel ignoriert.

1. Früher: Art. 3 Abs. 1 GG als Willkürverbot

Der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG wurde zunächst als Willkürverbot verstanden. Eine Ungleichbehandlung konnte deshalb schon dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden, wenn sie nicht willkürlich war, wenn es vielmehr (irgend)einen sachlichen Grund gab. Auf das Prüfungsrecht gewendet, würde dies bedeuten: Wenn die einheitliche Durchführung der Prüfung für alle Studierenden unabhängig von einer etwaigen Behinderung durch irgendeine nachvollziehbare Erwägung zum Prüfungszweck getragen wäre, dann könnte kein Nachteilsausgleich begehrt werden. Die Willkürformel ermöglicht also pauschale Betrachtungen.

2. Heute: neue Formel verlangt hier strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall

Die heute vom BVerfG verwendete sog. neue Formel vermeidet einen allgemeinen Rechtfertigungsmaßstab, stellt vielmehr auf den konkreten Sachverhalt ab, ob nur das Willkürverbot oder das Verhältnismäßigkeitsgebot greift. Das BVerfG hat dabei einige Leitlinien für den Rechtfertigungsmaßstab entwickelt: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (und nicht nur das Willkürverbot) greift, wenn die Ungleichbehandlung zugleich in Freiheitsrechte eingreift.[14] Eine strenge Bindung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besteht bei personenbezogenen Ungleichbehandlungen, und zwar auch bei mittelbarer Ungleichbehandlung von Personengruppen.[15] Die Anforderungen an die Rechtfertigung einer ungleichen Behandlung von Personengruppen sind dabei umso strenger, je mehr sich die zur Unterscheidung führenden personenbezogenen Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmalen annähern.[16] Für den Nachteilsausgleich in Prüfungen folgt daraus eine strenge Bindung an die Verhältnismäßigkeit: Prüfungen greifen i.d.R. in die Berufsfreiheit ein. Es geht um eine personenbezogene (mittelbare) Ungleichbehandlung, die an eine Behinderung anknüpft, die nicht beeinflusst werden kann und zudem dem Anwendungsbereich von Art. 3 Abs. 3 GG zumindest nahe kommt, wenn nicht sogar bei Vorliegen einer Behinderung ohnehin Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG anwendbar ist.

Der Ausschluss des Nachteilsausgleichs muss (mittlerweile) verhältnismäßig sein, d. h. er muss geeignet und erforderlich sein, um den Prüfungszweck zu erreichen, und der Nachteil für den betroffenen Prüfling muss in einem angemessenen Verhältnis zum Vorteil für den Prüfungszweck stehen. Die Angemessenheit ist insbesondere dann zu bejahen, wenn der Prüfungszweck deutlich gewichtiger ist als der Nachteil für den/die Betroffene(n). Umgekehrt bedeutet dies: Wenn die Verweigerung von Nachteilsausgleich mit Blick auf den Prüfungszweck unverhältnismäßig ist, entsteht die Pflicht, Nachteilsausgleich zu gewähren.

Diese Änderung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 GG wird, soweit ersichtlich, in der prüfungsrechtlichen Rechtsprechung noch nicht aufgegriffen. Deshalb sei hervorgehoben: Selbst wenn man den Anspruch auf Nachteilsausgleich von Studierenden mit Behinderungen weiterhin auf Art. 3 Abs. 1 GG (und nicht wie hier vertreten auf Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) stützen will, muss die Verweigerung von Nachteilsausgleich verhältnismäßig sein. Nötig ist stets eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Abwägung mit dem Prüfungszweck. Für die Verhältnismäßigkeit gilt ein strenger Maßstab.

V. Warum wird die unmittelbare Geltung des Diskriminierungsverbotes aus Art. 5 Abs. 2 UN-BRK von der Rechtsprechung ausgeblendet?

Die Rechtsprechung zu Nachteilsausgleichen hat die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention noch nicht ausreichend gewürdigt. Diese enthält in Art. 5 Abs. 2 ein allgemeines Diskriminierungsverbot

„Die Vertragsstaaten verbieten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen.“

Für den Hochschulbereich gibt es ein spezielles Diskriminierungsverbot in Art. 24 Abs. 5 UN-BRK. Das Diskriminierungsverbot gilt unmittelbar (self executing), d. h. jede Bürgerin und jeder Bürger kann sich gegenüber Behörden und Gerichten unmittelbar darauf berufen.[17]

Unstreitig verbietet Art. 5 Abs. 2 UN-BRK auch mittelbare Diskriminierungen.[18] So stellt sich erneut die Frage, ob eine (mittelbare) Diskriminierung ausnahmsweise gerechtfertigt werden kann. In der Literatur wird diese Frage bejaht, aber nur unter engen Voraussetzungen: Gerechtfertigt ist die Ungleichbehandlung nur, wenn sie zwingend erforderlich ist.[19]

Liegt kein zwingender Grund vor, muss die Diskriminierung durch eine angemessene Vorkehrung beseitigt werden. Werden angemessene Vorkehrungen versagt, liegt gem. Art. 2 UAbs. 4 UN-BRK wiederum eine unzulässige Diskriminierung vor. Nachteilsausgleiche in Prüfungen können angemessene Vorkehrungen sein.[20] Die Pflicht, angemessene Vorkehrungen zu treffen, entfällt, wenn diese zu einer unverhältnismäßigen oder unbilligen Belastung führen (Art. 2 UAbs. 4 UN-BRK).

Deutlich wird, dass die Wertungen und Wirkungen von Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 2 UN-BRK weitestgehend parallel verlaufen.

VI. Wenn Nachteilsausgleiche im späteren Berufsleben möglich und teils sogar gesetzlich vorgeschrieben sind, warum dann kein Nachteilsausgleich in Prüfungen?

Hochschulprüfungen weisen in aller Regel einen Berufsbezug auf. Wenn Beeinträchtigungen eines Prüflings im späteren Berufsleben durch die Arbeitgeberin bzw. den Arbeitgeber ausgeglichen werden können, lässt dies vermuten, dass auch ein entsprechender Nachteilsausgleich in der Prüfung möglich ist. Und noch einen Schritt weiter: Wenn im Arbeitsleben Beeinträchtigungen ausgeglichen werden müssen, dann spricht dies dafür, dass in Prüfungen ein Nachteilsausgleich geboten ist.

Im Arbeitsleben gibt es derartige gesetzlich fundierte Ansprüche von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Behinderungen. Zu nennen ist insb. § 164 Abs. 4 und 5 SGB IX.[21] Beispiele sind u. a. Pausenregelungen, Begrenzungen der täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitszeit oder Einzelzimmer. Konsequenzen für Nachteilsausgleiche in Prüfungen: Wenn derartige Nachteilsausgleiche in der Berufspraxis möglich oder sogar gesetzlich geboten sind, dann steht der Prüfungszweck vergleichbaren Nachteilsausgleichen nicht zwingend entgegen.

VII. Fazit

Hochschulprüfungen wirken noch zu oft als Inklusionsbremse. Grund ist eine Prüfungspraxis und eine Rechtsprechung, deren Wurzeln über 50 Jahre in die Vergangenheit reichen. Mittlerweile gibt es mit Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 2 UN-BRK ein Benachteiligungsverbot bzw. ein Diskriminierungsverbot, die bewirken, dass ein Nachteilsausgleich nur verwehrt werden kann, wenn der Prüfungszweck dies zwingend erfordert. Wenn später Arbeitgeber gem. § 164 Abs. 4 und 5 SGB IX zu verschiedenen Ausgleichsmaßnahmen verpflichtet sind, spricht viel dafür, dass der Prüfungszweck vergleichbaren Ausgleichsmaßnahmen in Prüfungen nicht mehr in allen Fällen zwingend entgegensteht, in denen heute noch Nachteilsausgleich verwehrt wird.

Beitrag von Prof. Dr. Jörg Ennuschat, Ruhr-Universität Bochum

Fußnoten

[1] Zentrale Überlegungen in diesem Beitrag wurden erstmals in einem Rechtsgutachten (Nachteilsausgleiche für Studierende mit Behinderungen, 2019) entwickelt, das der Verfasser dem Deutschen Studentenwerk erstattet hat.

[2] „Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft“ Nationaler Aktionsplan 2.0 der Bundesregierung zur UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) vom 28.06.2016, S. 59; wiedergegeben unter www.bmas.de/DE/Schwerpunkte/¬Inklusion/¬nationaler-aktionsplan-2-0.html.

[3] BVerwG, Beschluss vom 13.12.1985 – 7 B 210/85, juris Rn. 6 – Hervorhebungen nicht im Original.

[4] VG Berlin, Beschluss vom 09.09.2020 – 3 K 186/20, juris Rn. 14 – Hervorhebungen nicht im Original.

[5] BVerwG, Urteil vom 29.07.2015 – 6 C 35/14, juris Rn. 26 (= NVwZ 2016, 541); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 162.

[6] BVerfG, Beschluss vom 27.11.2018 – 1 BvR 957/18, juris Rn. 2 (= NZS 2019, 379) u. Beschluss vom 29.01.2019 – 2 BvC 62/14, juris Rn. 55 (=NJW 2019, 1201).

[7] BVerfG, Beschluss vom 29.01.2019 – 2 BvC 62/14, juris Rn. 57 (= NJW 2019, 1201) – Hervorhebung nicht im Original.

[8] Ebenso BVerfG, Beschluss vom 30.01.2020 – 2 BvR 1005/18, juris Rn. 35 – Hervorhebung nicht im Original.

[9] BVerfG, Beschluss vom 29.01.2019 – 2 BvC 62/14, juris Rn. 55 (= NJW 2019, 1201) – Hervorhebung nicht im Original.

[10] Angemerkt sei in diesem Kontext Folgendes: Das BVerfG spricht von „Fördermaßnahmen“ bzw. „Förderungsmaßnahmen“, welche die Benachteiligung kompensieren sollen. Der Sache nach handelt es sich jedoch um Ausgleichsmaßnahmen, d.h. um Nachteilsausgleiche.

[11] BVerfG, Beschluss vom 29.01.2019 – 2 BvC 62/14, juris Rn. 57 (=  NJW  2019, 1201): „Dies ist nicht der Fall, wenn der Staat durch Fördermaßnahmen oder Assistenzsysteme die  Einschränkungen,  denen  Menschen  mit Behinderungen unterliegen, beseitigen kann; erst  wenn  dies  unmöglich oder unzumutbar ist, kann eine Benachteiligung gerechtfertigt sein.“

[12] Vgl. Kirmse: Die Verpflichtungen von Hochschulen zu „angemessenen Vorkehrungen“ unter besonderer Berücksichtigung des Merkmals der „unverhältnismäßigen Belastung“ anhand der Entscheidung des VG Halle vom 20.11.2018 – Teil I; Beitrag A15-2019 unter www.reha-recht.de; 09.08.2019, 1.

[13] BVerwG, Urteil vom 29.07.2015 – 6 C 35/14, juris Rn. 41, 45 (= NVwZ 2016, 541); OVG Nds., Beschluss vom 20.02.2017 – 2 PA 46/17, juris Rn.15; VG Saarland, Urteil vom 05.03.2009 – 1 K 643/08, juris Rn. 78; VG Saarland, Beschluss vom 06.03.2019 – 1 L 175/19, juris Rn. 73; VG Stuttgart, Beschluss vom 12.07.2012 – 12 K 2267/12, juris Rn. 11.

[14] BVerfGE 107, 133 (141 Rn. 25) – zur Berufsfreiheit; siehe mit Blick auf Prüfungen schon BVerfG, NVwZ 1989, 645: „Die Auswirkung von Prüfungsergebnissen auf die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Freiheit der beruflichen Betätigung ist auch für den Prüfungsmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG und damit für den Grundsatz der Chancengleichheit bedeutsam. Bei berufsbezogenen Prüfungen kann der Gestaltungsraum, den Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber beläßt, im Ergebnis nicht weiter sein als bei solchen Regelungen, die allein am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG zu messen sind.“

[15] So ausdrücklich BVerfGE 133, 377 (407 Rn. 75).

[16] BVerfGE 133, 377 (408 Rn. 77); Beschluss vom 26.03.2019 – 1 BvR 673/17, juris Rn. 64.

[17] BSG, Urteil vom 08.09.2015 – B 1 KR 22/14 R, juris Rn. 23; Urteil vom 02.09.2014 – B 1 KR 12/13 R, juris Rn. 23; LSG Berlin-Bbg., Urteil vom 26.04.2018 – L 33 R 964/15, juris Rn. 57; BayLSG, Urteil vom 25.04.2018 – L 13 R 64/15, juris Rn. 41; VG Karlsruhe, Urteil vom 04.04.2019 – 11 K 1830/18, juris Rn. 60; VG SH, Urteil vom 07.02.2019 – 1 A 66/16, juris Rn. 32; Kroworsch, NDV 2015, 337 (339); Luthe, in: SGb 2013, 391 (393); Roller, NZS 2019, 368 (371); Rosenow, ASR 2015, 93 (97).

[18] Näher Aichele/Althoff, in: Welke, UN-BRK, 2012, Artikel „Nichtdiskriminierung“, Rn. 13 ff.

[19] Uerpmann-Wittzack, AVR 54 (2016), 181 (195).

[20] Eikötter, NordÖR 2015, 53 (58); Rabe-Rosendahl: Nachteilsausgleich in Prüfungsverfahren – zugleich Anmerkung zum Urteil d. Bayerischen VGH v. 19.11.2018 – 7 B 16.2604; Beitrag A3-2019 unter www.reha-recht.de; 08.02.2019, 1 (3 f.); Selbmann, SächsVBl. 2015, 285 (291).

[21] Die Vorschriften gelten meist für schwerbehinderte Arbeitnehmer, wobei eine Schwerbehinderung ab einem GdB von mindestens 30 anzunehmen ist, so Fabricius, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl. 2018, § 164 Rn. 5, 38.


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