26.01.2021 A: Sozialrecht Schian: Beitrag A5-2021

Gemeinsame Empfehlung Reha-Prozess – ein „Patentrezept“ für die Gestaltung trägerübergreifender Zusammenarbeit in der Rehabilitation – Teil II: Inhalte der GE Reha-Prozess

Der zweiteilige Beitrag von Marcus Schian stellt wesentliche Inhalte der Gemeinsamen Empfehlung (GE) Reha-Prozess vor. Der Fokus liegt dabei auf den in der GE enthaltenen Klärungen und Konkretisierungen gesetzlicher Auslegungs- und Umsetzungsspielräume. Die Regelungen des SGB IX zur trägerübergreifenden Koordination und Kooperation wurden im ersten Teil skizziert sowie das Instrument der Gemeinsamen Empfehlung (GE) Reha-Prozess und die Notwendigkeit eines gemeinsamen Prozessverständnisses vorgestellt. Der vorliegende zweite Teil des Beitrags, der Hauptteil, bildet eine Übersicht über wesentliche Lösungsansätze, die die GE Reha-Prozess für vom Gesetz eröffnete Konkretisierungs- und Auslegungsspielräume bietet, um Zusammenarbeit im Verwaltungsalltag zu ermöglichen (V.). Es folgt ein Überblick über weitere Umsetzungshilfen, die die GE Reha-Prozess ergänzen, samt Ausblick auf zukünftig aufzugreifende Themen- bzw. Handlungs­felder (VI.).

(Zitiervorschlag: Schian: Gemeinsame Empfehlung Reha-Prozess – ein „Patentrezept“ für die Gestaltung trägerübergreifender Zusammenarbeit in der Rehabilitation – Teil II: Inhalte der GE Reha-Prozess; Beitrag A5-2021 unter www.reha-recht.de; 26.01.2021)


Das SGB IX enthält Regelungen zur trägerübergreifenden Koordination und Kooperation im gegliederten Rehabilitationssystem. Im ersten Beitragsteil wurden diese Regelungen skizziert sowie das Instrument der Gemeinsamen Empfehlung (GE) Reha-Prozess und die Notwendigkeit eines gemeinsamen Prozessverständnisses vorgestellt.[1] Der vorliegende zweite Teil liefert eine Übersicht über wesentliche Lösungsansätze, die die GE Reha-Prozess für vom Gesetz eröffnete Konkretisierungs- und Auslegungsspielräume bietet, um Zusammenarbeit im Verwaltungsalltag zu ermöglichen (V.). Es folgt ein Überblick über weitere Umsetzungshilfen, die die GE Reha-Prozess ergänzen, samt Ausblick auf zukünftig aufzugreifende Themen- bzw. Handlungsfelder (VI.).

I. Wesentliche Inhalte der GE Reha-Prozess – Konkretisierungen und Klärungen gesetzlicher Auslegungs- und Umsetzungsspielräume

Die GE Reha-Prozess ist in drei Teile gegliedert. Teil 1 (Allgemeiner Teil, §§ 1–9) enthält das wesentliche Prozessverständnis und prozessübergreifende Grundätze, Teil 2 (Ausgestaltung des Rehabilitationsprozesses, §§ 10–87) enthält Regelungen zu den einzelnen Prozessphasen, die Schlussvorschriften (§§ 88 und 89) bilden Teil 3.

1. Allgemeiner Teil

Der allgemeine Teil legt die Prozessphasen als gemeinsame Grundlage der Zusammenarbeit fest (§ 2 GE RP[2]). Er konzentriert und konkretisiert verschiedene im Gesetz nur punktuell, allgemein oder verstreut über verschiedene Regelungsorte verankerte Grund­sätze, die im gesamten Prozess gelten, z. B.:

  • Ausrichtung auf Selbstbestimmung, Teilhabe, Partizipation (§§ 4, 6, 7 GE RP),
  • Beratung (§ 6 GE RP),
  • Amtsermittlung, Meistbegünstigung (§ 5 GE RP) – Abbildung der entsprechen­den BSG-Rechtsprechung[3],
  • Datenschutz (§ 8 GE RP) – grundlegende Bedeutung des Datenschutzes und grundlegendes Verständnis der gesetzlichen Aufgaben nach dem SGB sowie der Bedeutung der Einwilligung.

2. Bedarfserkennung

Die Bedarfserkennung ist gesetzlich vor allem geregelt in den §§ 9, 10, 12 SGB IX. Die GE Reha-Prozess konkretisiert diese Vorschriften u.a. indem

  • trägerübergreifend abgestimmte konkrete Anhaltspunkte für Reha-Bedarf benannt werden (§ 11 sowie Anlage 1 und 2 GE RP); dies ist der einzige Ort, an dem solche Kriterien trägerübergreifend abgestimmt zusammengestellt sind,
  • das Vorgehen bei der Erkennung von Reha-Bedarf ebenso konkret geschildert wird (§ 12 GE RP) wie z. B. die Einbindung von weiteren Akteuren – u. a. Beratungsangeboten, Ärzten – in die Bedarfserkennung (§ 13–18 GE RP).

3. Zuständigkeitsklärung

Die gesetzlich in § 14 SGB IX geregelte Zuständigkeitsklärung beinhaltet vor allem die verbindliche Festlegung des „leistenden Reha-Trägers“, dem nach den §§ 14–23 SGB IX eine zentrale Rolle als Koordinator und Ansprechpartner im Verfahren zukommt. Die Festlegung erfolgt in aller Regel binnen zwei Wochen nach Antragstellung durch Fristablauf oder durch (grundsätzlich nur einmal mögliche) Weiterleitung des Antrags. Die GE Reha-Prozess bietet hier u. a. folgende praxisbezogene Konkretisierungen/ Lösungen/Umsetzungshinweise zur gesetzlichen Regelung:

Antragsbegriff

Laut Gesetz leitet der erstangegangene Träger „den Antrag“ (innerhalb von 2 Wochen) weiter, wenn er für die Leistung insgesamt nicht zuständig ist (§ 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX). Die GE Reha-Prozess konkretisiert dies in konsequenter Anwendung des Meist­begünstigungsprinzips dahingehend, dass ein weites Antragsverständnis zu Grunde gelegt wird:

„…wenn Unterlagen vorliegen, die eine Beurteilung der Zuständigkeit ermöglichen. Hierzu gehört insbesondere, dass die Identität sowie ein konkretisierbares Leistungs­begehren des Antragstellers erkennbar sind und sich dieses konkretisierbare Leistungsbegehren unabhängig von den verwendeten Begriffen auf Leistungen zur Teilhabe i. S. v. § 4 SGB IX bezieht.“ (§ 19 Abs. 2 S. 2 GE RP)[4].

Antragsweiterleitung

Der erstangegangene Träger leitet den Antrag bei insgesamter Unzuständigkeit an den „nach seiner Auffassung zuständigen“ Reha-Träger weiter. Die GE Reha-Prozess leistet hier eine Konkretisierung des anzulegenden Prüfungsmaßstabs:

„…prüft der erstangegangene Rehabilitationsträger … mögliche Zuständigkeiten weiterer Reha-Träger nach anderen Leistungsgesetzen. Mögliche Zuständigkeiten weiterer Reha-Träger werden auf Ebene der Leistungsgruppen nach den §§ 5 und 6 SGB IX geprüft“ (§ 19 Abs. 3 S. 2 GE RP).

Die Weiterleitung wird zudem begründet (§ 21 Abs. 3 GE RP).

Erkennung weiterer Reha-Bedarfe nach Antragstellung

Die GE Reha-Prozess greift die gesetzlich nicht unmittelbar erfasste, praxisrelevante Konstellation auf, dass nach Antragstellung weitere, d. h. nicht vom Antrag umfasste, Reha-Bedarfe erkannt werden (z. B. Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeits­leben – LTA, bei der Bedarfsermittlung wird medizinischer Reha-Bedarf erkannt). Hier war das Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Rechtsgedanken der § 9 Abs. 1, § 10 Abs. 4, § 19 Abs. 1 und §§ 14 ff., insbesondere § 18 SGB IX, in möglichst schonendem Ausgleich aufzulösen. Die Lösung in § 25 GE RP differenziert nach dem Zeitpunkt, zu dem weiterer Reha-Bedarf erkannt wird: geschieht dies binnen 14 Tagen nach Antragstellung, wirkt der erstangegangene Träger auf eine ergänzende Antrag­stellung hin (§ 25 Abs. 1 GE RP). Diese Ergänzung wird mit dem bereits gestellten Antrag in ein einheitliches Verwaltungsverfahren mit einheitlichen Fristen zusammengeführt. Der für den ursprünglichen Antrag leistende Reha-Träger steuert das gesamte Verfahren. Wird der weitere Bedarf erst nach Ablauf von 14 Tagen nach Antragstellung erkannt (§ 25 Abs. 2 GE RP), wird auf eine erneute (weitere) Antragstellung hingewirkt. Der weitere Antrag löst ein eigenständiges Verwaltungsverfahren aus, mit eigen­ständigen Fristen und einem separat bestimmten leistenden Reha-Träger. Um dem Rechtsgedanken der §§ 19 ff SGB IX gerecht zu werden, werden diese beiden Verfahren allerdings – mit Zustimmung des Leistungsberechtigten – über eine Teilhabeplanung inhaltlich verbunden.

4. Bedarfsermittlung und -feststellung

Die gesetzlichen Vorschriften zur Bedarfsfeststellung (insbesondere §§ 14, 15 und 17 SGB IX) formulieren Grundanforderungen an die „umfassende“ Bedarfsfeststellung, für die nach § 14 Abs. 2 S. 1 SGB IX der leistende Reha-Träger verantwortlich ist. „Umfassend“ bedeutet nach ständiger Rechtsprechung, dass die Bedarfsfeststellung grundsätzlich unabhängig von der jeweiligen originären Zuständigkeit des leistenden Reha-Trägers zu erfolgen hat[5]. Nach § 14 Abs. 2 S. 1 SGB IX hat die Bedarfsfeststellung „anhand der Instrumente der Bedarfsermittlung nach § 13 SGB IX“ zu erfolgen. § 15 SGB IX regelt differenziert, unter welchen Voraussetzungen und wie bei der Bedarfs­feststellung andere Reha-Träger einzubeziehen sind. § 15 Abs. 1 SGB IX sieht für den Fall, dass Leistungen in Betracht kommen, für die der leistende Reha-Träger nach § 6 SGB IX nicht zuständig sein kann, eine Aufspaltung („Splitting“) des Antrags vor. Der „gesplittete“ Antragsteil wird an einen anderen Reha-Träger weitergeleitet und dieser entscheidet auch darüber. § 15 Abs. 2 SGB IX regelt andere Formen der Beteiligung weiterer Reha-Träger. Zu den teils gänzlich neuartigen (Splitting) Vorschriften des § 15 SGB IX enthält die GE Reha-Prozess u. a. folgende Abstimmungen:

Prüfungsmaßstab hinsichtlich „fremder“ Leistungsgesetze

§ 15 SGB IX soll insgesamt sicherstellen, dass eine Bedarfsermittlung und -feststellung über „fremde“ Leistungen grundsätzlich die Ausnahme bleibt. Zugleich muss aber der Blick zumindest insoweit über das „eigene“ Leistungsgesetz gehoben werden, dass überhaupt die Notwendigkeit der Beteiligung anderer Reha-Träger erkannt werden kann. Als Leitlinie hierfür haben die Reha-Träger vereinbart: der leistende Reha-Träger hat neben dem Blick auf das „eigene“ Leistungsgesetz die Voraussetzungen „fremder“ Leistungsgesetze summarisch zu prüfen (§ 27 GE RP).

Splitting (§ 15 Abs. 1 SGB IX)

Das Splitting steht in einem Spannungsverhältnis zur grundlegenden Ausrichtung der §§ 14 ff. SGB IX, Leistungen „wie aus einer Hand“ sicherzustellen. Die GE Reha-Prozess greift das Splitting in den §§ 29 und 30 auf. Hier sind zunächst grundlegende Klarstellungen verankert: Der „splittende“ leistende Reha-Träger bleibt weiterhin leistender Reha-Träger mit den entsprechenden Verantwortlichkeiten. D. h. er ist und bleibt für die Koordinierung des Verfahrens und nach § 18 SGB IX gegenüber dem Antragsteller verantwortlich (§ 30 Abs. 1 S. 2 GE RP). Der „Splitting-Adressat“ ermittelt den Reha-Bedarf und entscheidet nach seinem Leistungsgesetz in eigener Zuständig­keit (§ 30 Abs. 2 S. 1 GE RP). Allerdings ist eine Teilhabeplanung durchzuführen, vgl. Abschnitt 5.

Weiterhin wird eine (Regel-)Frist für ein Splitting vorgesehen, um eine insgesamt fristgerechte Entscheidung (§ 15 Abs. 4, § 18 SGB IX). In konkretisierender Auslegung von „unverzüglich“ (§ 121 Abs. 1 S. 1 BGB) soll das Splitting in der Regel innerhalb von zwei Wochen erfolgen und eine etwaige Verspätung begründet werden. Fristüber­schreitungen können sich im Kontext etwaiger Kostenerstattungen auswirken (§ 29 Abs. 2 S. 4 GE RP).

Für gesetzlich nicht geregelte „Grenz“-Fälle haben die Reha-Träger unter Rückgriff auf die Ratio des § 15 Abs. 1 SGB IX folgendes vereinbart: Der Splitting-Adressat soll den gesplitteten Antrag weiterleiten können, wenn er nach § 6 SGB IX nicht zuständig sein kann (§ 30 Abs. 2 S. 2 GE RP). Ein leistender Reha-Träger soll zudem auch dann „splitten“ können, wenn der Antrag nur Leistungen enthält, für die er nach § 6 SGB IX nicht zuständig sein kann (erweitertes Splitting). An seiner Verantwortlichkeit gegenüber dem Antragsteller nach § 18 SGB IX ändert sich allerdings nichts (§ 29 Abs. 5 GE RP). Diese Festlegungen werden mitunter kritisch gewürdigt, da sie eine Abkehr von den Prinzipien der §§ 14ff. SGB IX bedeuteten[6]. Unter anderem Blickwinkel sind sie eine konsequente Fortsetzung der vom Gesetzgeber bewusst getroffenen Entscheidung, mit dem Splitting auch Ausnahmen von der Grundausrichtung der §§ 14 ff. SGB IX vorzusehen.

Beteiligung nach § 15 Abs. 2 SGB IX

Hierzu ist in der GE Reha-Prozess z. B. vorgesehen: der leistende Reha-Träger weist von ihm beteiligte Träger auf das Eingangsdatum des Antrags und auf die Fristen nach § 14 und § 15 Abs. 4 hin (§ 31 Abs. 2 GE RP). Die beteiligten Träger ihrerseits übermitteln ihre Bedarfsfeststellung spätestens am Tag nach Ablauf der in § 15 Abs. 2 SGB IX genannten Frist (§ 31 Abs. 4 GE RP).

Grundsätze für Instrumente der Bedarfsermittlung

§ 13 SGB IX formuliert erstmals gesetzliche Mindestanforderungen an die von den Reha-Trägern bei der Bedarfsermittlung einzusetzenden Instrumente. § 26 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX enthält den Auftrag an die Reha-Träger, Grundsätze für solche Instrumente zu erarbeiten[7].

Diesem Auftrag sind die Reha-Träger mit den §§ 35–46 GE RP nachgekommen und haben dabei z.B. auch Irritationen geglättet, die durch Unklarheiten in Gesetzeswortlaut und -begründung hinsichtlich des ICF-Bezugs entstanden waren. So bedeutet nach § 36 Abs. 3 GE RP der Begriff „funktionsbezogen“, dass das bio-psycho-soziale Modell (bpsM) der WHO zu nutzen ist und die Instrumente an der ICF zu orientieren sind. Das heißt, dass jedenfalls dem Grunde nach Informationen zu allen Komponenten des bio-psycho-sozialen Modells und deren Wechselwirkungen erhoben werden. Betont wird auch die Dialogorientierung der Bedarfsermittlung und insgesamt die Beteiligung des Leistungsberechtigten (§§ 37, 45 GE RP). Die Anforderungen aus § 13 Abs. 2 SGB IX werden näher konkretisiert (§§ 39–43 GE RP). Das Spannungsverhältnis zwischen ausdrücklichem Leistungsgesetzbezug der Instrumente (§ 13 Abs. 1 S. 1 SGB IX) und dem Konzept gemeinsamer Grundsätze wird in § 36 Abs. 4 GE RP aufgelöst. In den §§ 35–46 GE RP sind in der Gesamtschau schließlich auch sämtliche Kriterien verankert, die in § 119 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX für die Bedarfsfeststellung der Eingliederungshilfe verbindlich festgeschrieben sind. Auch insoweit ist es also gelungen, im Vereinbarungs­wege Lücken oder Unklarheiten des Gesetzes zu schließen.

5. Teilhabeplanung

Die in §§ 19-23 SGB IX erstmals gesetzlich geregelte Teilhabeplanung sieht vor allem für Fälle der Trägermehrheit oder Leistungsgruppenmehrheit ein abgestimmtes Vorgehen aller beteiligten Reha-Träger in Abstimmung mit dem Leistungsberechtigten sowie ggf. unter Einbeziehung weiterer Stellen vor. Ziel ist nahtloses Ineinandergreifen von Leistungen zur zügigen, wirksamen, wirtschaftlichen und dauerhaften Sicherung der Teilhabe. Die neuen gesetzlichen Vorschriften weisen Ähnlichkeiten auf zu den einschlägigen Regelungen aus der ersten Fassung der GE Reha-Prozess[8].

Anlässe, Voraussetzungen einer Teilhabeplanung

Der Wortlaut des § 19 Abs. 1 S. 1 SGB IX könnte so verstanden werden, dass die Einleitung einer Teilhabeplanung von der positiven Feststellung abhängt, dass Leistungsgruppen- oder Trägermehrheit „erforderlich“ ist. Nach § 51 Abs. 1 GE RP genügt es jedoch, wenn „Anlass zur Annahme [besteht], dass mehrere gleichzeitig durchzuführende oder aufeinander folgende Leistungen zur Teilhabe … oder mehrerer Rehabilitationsträger… erforderlich…“ sind. Eine Teilhabeplanung wird zudem regelmäßig bei Stellung weiterer Anträge während des Verfahrens durchgeführt (s. oben Abschnitt 3.), oder wenn beteiligte Reha-Träger oder Jobcenter es vorschlagen (§ 51 Abs. 3 GE RP).

Umsetzung und Anpassung des Teilhabeplans

§ 19 Abs. 2 und Abs. 3 SGB IX enthalten Detailvorschriften zu den Inhalten des Teilhabe­plans und zu seiner Erarbeitung und Anpassung. Auch hier stellen sich für die Praxis jedoch Fragen, z. B. Wie sieht ein Teilhabeplan aus? Wie verhält sich das Einsichtsrecht des Leistungsberechtigten (§ 19 Abs. 3 S. 3 SGB IX) zur Selbstbestimmung? Wann ist der Teilhabeplan anzupassen? Was bedeutet es konkret, dass der leistende Reha-Träger „durchgehend“ das Verfahren „sichert“ (§ 19 Abs. 3 S. 2 SGB IX)?

Die Reha-Träger haben insoweit ein Musterformular für den Teilhabeplan abgestimmt (Anlage 6 der GE RP). § 63 GE RP enthält zudem konkrete Beispiele für mögliche Anlässe der Anpassung, z.B. veränderte oder neue Teilhabeziele. Zudem sind Hinweise zum möglichen Verfahren bei Anpassung verankert (§ 64 GE RP). Der Teilhabeplan wird dem Leistungsberechtigten regelhaft zur Verfügung gestellt (§ 61 Abs. 1 GE RP).

Teilhabeplankonferenz

In der GE Reha-Prozess werden die Vorschriften der §§ 22 und 23 SGB IX z. B. dahingehend konkretisiert, dass die gesetzliche „Kann“-Regelung ergänzt wird durch die Beschreibung von Konstellationen, in denen eine Teilhabeplankonferenz durchgeführt werden soll (z. B. Vielzahl von Leistungen, lange Laufzeit, § 58 Abs. 3 S.3 GE RP). Eine Teilhabeplankonferenz soll auch von Leistungserbringern und Integrationsämtern vorgeschlagen werden können (§ 58 Abs. 4 GE RP). Klargestellt wird zudem die Kosten­freiheit für den Leistungsberechtigten (§ 60 Abs. 1 S. 4 GE RP).

3. Leistungsentscheidung

Fristen und Entscheidungszuständigkeiten

Zur Orientierung in der Praxis führt die GE Reha-Prozess die in den § 14 ff. SGB IX geregelten Entscheidungszuständigkeiten und -fristen übersichtlich zusammen und ergänzt sie um Klarstellungen, z. B. zum Splitting (§§ 67, 68 GE RP).

„Störungen“ – (Genehmigungsfiktion und) Kostenerstattung

Zu § 18 SGB IX, der insbesondere Voraussetzungen und Kostenerstattungen bei Selbstbeschaffung von Leistungen regelt, haben die Reha-Träger zunächst keine Konkretisierungen vereinbart. Hintergrund ist u. a., dass das Instrument der „Genehmigungsfiktion“ (§ 18 Abs. 3 SGB IX) im Bereich der Rehabilitation 2018 gänzlich neu eingeführt worden ist.

§ 16 SGB IX regelt die Kostenerstattung zwischen Reha-Trägern. Bei erster Betrachtung der Vorschrift zeigen sich Friktionen bzw. Unklarheiten mit Blick auf die zu § 14 SGB IX a. F. entwickelte ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts[9] für Kosten­erstattungen. Insbesondere war unklar, wie genau die seinerzeit als bedeutsamen eingestuften, Schutzbedürfnisse des erstangegangenen Trägers – zur Vermeidung von Weiterleitungen auf bloßen Verdacht – in § 16 SGB IX widergespiegelt sind. Die Reha-Träger haben deshalb in den §§ 72-78 GE RP u.a. Vereinbarungen i. S. v § 16 Abs. 4 S.1 a. E. SGB IX getroffen, nachfolgend Beispiele für die getroffenen Regelungen: Die bisherige BSG-Rechtsprechung wird i. W. nachgezeichnet. Der erstangegangene Träger hat demnach einen Erstattungsanspruch, wenn die eigene Zuständigkeit nach Prüfung irrtümlich angenommen wurde (§ 72 GE RP). Auch für Fälle, in denen die Beteiligung eines (weiteren) zuständigen Trägers nach § 15 SGB IX irrtümlich unterblieben ist, wird ein Erstattungsanspruch verankert (§ 74 Abs. 3 GE RP). Zudem wird § 108 SGB X (Verzinsung des Erstattungsanspruchs) für anwendbar erklärt (§ 76 GE RP). § 75 GE RP greift die Erstattung in Fällen des § 18 SGB IX auf.

4. Leistungsdurchführung und Aktivitäten zum bzw. nach Ende einer Leistung

Für die beiden letzten Phasen des Reha-Prozesses, die Leistungsdurchführung und Aktivitäten zum bzw. nach Ende einer Leistung finden sich allgemeine Vorschriften z. B. in den § 17 SGB I, § 4 Abs. 2 S. 2, §§ 8, 9, 10, 12 Abs. 1, § 19, § 25 Abs. 1 Nr. 6, § 28 Abs. 2 SGB IX.

In §§ 79–86 GE RP haben die Reha-Träger konkrete Prozessschritte vereinbart, um die sich aus diesen Vorschriften ergebenden Anforderungen in der Praxis umsetzen zu können. Die GE Reha-Prozess beschreibt u. a. das Vorgehen bei Erkennung von weiterem Rehabilitationsbedarf (vgl. §§ 80, 81, 12 Abs. 7 und 25 GE RP bzw. § 86 GE RP). Konkret wird die Zusammenarbeit mit weiteren Akteuren aufgegriffen (§ 82 bzw. § 85 GE RP). Beschrieben werden z. B. Vorgehensweisen bei der Verknüpfung mit möglichen weiteren Leistungen (§ 83 GE RP bzw. § 86 GE RP). Bei vielen Schritten ist die Zustimmung des Leistungsberechtigten wesentliche Voraussetzung. Die Fest­legungen der GE Reha-Prozess zu den letzten beiden Prozessphasen unterscheiden sich u. a. hinsichtlich der grundsätzlichen Prozess- und Koordinierungsverantwortung. Diese Verantwortung verbleibt während einer Leistung grundsätzlich beim leistenden Reha-Träger, während sie sich zum bzw. nach Ende einer Leistung zunehmend auf den für eine nachfolgende Leistung zuständigen Reha-Träger verlagert.

VI. Erweiterter Kontext der Gemeinsamen Empfehlung Reha-Prozess: weitere Umsetzungshilfen

Die GE Reha-Prozess schafft mit ihren Konkretisierungen und Verständigungen eine wesentliche Grundlage für die Umsetzung der gesetzlichen Vorschriften zur träger- und akteursübergreifenden Koordination und Kooperation. Hinweise aus der Praxis haben jedoch gezeigt, dass darüber hinaus Bedarf für weitere Umsetzungshilfen bestand und besteht. Vor diesem Hintergrund wurden z. B. datenschutzrechtliche Fragestellungen, deren Beantwortung für die Umsetzung der Zusammenarbeit nach §§ 14–23 SGB IX unverzichtbar ist, in einer Arbeitshilfe[10] geklärt. Die entsprechende Arbeitsgruppe widmet sich derzeit weiteren zentralen Fragestellungen. Weiterhin wurde ein Musterformularsatz trägerübergreifend abgestimmt, der für ausgewählte Verfahrensschritte jeweils ein Formular bereitstellt, z. B. für das Splitting[11]. Ein online verfügbarer Fristenrechner[12] bietet Hilfestellung bei der Berechnung der verschiedenen in den §§ 14 ff. SGB IX benannten Fristen. Das bundesweite Ansprechstellenverzeichnis[13] ermöglicht es, diese mit dem BTHG in § 12 SGB IX neu eingeführten Stellen der Reha-Träger mit verschiedenen Suchfunktionen aufzufinden. Weitere Unterstützung bieten z. B. eine Instrumenten­datenbank zur Bedarfsermittlung bei Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben[14] oder auch trägerübergreifende Fort- und Weiterbildungsangebote[15] sowie regionale Netz­werkveranstaltungen.

VII. Blick nach vorne – Was ist noch zu tun?

Die Zeitspanne zwischen Verabschiedung des BTHG und dem Inkrafttreten der neuen Vorschriften zur trägerübergreifenden Zusammenarbeit war für solche grundlegenden Veränderungen vergleichsweise kurz. Deshalb konnten noch nicht alle damit zusammen­hängenden Fragestellungen zeitnah in einer Gemeinsamen Empfehlung trägerüber­greifend geklärt werden. Die Fachgruppe[16], die die GE Reha-Prozess erarbeitet hat, hat deshalb auch konkrete Themenfelder als „Hausaufgaben“ für eine weitere Befassung benannt (§ 89 Abs. 2 GE RP), u. a.:

  • Selbstbeschaffte Leistungen nach § 18 SGB IX
  • Verhältnis Teilhabeplan / Gesamtplan
  • Leistungsabgrenzung Eingliederungshilfe / andere Reha-Träger

Über diese „Hausaufgaben“ hinaus zeigt der Erfahrungsbericht nach § 26 Abs. 8 SGB IX 2018/2019 zur GE Reha-Prozess neben positiver Resonanz auch Verbesserungs­potenziale auf, u. a. dass die Antragsdefinition in § 19 Abs. 2 S. 2 GE RP noch nicht alle hierzu bestehenden Fragen klärt und die Darstellung der Regelungen etwa durch Beispiele eingängiger gestaltet werden könnte[17]. Auch gilt es, die fachliche Diskussion zu den Vereinbarungen in der der GE Reha-Prozess im Blick zu behalten (s. z. B. Abschnitt V. 4.). Zudem wird zu prüfen sein, ob sich möglicherweise Konkretisierungs- bzw. Klärungsbedarfe aus dem nach § 41 SGB IX jährlich zu erstellenden Teilhabe­verfahrensbericht ergeben.[18]

VIII. Fazit

Die verbindlichen Vorschriften zur trägerübergreifenden Zusammenarbeit in Kapitel 2–4 Teil 1 SGB IX sind komplex und bieten erhebliche Auslegungsspielräume. Eine Umsetzung in der Verwaltungspraxis ist teilweise erst durch trägerübergreifend abgestimmte Konkretisierungen und Klärungen möglich. Die GE Reha-Prozess bietet das notwendige gemeinsame Grundverständnis des Reha-Prozesses und Lösungen für viele dringende Auslegungsfragen mit Blick auf die Zielsetzungen des SGB IX. Insoweit kann von einem „Patentrezept“ gesprochen werden. Wie aufgezeigt, bleiben allerdings weitere Fragen zu klären, auch deshalb ist die GE Reha-Prozess zugleich ein „lernendes System“.

Beitrag von Marcus Schian, Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V.

Fußnoten

[1] Vgl. Schian: Gemeinsame Empfehlung Reha-Prozess – ein „Patentrezept“ für die Gestaltung trägerübergreifender Zusammenarbeit in der Rehabilitation – Teil I: Die Grundlagen des SGB IX; Beitrag A4-2021 unter reha-recht.de; 26.01.2021.
Der Beitrag basiert auf dem Vortrag „Patentrezept – Gemeinsame Empfehlung ‚Reha-Prozess‘“ im Rahmen des 52. Kontaktseminars des Deutschen Sozialrechtsverbands zum Thema „Medizinische Rehabilitation – ein Erfolgsmodell?“ am 17.–18. Februar 2020 in Kassel. Die vom Veranstalter gewählte Bezeichnung „Patentrezept“ wurde aufgegriffen. Der Beitrag ist bereits in Sozialrecht aktuell, Sonderheft 2020, S. 192–198 erschienen. Wir danken der Redaktion von Sozialrecht aktuell, dem Deutschen Sozialrechtsverband e. V. und Herrn Schian für die Möglichkeit der Zweitveröffentlichung.

[2] Aus Gründen der Leseökonomie werden Regelungen der GE hier mit der Kurzbezeichnung „GE RP“ zitiert.

[3] Vgl. z. B. BSG, Urt. v. 30.10.2014 – B 5 R 8/14 R – und v. 21.08.2008 – B 13 R 33/07 R –, zitiert nach juris.

[4]  Jüngst hat das BSG das Meistbegünstigungsprinzip dahingehend angewendet, dass ein möglicher Antrag auf Leistungen zur Teilhabe bei einem Jobcenter im Ergebnis der Bundesagentur für Arbeit zugerechnet und den Regelungen des § 14 SGB IX unterworfen wurde, vgl. Urt. v.4.4.2019 – B 8 SO 12/17 R –, zitiert nach juris.

[5] BSG, Urt. v. 10.07.2014 – B 10 SF 1/14 R – und v. 24.01.2013 – B 3 KR 5/12 R –, zitiert nach juris; vgl. auch die Rechtsprechungshinweise in Fn. 615.

[6] Schaumberg, Leistungskoordination gemäß § 15 SGB IX bei Trägermehrheit, Beitrag A12-2020 unter reha-recht.de; so auch einige Diskutierende im Rahmen des 52. Kontaktseminars des Deutschen Sozialrechtsverbandes (vgl. Fn. 1).

[7] Zur Verknüpfung mit der Begutachtung nach § 17 SGB IX vgl. den Beitrag Schian: Gemeinsame Empfehlung Begutachtung; Beitrag C1-2020 unter reha-recht.de; 23.12.2020

[8] Dazu Luik, Der Teilhabeplan – die Roadmap zum Reha-Erfolg. Plädoyer für eine gesetzliche Klarstellung, Sozialrecht Aktuell Sonderheft 2014, 11–17.

[9]  Vgl. z. B. BSG, Urt. v. 12.12.2013 – B 4 AS 14/13 R –, zitiert nach juris.

[10] www.bar-frankfurt.de/themen/reha-prozess/datenschutz.html.

[11] www.bar-frankfurt.de/themen/reha-prozess/musterformulare.html.

[12] www.reha-fristenrechner.de.

[13] www.ansprechstellen.de.

[14] www.bar-frankfurt.de/themen/reha-prozess/bedarfsermittlungskonzept-lta/instrumentendatenbank.

[15] www.bar-frankfurt.de/service/fort-und-weiterbildung/bar-seminare.html.

[16] Zur Zusammensetzung der Fachgruppen vgl. Anlage 1 der Verfahrensgrundsätze für Gemeinsame Empfehlungen, abrufbar unter www.bar-frankfurt.de/themen/gemeinsame-empfehlungen.html.

[17] www.bar-frankfurt.de/themen/gemeinsame-empfehlungen/jahresberichte.html. Die „Implementierungsstudie“ nach § 13 SGB IX (als Forschungsbericht 540 unter www.bmas.bund.de abrufbar) enthält Empfehlungen zu Themen der GE RP, konnte aber einige Entwicklungen im Untersuchungszeitraum noch nicht berücksichtigen.

[18] www.bar-frankfurt.de/themen/teilhabeverfahrensbericht.html.


Stichwörter:

Gemeinsame Empfehlung „Reha-Prozess“, Koordination, Kooperation der Rehabilitationsträger, Gemeinsame Empfehlungen (GE), Zuständigkeitsklärung, Bedarfsermittlung, Bedarfsfeststellung, Teilhabeplan


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