24.06.2022 A: Sozialrecht Albersmann: Beitrag A5-2022

Erstattung von Fahrkosten im Rahmen Stufenweiser Wiedereingliederung – Anmerkung zu SG Leipzig, Urteil vom 8. September 2021 – S 22 KR 100/21

Die Autorin Linda Albersmann setzt sich im Beitrag kritisch mit einer Entscheidung des SG Leipzig (Urt. v. 08.09.2021 – S 22 KR 100/21) zur Erstattung von Fahrtkosten durch die Krankenkasse im Rahmen Stufenweiser Wiedereingliederung (§ 74 SGB V, § 44 SGB IX) auseinander.

Anders als das SG ordnet sie die Stufenweise Wiedereingliederung als selbständige Leistung der medizinischen Rehabilitation ein. Zudem betont die Autorin, dass das SGB IX auch in Bezug auf Krankenkassen Anwendung findet. Die Existenz von § 74 SGB V als eigene leistungsrechtliche Regelung zur Stufenweisen Wiedereingliederung ändere nichts an der Anwendbarkeit des § 44 SGB IX.

Der Anspruch auf Fahrkostenerstattung gegen die Krankenkasse resultiere daher aus § 60 Abs. 5 SGB V i. V. m. §§ 64 Abs. 1 Nr. 5, 73 SGB IX. Der Grundsatz des § 7 SGB IX stehe der Anwendung der Regelungen des SGB IX aufgrund der ausdrückliche Bezugnahme auf § 73 Abs. 1 und 3 SGB IX in § 60 Abs. 5 SGB V nicht entgegen.

(Zitiervorschlag: Albersmann: Erstattung von Fahrkosten im Rahmen Stufenweiser Wiedereingliederung – Anmerkung zu SG Leipzig, Urteil vom 8. September 2021 – S 22 KR 100/21; Beitrag A5-2022 unter www.reha-recht.de; 24.06.2022)

I. Thesen der Autorin

  1. Die Stufenweise Wiedereingliederung ist eine Leistung der medizinischen Rehabilitation. Ihren medizinischen Charakter erhält sie insbesondere durch die notwendige Einleitung und Begleitung durch den behandelnden Vertragsarzt.
  2. Das SGB IX gilt auch für Krankenkassen. Dass ihr Leistungsgesetz mit § 74 SGB V selbst eine Regelung zur Stufenweisen Wiedereingliederung hat, ändert nichts an der Anwendbarkeit des § 44 SGB IX. Dieser verpflichtet alle Träger der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 6 SGB IX, mithin auch die Krankenkassen.
  3. Der Anspruch auf Fahrkostenerstattung im Rahmen einer Leistung der medizini­schen Rehabilitation gegen die Krankenkasse resultiert aus § 60 Abs. 5 SGB V i. V. m. §§ 64 Abs. 1 Nr. 5, 73 SGB IX. Die ausdrückliche Bezugnahme auf § 73 Abs. 1 und 3 SGB IX in § 60 Abs. 5 SGB V sorgt trotz des Grundsatzes des § 7 SGB IX für deren Anwendung.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Fahrkosten zur Arbeitsstelle bei Stufenweiser Wiedereingliederung nach § 74 SGB V sind nicht durch die gesetzliche Krankenversicherung zu tragen.
  2. Die Stufenweise Wiedereingliederung setzt – im Gegensatz zur Belastungs­erprobung – bereits die ärztliche Feststellung voraus, dass der Versicherte un­geachtet fortbestehender Arbeitsunfähigkeit bereits eingeschränkt belastbar ist. Es handelt sich daher um eine bloße Maßnahme – nicht Leistung – der medizinischen Rehabilitation.

III. Der Sachverhalt

Der Kläger ist Pflichtmitglied der Beklagten. Er ist als Sachbearbeiter beschäftigt und hat einen einfachen Arbeitsweg von 42 Kilometern. Mit Zustimmung des Arbeitgebers erfolgte nach längerer krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit vom 12. August bis 22. September 2020 eine Stufenweise Wiedereingliederung (StW) unter laufender Krankengeldgewährung durch die Beklagte. In dieser Zeit legte der Kläger mangels zumutbarer öffentlicher Verkehrsmittel mit seinem Pkw insgesamt 2520 Kilometer zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zurück. Den Antrag auf Erstattung der Fahrkosten wies die Beklagte zurück. Nach erfolglosem Widerspruch erhob der Kläger Klage vor dem SG Leipzig und beantragte, den ablehnenden Bescheid in Gestalt des Wider­spruchsbescheids aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Fahrkosten in Höhe von 882 € zu zahlen.

IV. Die Entscheidung

Das SG Leipzig hielt die Klage für zulässig, aber unbegründet.

1. Kein Anspruch auf Fahrkostenerstattung gemäß § 60 SGB V

Das Gericht beginnt mit der Prüfung eines Anspruchs auf Fahrkostenerstattung aus § 60 SGB V. Ein Anspruch nach dessen Absätzen 2 und 3 wird verneint; mangels stationär erbrachter Leistung oder Krankenbehandlung fehlt es an deren Tatbestand­voraussetzungen. Sodann prüft das Gericht einen Anspruch auf Fahrkostenerstattung gemäß § 60 Abs. 5 SGB V, der bei Fahr- und anderen Reisekosten im Zusammenhang mit Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 73 Abs. 1 bis 3 SGB IX ein­schlägig ist. Mit der Begründung, eine StW sei keine Leistung der medizinischen Rehabilitation, wird auch dieser Anspruch versagt. Die Leistungen der Krankenkasse zur medizinischen Rehabilitation seien abschließend in den §§ 40 bis 43 SGB V aufgeführt. Anders als die Belastungserprobung (vgl. § 42 SGB V) sei die StW nur außerhalb des Leistungskapitels in § 74 SGB V geregelt und wiederum mit einer im Leistungskapitel ausgewiesenen Belastungserprobung nach § 42 SGB V nicht deckungsgleich. Dazu wird weiter ausgeführt, dass die Belastungserprobung in einen ärztlichen Behandlungs­plan eingebettet ist und auf Verordnung des Vertragsarztes erfolgt, um festzustellen, ob der Versicherte bereits den Anforderungen einer – ggf. seiner bisherigen – Erwerbs­tätigkeit ohne gesundheitliche Gefährdung gewachsen und damit belastbar ist oder weitere Therapieschritte erforderlich sind. Damit sei sie Teil der ärztlichen Diagnostik und Krankenbehandlung. Dagegen setze die StW als bloße „Maßnahme“ – nicht Leistung – der medizinischen Rehabilitation bereits die ärztliche Feststellung voraus, dass der Versicherte ungeachtet fortbestehender Arbeitsunfähigkeit bereits ein­geschränkt belastbar ist. Damit bestimme sich die Maßnahme allein nach dem Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Versichertem in dem ärztlich empfohlenen Rahmen. Die Krankenkasse gewähre dabei – neben Krankengeld – gerade keine eigene Leistung.

Ergänzend zu diesem systematischen Argument führt das Gericht an, dass bei ab­weichender Betrachtung unvermeidlich ein Wertungswiderspruch entstehe zwischen einerseits überaus restriktiv gewährten Fahrkosten nach § 60 Abs. 1 SGB V für Fahrten zur Krankenbehandlung und andererseits weitgehender Kostenerstattung für Fahrten bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 60 Abs. 5 SGB V. Es müsse daher klar zwischen „Leistungen“ und „Maßnahmen“ der medizinischen Rehabilitation unterschieden werden.

2. Kein Anspruch auf Fahrkostenerstattung gemäß § 73 SGB IX

Schließlich scheide in Ermangelung einer Leistung der medizinischen Rehabilitation auch § 73 SGB IX als Anspruchsgrundlage aus.

V. Würdigung/Kritik

Die Stufenweise Wiedereingliederung nach § 74 SGB V, § 44 SGB IX gibt arbeits­unfähigen Arbeitnehmern die Möglichkeit, nach langer Abwesenheit stufenweise angepasst an ihren Gesundheitszustand in den Arbeitsprozess wiedereingegliedert zu werden, vgl. § 2 Abs. 2 S. 1 AU-RL[1].[2]

Die Arbeitsunfähigkeit kann durch eine StW schneller und dauerhafter überwunden werden[3]; eine effektive Reintegration in das Arbeitsleben ist möglich.[4] Damit ist die StW ein wichtiger Teil der Rehabilitation[5], die wirksamer ist als andere Maßnahmen.[6]

1. Die StW als Leistung der medizinischen Rehabilitation

Der maßgeblichen Aussage des SG Leipzig, die StW sei keine Leistung der medizinischen Rehabilitation[7], kann nicht zugestimmt werden.

Ausgangspunkt für die Feststellung des Gerichts ist der mögliche Erstattungsanspruch eines Rehabilitanden für Fahrkosten zu seiner Arbeitsstätte im Rahmen einer StW. Dabei prüft die Kammer als Anspruchsgrundlage § 60 Abs. 5 SGB V. Dafür muss eine Leistung der medizinischen Rehabilitation vorliegen. Die Kammer lehnt das Vorliegen einer Leistung der medizinischen Rehabilitation und damit einen Anspruch aus § 60 Abs. 5 SGB V ab.

a. Der medizinische Aspekt

Zur Begründung führt die Kammer die Verschiedenheit von Belastungserprobung (§ 42 SGB V) und StW an. Als maßgebliches Element für die Belastungserprobung als Leistung der medizinischen Rehabilitation wird der ärztliche Behandlungsplan angeführt. Dieser zeige, dass die Belastungserprobung eine ärztliche Leistung – mithin medizinisch[8] – sei, was bei der StW hingegen nicht gegeben sei.

Dabei verkennt das Gericht den maßgeblichen medizinischen Aspekt im Rahmen der StW. Ohne vorangegangene ärztliche Untersuchung darf keine StW erfolgen, vgl. § 7 AU-RL. Maßgeblich für den Ablauf der Wiedereingliederung ist der vom Vertragsarzt aufgestellte Stufenplan. Dieser muss hinreichend auf den Einzelfall ausgerichtet sein und Auskunft geben über die Art und Weise der empfohlenen Beschäftigung, Beschäftigungsbeschränkungen, Umfang der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit sowie die Dauer der Maßnahme. Überdies muss bereits eine Prognose über die voraussichtliche Wiederaufnahme der Tätigkeit enthalten sein.[9] Wie entscheidend der Stufenplan für die StW ist, zeigt sich in der Entscheidung des BAG vom 13. Juni 2006 – 9 AZR 229/05. Ohne diese konkrete ärztliche Bescheinigung besteht kein Anspruch gegen den Arbeitgeber auf Mitwirkung zur StW.[10]

Darüber hinaus erfolgen während der Phase der Wiedereingliederung in regelmäßigen Abständen Untersuchungen durch den behandelnden Vertragsarzt.[11] Diese Unter­suchungen verhindern insbesondere eine Überforderung des Rehabilitanden, die zum Teil schwerste Folgen nach sich ziehen könnte.[12]

Wie entscheidend eine regelmäßige ärztliche Untersuchung ist, zeigt etwa der Sach­verhalt des Beschlusses des OLG Koblenz vom 24. September 2012 – 5 U 931/12. In diesem Fall wurde die Arbeitsleistung nicht adäquat auf den Gesundheitszustand des Rehabilitanden angepasst, sodass es während der Phase der Wiedereingliederung zu einem Zusammenbruch wegen einer Herzinsuffizienz kam, die mit einem Nieren­versagen und einer Schockleber einherging. In der Konsequenz ist der Versicherte dauerhaft in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigt.

Der Vertragsarzt kann für solche Folgen haftbar gemacht werden, kommt er seinen Untersuchungsverpflichtungen nicht nach.[13]

Die StW hat folglich sehr wohl einen medizinischen Aspekt. Sie findet – anders als die Darstellungen der Kammer es vermuten lassen – nicht allein zwischen Arbeitgeber und Rehabilitanden statt.[14] Dem behandelnden Arzt kommt eine zentrale Rolle zu.

Der Wiedereingliederungsplan ist kontinuierlich medizinisch zu überprüfen und den individuellen Gegebenheiten entsprechend hinsichtlich Arbeitstempo, Arbeitsumfang und Arbeitsinhalt anzupassen. Es handelt sich um einen andauernden Prozess mit anspruchsvollem Programm.[15] Insbesondere muss überwacht werden, ob sich die Situation des Rehabilitanden abweichend der Prognose entwickelt. Entsprechende Änderungen sind unverzüglich vorzunehmen oder die Wiedereingliederung ab­zubrechen. Die StW darf in keinem Fall nachteilige gesundheitliche Folgen für den Rehabilitanden haben.[16]

Wenngleich sich Belastungserprobung und StW in ihrem Wesen unterscheiden – bei der Belastungserprobung wird die Belastungs- und Leistungsfähigkeit des Versicherten grundsätzlich festgestellt, während der Versicherte in der StW bereits in der Lage ist, einen Teil seiner Arbeitsleistung zu erbringen[17] –, hat dies nicht zur Konsequenz, dass nicht beide eine Leistung der medizinischen Rehabilitation sein können.

b. StW ist nicht gleich Rehasport

Zur weiteren Begründung beruft sich das SG Leipzig auf den Beschluss des Thüringer Landessozialgerichts vom 01.08.2013 – L 6 KR 299/13 NZB. Dieses geht ebenso wie das SG davon aus, die StW sei keine Leistung der medizinischen Rehabilitation; wie beim Rehabilitationssport handele es sich lediglich um eine ergänzende Leistung. Es ergebe sich daher ein Wertungswiderspruch, würden Fahrten zur Wiedereingliederung erstattet, Fahrten zum Rehabilitationssport dagegen nicht.[18]

Dieser Vergleich wird dem Stellenwert der StW nicht gerecht.

Ziel des Rehabilitationssports ist es, Koordination und Flexibilität zu verbessern sowie Kraft, Ausdauer und das Selbstbewusstsein zu stärken. Damit fördert er die Krankheits­bewältigung.[19]

Das Konzept hinter der StW dagegen ist – wie bei anderen medizinischen Rehabilita­tionsmaßnahmen auch – auf eine vollständige Wiederherstellung der Gesundheit der Versicherten ausgerichtet.[20] Der Stellenwert für den Versicherten ist ein anderer als beim Rehabilitationssport.

Darüber hinaus hat der Gesetzgeber erst kürzlich mit Art. 1 Nr. 35 des TSVG[21] den § 74 SGB V ergänzt und in der Folge zum einen den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) dazu veranlasst, innerhalb der AU-RL inhaltlich neues Recht zu setzen mit dem Ziel, eine zuverlässige Form der Bescheinigung zu erhalten. Zum anderen wurden alle Vertragsärzte verpflichtet, spätestens ab einer Dauer von sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit, die Möglichkeit einer StW zu prüfen.[22] Damit bezweckte der Gesetzgeber die Stärkung des Instruments der Stufenweisen Wiedereingliederung, das sich in der Praxis bewährt hat[23] und unterstreicht den Stellenwert der StW.

Die StW ist nicht mit dem Rehabilitationssport gleichzusetzen, bei Fahrkostenerstattung käme es nicht zu einem Wertungswiderspruch.

c. Keine systematischen Bedenken

Es bestehen zudem keine systematischen Bedenken, die StW als Leistung der medizini­schen Rehabilitation anzusehen.

Will man wie das SG die Gesetzessystematik zur Begründung heranziehen, darf das hier maßgebliche SGB IX nicht außer Acht bleiben. Im Gegensatz zu § 74 SGB V trifft § 44 SGB IX Aussagen über den Leistungsinhalt der StW. Allein die Tatsache, dass die StW mit § 74 SGB V eine eigene Norm im Krankenversicherungsrecht hat, führt nicht zu einer Unanwendbarkeit des § 44 SGB IX und der in Zusammenhang mit dieser Norm stehenden Vorschriften. Der Unterschied zwischen § 74 SGB V und § 44 SGB IX be­steht allein darin, dass erstere nur für die Leistungen der GKV gilt, demgegenüber letztere alle gemäß § 6 SGB IX für die medizinische Rehabilitation zuständige Träger verpflichtet.[24] Die Krankenkassen sind gemäß §§ 6 Abs. 1 Nr. 1, 5 Nr. 1 SGB IX Träger der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, sodass § 44 SGB IX ihnen gegenüber Anwendung findet.

Gemäß § 42 Abs. 2 SGB IX sind Leistungen zur medizinischen Rehabilitation insbeson­dere die dort aufgeführten. Es handelt sich folglich um keine abschließende Aufzählung. Zudem umfasst der Titel des neunten Kapitels (§§ 42-48 SGB IX) „Leistungen zur medi­zinischen Rehabilitation“ auch diejenigen Leistungen, die außerhalb des § 42 SGB IX geregelt sind. Die StW gemäß § 44 SGB IX fällt unter dieses Kapitel. Darüber hinaus konkretisieren die §§ 46, 47 SGB IX ausdrücklich in § 42 SGB IX genannte medizinische Rehabilitationsleistungen. Der systematische Zusammenhang des § 44 SGB IX mit diesen beiden Normen weist ebenfalls darauf hin, dass auch darin eine Leistung der medizinischen Rehabilitation geregelt ist.[25]

Dass sich § 74 SGB V nicht im Leistungsrecht des 3. Kapitels des SGB V, sondern im die Beziehungen der Leistungserbringer zu den Krankenkassen regelnden 4. Kapitel befindet, steht dem nicht entgegen.

Diese Regelung enthält insbesondere Vorschriften über mit der StW zusammen­hängenden Pflichten des Vertragsarztes. Aus diesem Grund wurde die Vorschrift im 4. Kapitel, und zudem zeitlich deutlich früher angesiedelt. Es bestand ein Bedürfnis, noch vor Einführung der später für alle medizinischen Rehaträger geltenden grundlegenden Vorschrift des § 44 SGB IX – die Voraussetzungen und Handlungsanweisungen an die Vertragsärzte aufzuführen.[26]

d. Problem der Begrifflichkeiten

Mit einem erneuten Urteil des SG Leipzig vom 9. März 2022[27] – in dem die Kammer an ihrer Rechtsauffassung festhält – wird zur Begründung eine Entscheidung des BSG[28] herangezogen, in der dem 5. BSG-Senat eine ungenaue Gleichsetzung der Begriffe Maßnahme und Leistung unterlaufe. Es wird gewissermaßen unterstellt, dass das Urteil unbewusst von der StW als Leistung der medizinischen Rehabilitation spricht, obwohl diese keine sei.

Zugegebenermaßen ist eine begriffliche Unschärfe problematisch, insbesondere, werden damit Folgewirkungen auf mögliche Ansprüche übersehen. Die Unterstellung, der Senat habe die StW nur unbewusst als Leistung bezeichnet, ist jedoch nicht mehr als eine solche. In der Entscheidung wird sowohl von einer Leistung als auch von einer selbständigen Maßnahme gesprochen. Letzteres sorgt bereits deswegen für Verständ­nisprobleme, da sowohl im SGB V, als auch im SGB IX in diesem Zusammenhang nicht von Maßnahmen gesprochen wird. Das Gesetz kennt hier nur selbständige und ergänzende Leistungen. Dennoch meint der 5. BSG-Senat in beiden Fällen dasselbe: die StW ist eine selbständige Leistung der medizinischen Rehabilitation.

So stellt der Senat – hier in Bezug auf die Rentenversicherung – heraus, dass die StW eine Leistung der medizinischen Rehabilitation ist. Bei der Gewährung von Übergangs­geld stellt die StW die Hauptleistung dar, während das Übergangsgeld die ergänzende Leistung ist.[29]

Den Fokus allein auf die Begrifflichkeiten zu legen, ist hier nicht gewinnbringend. Es handelt sich um Begriffe, die von verschiedenen Stellen unterschiedlich aufgefasst und verwendet werden und bei deren Bedeutung insbesondere die kontextuale Einbettung zu beachten ist. Es muss daher überprüft werden, ob verschiedene Begriffe tatsächlich auch mit Blick auf deren unterschiedliche Bedeutung verwendet wurden. Dass Begriffe je nach Kontext bzw. Sachbereich eine andere Bedeutung haben können, ist Ausdruck der Rechtswissenschaft als wortbasierte Wissenschaft.[30] Das BVerfG spricht von der „Relativität der Rechtsbegriffe“[31]; der Wortlaut ist dabei lediglich der Ausgangspunkt.[32] Aus diesem Grund ist bei der Lektüre der Entscheidungen des BSG vor allem auf den Sinngehalt und nicht auf die Verwendung der Begrifflichkeiten zu achten. Wenngleich eine einheitliche Verwendung der vom Gesetzt vorgegebenen Begrifflichkeiten von selbständigen und ergänzenden Leistungen zum besseren Verständnis wünschenswert wäre.

2. Die Anspruchsgrundlage für die Fahrkostenerstattung

Das SG versagt einen Anspruch gemäß § 60 Abs. 5 SGB V mit Hinweis darauf, dass die StW keine Leistung der medizinischen Rehabilitation sei. Auch scheide ein Anspruch gemäß § 73 Abs. 1 SGB IX aus demselben Grund aus.

Es entsteht der Eindruck, dass die Kammer diese Normen als zwei voneinander unabhängige Anspruchsgrundlagen begreift. Dabei verweist § 60 Abs. 5 SGB V auf § 73 Abs. 1 und 3 SGB IX.

a. Fahrkostenerstattung im SGB IX gemäß §§ 64 Abs. 1 Nr. 5, 73 SGB IX

Gemäß § 64 Abs. 1 Nr. 5 SGB IX werden Leistungen zur medizinischen Rehabilitation durch Reisekosten ergänzt. Solche Reisekosten sind unter anderem die erforderlichen Fahrkosten, vgl. § 73 Abs. 1 S. 1 SGB IX.

Die Stufenweise Wiedereingliederung als selbständige Leistung zur medizinischen Rehabilitation wird durch Fahrkostenerstattung als „ergänzende Leistung“ unterstützt. Neben der Absicherung zum Lebensunterhalt hat der verantwortliche Rehaträger auch Fahrkosten zu gewähren. Die Übernahme der erforderlichen Fahrkosten ist bei dem gegenüber dem Arbeitsentgelt merklich geringerem Krankengeldanspruch auch gerechtfertigt, es ergibt sich kein Wertungswiderspruch.[33]

b. Ausdrückliche Inbezugnahme überwindet Grundsatz des § 7 S. 1 SGB IX

§ 7 S. 1 SGB IX könnte der Anwendbarkeit der §§ 64 Abs. 1 Nr. 5, 73 SGB IX als Normen des ersten Teils des SGB IX entgegenstehen, gibt es im Krankenversicherungs­recht schließlich eigene Regelungen zur medizinischen Rehabilitation. Hierauf weist das vom SG zitierte LSG Thüringen[34] hin; die Regelungen des SGB V zur medizinischen Rehabilitation seien denen des SGB IX vorrangig. Ein Anspruch gemäß §§ 64 Abs. 1 Nr. 5, 73 SGB IX käme dann nicht in Frage.

Die Vorschriften des Teil 1 des SGB IX gelten gemäß § 7 S. 1 SGB IX nur, soweit sich aus den für den jeweiligen Rehaträger geltenden Leistungsgesetzen nichts anderes ergibt. Nach § 7 S. 2 SGB IX richten sich die Voraussetzungen für die Leistung ebenso nach den für den jeweiligen Rehaträger geltenden Leistungsgesetzen.

Gemäß § 60 Abs. 5 S. 1 SGB V werden Reisekosten nach § 73 Abs. 1 und 3 SGB IX übernommen. Das SGB V weicht damit nicht vom SGB IX ab, vielmehr nimmt § 60 Abs. 5 SGB V ausdrücklich Bezug auf das SGB IX. Aus diesem Grund sind § 73 Abs. 1 und 3 SGB IX spezielle Regelungen, die trotz des § 7 SGB IX im Krankenversicherungs­recht Anwendung finden.[35]

Folglich ist die Anspruchsgrundlage für Fahrkostenerstattung im Rahmen der StW gegen die Krankenkasse § 60 Abs. 5 SGB V i. V. m. §§ 64 Abs. 1 Nr. 5, 73 SGB IX. Der Wortlaut in § 60 Abs. 5 SGB V „werden übernommen“ spricht dabei für einen gebundenen Anspruch.[36]

Die nähere Berechnung zur Höhe des Anspruchs ergibt sich aus § 73 Abs. 4 SGB IX. Es sind entweder die tatsächlichen Kosten bei Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder die Wegstreckenentschädigung nach dem Bundesreisekostenrecht zu übernehmen.

Von Linda Albersmann, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Fußnoten:

[1] Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähig­keit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 7 SGB V (Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie) v. 14.11.2013, BAnz 27.01.2014 B4, zuletzt geändert am 19.11.2021, in Kraft getreten am 19.02.2022, BAnz AT 18.01.2022 B3.

[2] BAG, Urteil v. 16.05.2019 – 8 AZR 530/17 –, juris Rn. 36; LPK-SGB IX/Luik, § 44 Rn. 7; vgl. LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil v. 28.05.2020 – L 6 KR 100/15 –, Rn. 62; BAR, Arbeitshilfe Stufenweise Wiedereingliederung, S. 12.

[3] HK-ArbSchR/Nebe, § 618 BGB Rn. 41; BAR, Arbeitshilfe Stufenweise Wiedereingliederung, S. 12; vgl. Kohte, FS Düwell 2021, 493 (505).

[4] Gagel/Nebe, Vorb. §§ 112-129 SGB III Rn. 34; vgl. Kohte, FS Düwell 2021, 493 (504); Kohte, DB 2008, 582 (586); Rose/Ghorai, BB 2011, 949 (950).

[5] HK-ArbschR/Nebe, § 84 SGB IX Rn. 43; Kohte, DB 2008, 582 (586); vgl. LPK-SGB IX/Luik, § 44 Rn. 7; Gagel, NZA 2001, 988 (988 f.).

[6] Bürger, Die Rehabilitation 2011, 74 ff.; Bürger/Streibelt, Die Rehabilitation 2011, 178 ff.; speziell zur Rückkehr an den Arbeitsplatz bei onkologischen Patienten Rick, Die Reha­bilitation 2022, 117 ff.

[7] So auch Becker/Kingreen/Sichert, § 74 SGB V, Rn. 1; BAR, Arbeitshilfe Stufenweise Wiedereingliederung, S. 14.

[8] Bei der Prüfung, ob eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation vorliegt, stellt die Recht­sprechung im SGB V insbesondere auf das Vorliegen ärztlicher Verantwortung ab und setzt die Begriffe „medizinisch“ und „ärztlich“ faktisch gleich. Vertiefend Goldbach, Das Recht der Berufsgruppen in der medizinischen Rehabilitation, S. 72 ff.

[9] BAG, Urteil v. 16.05.2019 – 8 AZR 530/17 –, juris Rn. 23; vgl. Nr. 5 der Empfehlungen des G-BA zur Umsetzung der stufenweisen Wiedereingliederung, Anlage zur AU-RL, v. 14.11.2013, BAnz 27.01.2014 B4, zuletzt geändert m. W. v. 19.01.2022 am 19.11.2021, BAnz AT 18.01.2022 B3, abrufbar unter www.g-ba.de.

[10] BAG, Urteil v. 13.06.2006 – 9 AZR 229/05 –, juris Rn. 31; vgl. BAG, Urteil v. 16.05.2019 – 8 AZR 530/17 –, juris Rn. 23.

[11] Nr. 5 der Empfehlungen des G-BA zur Umsetzung der stufenweisen Wiedereingliederung, Anlage zur AU-RL, v. 14.11.2013, BAnz 27.01.2014 B4, zuletzt geändert m. W. v 19.01.2022 am 19.11.2021, BAnz AT 18.01.2022 B3, abrufbar unter www.g-ba.de.

[12] OLG Koblenz, Beschluss v. 24.09.2012 – 5 U 931/12, juris Rn. 11; Vgl. LPK-SGB IX/Luik, § 44 Rn. 11 ff.

[13] Vgl. OLG Koblenz, Beschluss v. 24.09.2012 – 5 U 931/12, juris Rn. 10 ff.

[14] Vgl. Dittmann, Beitrag A18-2021, S. 9, abrufbar unter www.reha-recht.de.

[15] Kohte, FS Düwell, S. 493 (499); vgl. KKWKohte, § 44 SGB IX, Rn. 4; BAR, Arbeitshilfe Stufenweise Wiedereingliederung, S. 17; Dittmann, Beitrag A18-2021, S. 9, abrufbar unter www.reha-recht.de.

[16] BAG, Urteil v. 16.05.2019 – 8 AZR 530/17 –, juris Rn. 36.

[17] JurisPK-SGB IX/Nellissen, § 44 SGB IX (Stand: 16.05.2022), Rn. 26; Nellissen, Beitrag A7-2015, S. 3, abrufbar unter www.reha-recht.de; vgl. Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann/ Joussen, § 42 SGB V, Rn. 3.

[18] LSG Erfurt, Beschluss v. 01.08.2013 – L 6 KR 299/13 NZB.

[19] Rahmenvereinbarung über den Rehabilitationssport und das Funktionstraining, BAR 2022, S. 10.

[20] BSG, Urteil v. 29.01.2008 – B 5a/5 R 26/07 R –, juris Rn. 27; vgl. SG Neuruppin, Urteil v. 26.01.2017 – S 22 R 127/14 –, juris Rn. 31; LPK-SGB IX/Luik, § 44, Rn. 3; Nebe/Piller, Beitrag A19-2018, S. 6, abrufbar unter www.reha-recht.de.

[21] Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung (Terminservice- und Versorgungsgesetz) vom 06.05.2019, BGBl. 2019 I 646.

[22] Düwell, NZA 2020, 767 (767 f.); Kohte, FS Düwell 2021, S. 493.

[23] Bundestags-Drucksache 19/6337, S. 97 f.

[24] So auch Düwell, NZA 2020, 767 (768); vgl. KKW/Kohte, § 44 SGB IX, Rn. 1.

[25] So auch BSG, Urteil v. 20.10.2009 – B 5 R 44/08 R –, juris Rn. 36; SG Neuruppin, Urteil v. 26.01.2017 – S 22 R 127/14 – juris Rn. 26; vgl. LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil v. 28.05.2020 – L 6 KR 100/15 –, juris Rn. 64; Nebe/Piller, Beitrag A19-2018, S. 4, abrufbar unter www.reha-recht.de; Nellissen, Beitrag A7-2015, S. 2, abrufbar unter www.reha-recht.de.

[26] SG Dresden, Urteil v. 17.06.2020 – S 18 KR 967/19 –, juris Rn. 20; vgl. SG Kiel, Urteil v. 04.11.2016 – S 3 KR 201/15 –, juris Rn. 20; vgl. Dittmann, Beitrag A18-2021, S. 8, abrufbar unter www.reha-recht.de.

[27] SG Leipzig, Urteil v. 09.03.2022 – S 22 KR 570/21.

[28] BSG, Urteil v. 20.10.2009 – B 5 R 44/08 R.

[29] BSG, Urteil v. 20.10.2009 – B 5 R 44/08 R, juris Rn. 38.

[30] Hütwohl, NJW 2021, 3298 (3300).

[31] BVerfG, Kammerbeschluss v. 27.12.1991 – 2 BvR 72/90 – juris Rn. 10; BVerfG, Nichtannahmebschluss v. 20.08.2015 – 1 BvR 980/15 –, juris Rn. 15.

[32] Vgl. Sodan/Ziekow, GK Öffentliches Recht, § 2, Rn. 6.

[33] JurisPK-SGB V/Waßer, § 60, Rn. 140.1.

[34] LSG Erfurt, Beschluss v. 01.08.2013 – L 6 KR 299/13 NZB.

[35] JurisPK-SGB V/Waßer, § 60, Rn. 139, 140.1.

[36] So auch LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil v. 28.05.2020 – L 6 KR 100/15 –, juris Rn. 66.


Stichwörter:

Stufenweise Wiedereingliederung (StW), Fahrtkosten, Ergänzende Leistungen zur Rehabilitation, Krankengeld, Arbeitsunfähigkeit, Rückkehr ins Erwerbsleben (return to work)


Kommentare (2)

  1. Wolfgang
    Wolfgang 26.01.2024
    Revisionen wegen
    Fahrkosten bei StW

    SG Dresden, 17.06.2020, S 18 KR 967/19
    ➔ anhängig BSG - B 1 KR 7/23 R
    www.dejure.org/9999,144169

    SG Leipzig, 08.09.2021, S 22 KR 100/21
    ➔ anhängig BSG - B 1 KR 4/23 R
    www.dejure.org/9999,144078

    SG Leipzig, 09.03.2022, S 22 KR 570/21
    ➔ anhängig LSG Sachsen - L 9 KR 102/22
    www.dejure.org/9999,144791

    Landessozialgerichte
    zu Fahrkosten bei StW
    www.tinyurl.com/Wikipedia-Fahrkosten-StW

    Gutachten zu den
    Fahrkosten bei StW
    • RP Reha 3/2023, 14 - 29
    • SGb 11/2023, S. 649 - 658
    • jurisPR-SozR 2/2024 Anm. 4
    www.tinyurl.com/SGb-11-2023-StW
  2. Wolfgang
    Wolfgang 30.06.2022
    Entgegen dem SG Leipzig (Berufung anhängig beim LSG Sachsen – L 1 KR 340/21) geht auch das BMAS davon aus, dass die StW eine med. Rehaleistung ist: „Die stufenweise Wiedereingliederung ist eine Leistung der medizinischen Rehabilitation“.
    www.tinyurl.com/frag-den-staat-StW

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