16.07.2019 A: Sozialrecht Schönecker: Beitrag A6-2019

Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auf die Kinder- und Jugendhilfe – Erste Hinweise für die Praxis – Teil I: Das Jugendamt als Rehabilitationsträger

Die Autorin Lydia Schönecker untersucht die Regelungen des Bundesteilhabegesetzes in einem dreiteiligen Beitrag auf ihre Relevanz für Träger der Jugendhilfe. Diese können für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben, für Leistungen zur Teilhabe an Bildung und für Leistungen zur sozialen Teilhabe Rehabilitationsträger sein.

Im vorliegenden ersten Teil wird diskutiert, wie scheinbare begriffliche Abweichungen zwischen § 35a Abs. 1 SGB VIII und § 2 Abs. 1 SGB IX zu bewerten sind und welche Anforderungen an Träger der Kinder- und Jugendhilfe in der Rolle als Rehabilitationsträger insbesondere hinsichtlich der Bedarfsermittlung und Begutachtung gestellt werden. Die Erstveröffentlichung erfolgte als Themengutachten im Fachportal KiJup-online, 1. Auflage, Edition 13 2018. Siehe auch: https://www.kijup.nomos.de/.

(Zitiervorschlag: Schönecker: Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auf die Kinder- und Jugendhilfe – Erste Hinweise für die Praxis – Teil I: Das Jugendamt als Rehabilitationsträger; Beitrag A6-2019 unter www.reha-recht.de; 16.07.2019)

I. Was ist das BTHG und inwiefern gilt dieses auch in der Kinder- und Jugendhilfe?

Mit dem zum 23.12.2016 verabschiedeten Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen[1] erfolgte eine von 2017 bis 2023 in mehreren Reformschritten in Kraft tretende grundlegende Neuordnung des Rehabilitations- bzw. Teilhaberechts. Dabei handelt es sich beim BTHG nicht um ein eigenständiges neues Gesetz, sondern es wurden im Rahmen von 26 Artikeln bereits bestehende Gesetze verändert (Artikelgesetz). Als Grundsatz ist für das Inkrafttreten der Neuregelungen der 1.1.2018 bestimmt (Art. 26 Abs. 1 S. 1 BTHG), es sei denn es liegt eine der Ausnahmen in Art. 26 Abs. 2–5 BTHG vor.

Die für die Kinder- und Jugendhilfe relevantesten Änderungen – mit Inkrafttreten zum 1.1.2018 – betreffen insb. folgende Gesetze:

  • Neufassung des SGB IX Teil 1 mit den für die Rehabilitationsträger allgemein verbindlichen Verfahrens- und Leistungsregelungen (Art. 1 Teil 1 BTHG),
  • Änderungen des SGB XII (Art. 12 BTHG),
  • Änderung der Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglHVO, Art. 21 BTHG),
  • Änderung der Frühförderungsverordnung (FrühV, Art. 23 BTHG).

Zum 1.1.2020 folgt dann das Inkrafttreten weiterer für die Kinder- und Jugendhilfe wichtiger Regelungen:

  • die bis dato in §§ 53 ff SGB XII enthaltene Eingliederungshilfe wird als Teil 2 in das SGB IX überführt (Art. 1 Teil 2 i. V. m. Art. 13 BTHG) und im Zuge dessen auch die Eingliederungshilfe-Verordnung aufgehoben (Art. 26 Abs. 4 BTHG),
  • redaktionelle Folge-Änderungen der Verweisungsregelungen in § 10 Abs. 4 und § 35a Abs. 3 SGB VIII[2].

Die vorliegend primär im Fokus stehenden Neuregelungen betreffen die aus der Neufassung des SGB IX Teil 1, näherhin die dortigen allgemeinen (Kap. 1) sowie verfahrensrechtlichen Vorschriften (Kap. 2 bis 5). Gerade auch mit Blick darauf, dass eine Vielzahl dieser Verfahrensvorgaben – auch für die Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe – zwar bereits seit Inkrafttreten des SGB IX im Jahr 2001 Geltung beanspruchen, in der Praxis jedoch nicht immer Beachtung fanden, hat der Gesetzgeber diese nochmals geschärft.

Dabei ist es wichtig im Blick zu behalten, dass die Rehabilitationsträger gem. § 26 Abs. 2 SGB IX gehalten sind, zur Konkretisierung einzelner Verfahrensweisen gemeinsame Empfehlungen zu erarbeiten. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sind hierbei zwar nicht ausdrücklich einbezogen (vgl. § 26 Abs. 2 i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 1-5 SGB IX). Jedoch sind sie nach § 26 Abs. 5 S. 1 SGB IX an der Vorbereitung der gemeinsamen Empfehlungen über die Bundesvereinigung der Kommunalen Spitzenverbände sowie die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (BAG LJÄ) beteiligt. Seit Februar 2019 liegt die verabschiedete Fassung „Gemeinsame Empfehlung Reha-Prozess“[3] vor. Für die beschlossenen Empfehlungen bestimmt § 26 Abs. 5 S. 2 SGB IX: „Die Träger der […] öffentlichen Jugendhilfe orientieren sich bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach diesem Buch an den vereinbarten Empfehlungen oder können diesen beitreten.“ Bereits jetzt sind die dort ausgearbeiteten Hinweise zum Gesetzesverständnis und Konkretisierungen als Orientierung für die Träger der öffentlichen Jugendhilfe empfehlenswert.

II. Was bedeutet es für Jugendämter, „Rehabilitationsträger“ zu sein?     

Jugendämter stehen gem. § 35a SGB VIII bzw. § 41 i.V.m. § 35a SGB VIII in der Verantwortung, jungen Menschen mit seelischen Behinderungen eine möglichst gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft i.S.d. § 1 SGB IX zu ermöglichen. Die in diesem Kontext zu gewährenden Leistungen werden als Leistungen zur Teilhabe (§ 4 SGB IX) bezeichnet und die jeweils verantwortlichen Leistungsträger als Rehabilitationsträger (vgl. § 6 SGB IX).

Dabei können die Träger der öffentlichen Jugendhilfe für vier der – insgesamt fünf in § 5 SGB IX aufgezählten – Leistungsgruppen Rehabilitationsträger sein (§ 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX), und zwar für

  • Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (§ 5 Nr. 1 SGB IX),
  • Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 5 Nr. 2 SGB IX),
  • Leistungen zur Teilhabe an Bildung (§ 5 Nr. 4 SGB IX) und
  • Leistungen zur sozialen Teilhabe (§ 5 Nr. 5 SGB IX).

Inhaltliche Beschreibungen der einzelnen Leistungsgruppen finden sich im Weiteren in SGB IX Teil 1 Kap. 9 und 10 bzw. 12 und 13.

Für das Verhältnis zwischen dem allgemeinen – für alle Rehabilitationsträger geltenden – SGB IX und dem jeweiligen speziellen Leistungsgesetz (hier SGB VIII), ist entscheidend, die Regelung des § 7 SGB IX zu beachten. Danach gilt folgende Rangfolge:

  • Grundsätzlich gelten die Vorgaben aus dem SGB IX Teil 1, es sei denn, es ergibt sich aus dem eigenen Leistungsgesetz (= SGB VIII) etwas Abweichendes. Die Zuständigkeit und die Voraussetzungen der Teilhabeleistungen richten sich grundsätzlich nach dem eigenen Leistungsgesetz (= SGB VIII; § 7 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB IX).
  • Stets vorrangig zu beachten – und damit auch gegenüber evtl. anderslautenden SGB VIII-Regelungen – sind jedoch die Vorschriften aus den Kapiteln 2 bis 4, d.h. §§ 9-24 SGB IX (§ 7 Abs. 2 SGB IX).

Zusammenfassend bleibt daher festzuhalten: Im Kontext von Leistungen für (junge) Menschen mit Behinderungen agieren die Jugendämter hinsichtlich der og. Leistungsgruppen zwingend als Rehabilitationsträger. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie für die in Betracht kommenden bzw. beantragten Leistungen der tatsächlich sachlich (vorrangig) zuständige Leistungsträger sind oder nicht.

III. § 35a Abs. 1 SGB VIII scheint von § 2 Abs. 1 SGB IX abzuweichen: Welche Auswirkungen hat diese Diskrepanz?

In Übereinstimmung mit der Präambel e) und Art. 1 S. 2 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wurde im neuen § 2 SGB IX auch der Behinderungsbegriff[4] angepasst und diesem das sog. bio-psychosoziale Modell zugrunde gelegt. Danach wird Behinderung nicht mehr an den individuellen Beeinträchtigungen und Eigenschaften des Menschen festgemacht („Er/sie ist behindert“), sondern vor allem auch als Wechselwirkungsergebnis mit seinen jeweiligen einstellungs- und umweltbedingten Barrieren betrachtet („Er/sie wird behindert“).

Den in § 35a Abs. 1 SGB VIII für die Kinder- und Jugendhilfe geltenden Behinderungsbegriff hat der Gesetzgeber hingegen unverändert gelassen.

 § 35a SGB VIII

§ 2 SGB IX

seit 1.1.2018

(1) Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn

1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und

2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.

(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen

die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie

in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren

an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.

Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.

Die Diskrepanz zwischen SGB IX und SGB VIII wirft die Frage auf, welcher Behinderungsbegriff im Kontext von § 35a SGB VIII-Leistungen relevant ist. Legt man die Vorrang-Nachrang-Regelung des § 7 SGB IX zugrunde, lässt die Stellung im Regelungsgefüge (Kap. 1) die Interpretation zu, dass § 2 SGB IX gerade nicht den zwingend gegenüber den speziellen Leistungsgesetzen geltenden SGB IX-Regelungen aus den Kapiteln 2 bis 4 unterfällt (vgl. § 7 Abs. 2 SGB IX). Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber des BTHG zwar durchaus Änderungen des § 35a SGB VIII vorgenommen hat, diese allerdings allein auf die in Absatz 3 enthaltenen Verweisungen ins SGB IX beschränkt und die Festlegungen der Behinderungsvoraussetzungen in Absatz 1 unangetastet gelassen hat. Vor diesem Hintergrund wird in der Literatur vertreten, dass der speziellere Behinderungsbegriff des § 35a Abs. 1 SGB IX dem allgemeinen in § 2 Abs. 1 SGB IX grundsätzlich vorgeht.[5]

 Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Integration der Wechselwirkungsdimension aus der Umsetzung der UN-BRK resultiert, deren völkerrechtlichen Verpflichtungen konsequenterweise an alle staatlichen Leistungssysteme in Hilfekontexten mit Menschen mit Behinderungen gleichermaßen adressiert sind. Dementsprechend beschreibt auch der BTHG-Gesetzgeber in seiner Begründung zu § 2 SGB IX folgendes Selbstverständnis:

Der Behinderungsbegriff hat eine klärende und maßstabsbildende Funktion für die Rehabilitationsträger.[6]

[…] Absatz 1 Satz 1 definiert den Begriff der Behinderung für das SGB IX neu. Ob bei Vorliegen einer Behinderung auch die für den Rehabilitationsträger jeweils geltenden Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind, richtet sich gemäß § 7 unverändert nach den für den Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen.

Die Neufassung des Behinderungsbegriffs entspricht dem Verständnis der UN-BRK […] Der bisherige Wortlaut des § 2 SGB IX kann zwar im Sinne der UN-BRK ausgelegt werden. Zur Rechtsklarheit wird der Behinderungsbegriff durch die Inbezugnahme der Wechselwirkung zwischen der Beeinträchtigung und den Umweltfaktoren deklaratorisch an die UN-BRK angepasst.[7]

Nach Auffassung und Konzeption des BTHG-Gesetzgebers soll demnach der allgemeine Behinderungsbegriff nach § 2 SGB IX den spezifischen Leistungsvoraussetzungen jeweils vorgelagert sein, sodass die Konkurrenzregelung des § 7 SGB IX überhaupt erst zum Tragen kommt, wenn eine Behinderung i. S. d. § 2 SGB IX bejaht wurde.

Vor diesem Hintergrund ist daher der die Leistungsvoraussetzungen der Kinder- und Jugendhilfe bestimmende Behinderungsbegriff des § 35a Abs. 1 SGB VIII unter Hinzuziehung des neuen allgemeinen Behinderungsbegriffs gem. § 2 SGB IX auszulegen, d.h. in die zweigliedrige Anspruchsprüfung nach § 35a Abs. 1 SGB VIII sind die „Wechselwirkungen mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“ gem. § 2 SGB IX zusätzlich mit einzubeziehen.

IV. § 13 SGB IX bestimmt, dass die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs durch „Instrumente“ erfolgen soll. Was bedeutet das?

Mit dem Ziel der Einheitlichkeit und Überprüfbarkeit gibt § 13 SGB IX für alle Rehabilitationsträger vor, dass diese zur Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs „systematische Arbeitsprozesse und standardisierte Arbeitsmittel (Instrumente) nach den für sie geltenden Leistungsgesetzen“ einsetzen sollen. Als gemeinsame Orientierung dienen hierfür die zwischen den Rehabilitationsträgern vereinbarten Gemeinsamen Empfehlungen, in denen die Grundsätze für diese Instrumente festgelegt sein sollen (§ 13 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 26 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX).

In den Gemeinsame Empfehlungen[8] heißt es hierzu in § 38 erläuternd:

(2) Systematische Arbeitsprozesse können z.B. sein Erhebungen, Analysen, Dokumentation, Planung und Ergebniskontrolle, insbesondere auch in ihrer systematischen Verbindung zueinander. […]

(3) Standardisierte Arbeitsmittel [= Instrumente] sind Hilfsmittel, die die Arbeitsprozesse unterstützen und der Generierung erforderlicher Informationen dienen. Standardisierte Arbeitsmittel sind z.B. funktionelle Prüfungen (Sehtests, Intelligenztests, Hörtests), Assessment- und Diagnoseinstrumente, Fragebögen, IT-Anwendungen, Antragsunterlagen, Befundberichte, Checklisten, Leitfäden etc. Sie sollen auf einer wissenschaftlichen Grundlage beruhen bzw. trägerübergreifend abgestimmt sein.

Die inhaltlichen Orientierungspunkte für den Einsatz der Instrumente gibt § 13 Abs. 2 SGB IX vor. Ziele sind die Gewährleistung einer individuellen und funktionsbezogenen Bedarfsermittlung sowie die Sicherung ihrer Dokumentation und Nachprüfbarkeit. Hierfür sollen sie – grundsätzlich ohne zwingende Reihenfolge, sondern entsprechend dem bio-psycho-sozialen Modell vor allem unter Beachtung der zahlreichen Querbezüge und Wechselwirkungen[9] – insb. erfassen:

  • Vorliegen/Drohen einer Behinderung (§ 13 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX, § 40 Gemeinsame Empfehlungen),
  • Auswirkungen auf die Teilhabe (§ 13 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX, § 41 Gemeinsame Empfehlungen),
  • Teilhabeziele (§ 13 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX, § 42 Gemeinsame Empfehlungen),
  • erforderliche Leistungen, die im Rahmen einer Prognose zur Erreichung der Teilhabeziele voraussichtlich erfolgreich sind (§ 13 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX, § 43 Gemeinsame Empfehlungen).

Die überwiegende Anzahl dieser Anforderungen werden viele Jugendämter in ihrem Praxisalltag der Anspruchsprüfungen nach § 35a SGB VIII bereits jetzt erfüllen, sodass hier regelmäßig nur wenige Ergänzungen und Nachsteuerungen notwendig sein dürften. Allerdings gilt zu berücksichtigen, dass die Verpflichtung zur Bedarfsermittlung nach § 13 SGB IX umfassend gemeint ist, d.h. ausdrücklich auch Bedarfe in den Blick zu nehmen sind, die ggf. (auch) die Leistungszuständigkeit anderer Rehabilitationsträger begründen können.

Im Übrigen besteht für die Träger der Kinder- und Jugendhilfe – im Gegensatz zur Eingliederungshilfe nach dem SGB XII (bzw. ab 1.1.2020: SGB IX Teil 2) – grundsätzlich keine Verpflichtung zur Orientierung der Bedarfsermittlung an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit.[10] Die Gesetzesbegründung lässt zwar durchaus eine präferierte Nähe zur Orientierung der Bedarfsermittlung an diesem Instrument erkennen[11] und in § 44 Abs. 2 Gemeinsame Empfehlungen heißt es sogar, dass „bestehende Instrumente […] unter Nutzung der Möglichkeiten des bio-psycho-sozialen Modells, das der ICF zu Grunde liegt“ weiterentwickelt werden sollen. Andererseits gilt es in den – z.T. recht aufgeregt geführten – Diskussionen[12] gut zu unterscheiden zwischen der Nutzung der ICF

  1. mit ihrem zugrunde liegenden bio-psycho-sozialem Modell als Konzept, wonach „sich die Schädigungen auf den Ebenen der Körperstrukturen/-funktionen sowie die Beeinträchtigungen der Aktivitäten und der Teilhabe unter dem Einfluss von Kontextfaktoren wechselseitig positiv wie auch negativ beeinflussen können“ und
  2. der ICF als Kodierungs- bzw. Klassifikationssystem, das „aufgrund der unzureichenden Operationalisierung bisher nur im Forschungskontext und in bestimmten klinischen Settings Bedeutung“ hat.[13]

Insofern steht ohnehin nicht ernsthaft zur Diskussion, die Bedarfsermittlungsinstrumente entsprechend dem umfangreichen Klassifikationssystem nach (2) zu entwickeln und anzuwenden. Vielmehr geht es um Überlegungen, wie das unter (1) beschriebene Wechselwirkungsmodell zur Grundlage eines strukturierten, diskursiven Konzepts der Bedarfsermittlung entwickelt werden kann.[14]

V. Was bedeuten die Vorgaben zur Begutachtung in § 17 SGB IX für die Regelungsinhalte des § 35a Abs. 1a SGB VIII?

Aus dem bisherigen § 14 Abs. 5 SGB IX herausgenommen, finden sich die Regelungen zur Begutachtung weitgehend inhaltsgleich im neuen § 17 SGB IX, insb. ergänzt um Vorgaben zur Abstimmung zwischen den Rehabilitationsträgern im Falle von Trägermehrheit. Um unnötige Mehrfachbegutachtungen zu vermeiden, sollen zum einen im Rahmen der Begutachtung die in den Gemeinsamen Empfehlungen vereinbarten Grundsätze zugrunde gelegt werden (§ 17 Abs. 2 S. 2 i. V. m. § 25 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX), zum anderen bei Beteiligung weiterer Rehabilitationsträger nach § 15 SGB IX gezielt Abstimmungen über Anlass, Ziel und Umfang der Begutachtung getroffen werden (§ 17 Abs. 3 S. 1 SGB IX, § 28 Abs. 2 Gemeinsame Empfehlungen).

Obwohl bislang schon weitgehend geltendes Recht, lenkt allerdings auch hier die Konkurrenzregelung des § 7 SGB IX den Blick auf die Frage, in welchem Verhältnis diese Vorgaben des § 17 SGB IX zu denen des § 35a Abs. 1a SGB VIII stehen. Als Vorschrift aus SGB IX Teil 1 Kap. 4 gehört jedenfalls auch § 17 SGB IX zu den Vorschriften, die grundsätzlich den Regelungen des Leistungsgesetzes (hier SGB VIII) vorgehen. Doch betrachtet man beide Vorschriften näher, lassen sie sich – ohne Diskrepanzen – grundsätzlich gut miteinander verschränkt lesen:

  • Das in § 17 Abs. 1 S. 1 SGB IX enthaltene Merkmal der „Erforderlichkeit“ („Ist für die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs ein Gutachten erforderlich“) verdichtet sich in Bezug auf die Regelung des § 35a Abs. 1a SGB VIII zu einer zwingend durchzuführenden Begutachtung („Hinsichtlich […] hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe“).
  • Die in § 17 Abs. 2 S. 1 SGB IX allgemein enthaltene Umschreibung „Sachverständige“ konkretisiert sich durch die Vorgaben in § 35a Abs. 1a S. 1 Nr. 1–3 SGB VIII auf die ausschließlich dort zugelassenen Personengruppen.

An der grundsätzlich den Fachkräften des Jugendamts obliegenden Einschätzung der Teilhabebeeinträchtigung i. S. d. § 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII ändert sich durch die Vorgaben des § 17 SGB IX grundsätzlich nichts. Erst wenn diese nicht über die für die Prüfung der Teilhabebeeinträchtigung notwendigen Kompetenzen verfügen, wäre auch hier ein Gutachten i. S. d. § 17 Abs. 1 S. 1 SGB IX „erforderlich“ und dann wohl auch diesbezüglich ein geeigneter Sachverständiger zu beauftragen.

Beitrag von Lydia Schönecker, SOCLES – International Centre for Socio-Legal Studies, Heidelberg

Fußnoten

[1] Bundesteilhabegesetz – BTHG, BGBl. 2016 I, 3234 ff.

[2] Art. 27 des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften, BGBl. I 2017, 2541 [2571 f].

[3] Gemeinsamen Empfehlung Reha-Prozess, abrufbar unter www.bar-frankfurt.de/fileadmin/dateiliste/publikationen/gemeinsame-empfehlungen/downloads/GEReha-Prozess.pdf, Abruf: 11.06.2019.

[4] Das Wort „Behinderungsbegriff“ wird in der Literatur unterschiedlich verwendet und es wird unterschiedlich beurteilt, in welchem Verhältnis die „Behinderungsbegriffe“ der verschiedenen Leistungsgesetze zu dem des § 2 SGB IX stehen. Sowohl die leistungsrechtliche Zugangsvoraussetzung zur Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung nach § 35a SGB VIII als auch die Legaldefinition des § 2 SGB IX werden nachfolgend als „Behinderungsbegriff“ bezeichnet.

[5] JurisPK-SGB IX/Luthe, Stand: 9.11.2018, § 2 SGB IX Rn. 15, 21 f.; Hauck/Noftz/Götze, SGB IX, Stand: 10/2018, § 2 SGB IX Rn. 26; Walhalla Bundesteilhabegesetz Reformstufe 2, S. 19 ff.; LPK-SGB VIII/Kepert/Dexheimer, 7. Aufl. 2018, § 35a SGB VIII Rn. 10. A.A. Stevens-Bartol in Feldes/Kohte/Stevens-Bartol SGB IX, 4. Aufl. 2018, § 2 SGB IX, Rn. 4; Welti in Deinert/Welti SWK Behindertenrecht, 2. Aufl. 2018, Stichwort Behinderung, Rn. 31 ff.; von Boetticher/Meysen in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII 2019, § 35a SGB VIII Rn. 16.

[6] Bundestags-Drucksache 18/9522, 192.

[7] Bundestags-Drucksache 18/9522, 227.

[8] Abrufbar s. o.

[9] § 39 Gemeinsame Empfehlungen.

[10] ICF; bzw. für Kinder/Jugendliche: ICF-CY; Rosenow JAmt 2017, 480 [485].

[11] Bundestags-Drucksache 18/9522, 232.

[12] Vgl. DVfR-Stellungnahme.

[13] So ausdrücklich DVfR-Stellungnahme, 2.

[14] DVfR-Stellungnahme, 4; Fuchs, Beitrag A17-2018 unter www.reha-recht.de, 1, erkennt in dem Begriff „funktionsbezogen“ eine zwingende Orientierung der Bedarfsermittlung aller Reha-Träger am bio-psycho-sozialen Modell der ICF. Vgl. Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 239 sowie DVfR-Stellungnahme S. 1 (Das Konzept der ICF ist als wesentliche Grundlage für die Bedarfsermittlung anzusehen).


Stichwörter:

Jugendamt, Kinder- und Jugendhilfe, Bundesteilhabegesetz (BTHG), Rehabilitationsträger, Medizinische Rehabilitationsleistungen, Berufliche Rehabilitation, Soziale Teilhabe, Leistungen zur Teilhabe an Bildung, Behinderungsbegriff, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)


Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Mit * gekennzeichnete Felder müssen ausgefüllt werden.