08.10.2015 B: Arbeitsrecht Hoffmann/Kohte: Beitrag B12-2015

Formelle Anforderungen an die Kündigung eines Werkstattvertrags – Urteil des BAG vom 17.03.2015, 9 AZR 994/13

Die Autoren beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit der Grundsatzentscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 17.03.2015, in der sich das Gericht mit der Frage nach den formellen Anforderungen an die Kündigung eines Werkstattvertrags zu befassen hatte.

Der Senat entschied, dass das Schriftformerfordernis des § 138 Abs. 7 Sozialgesetzbuch (SGB) IX auch auf die Kündigung wirksam geschlossener Werkstattverträge anzuwenden sei. Es hob damit den wesentlichen Teil der vorinstanzlichen Entscheidung auf und erklärte die Kündigung der Beklagten für unwirksam. Die Autoren halten dies für zutreffend und begrüßen die Entscheidung mit Blick auf das Inklusionsprinzip.

Bei dem Urteil des BAG handelt es sich um die Entscheidung über die Revision zum Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 11.11.2014, das von den Autoren im Fachbeitrag B1-2015 besprochen wurde.

(Zitiervorschlag: Hoffmann/Kohte: Formelle Anforderungen an die Kündigung eines Werkstattvertrags – Urteil des BAG vom 17.03.2015, 9 AZR 994/13; Forum B, Beitrag B12-2015 unter www.reha-recht.de; 08.10.2015)


 

I. Thesen der Autoren

  1. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 17. März 2015 ist eine Grundsatzentscheidung zu den formellen Anforderungen an die Kündigung eines Werkstattvertrags. Das BAG wendet die Vorschrift des § 138 Abs. 7 SGB IX (Sozialgesetzbuch Neuntes Buch), die Schriftform der Kündigung und der Begründung für die Lösung unwirksamer Werkstattverträge verlangt, auch auf die Kündigung wirksam geschlossener Werkstattverträge an. Das ist systematisch zutreffend und entspricht dem Inklusionsprinzip.

  2. Eine solche Kündigung ist nach § 125 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) unwirksam, wenn die Schriftform nicht eingehalten wird. Dies gilt auch für die Begründung. Verlangt werden dafür nachvollziehbare Tatsachen, Schlagworte oder Stichworte, z. B. „Übergriffigkeiten“ und „Fremdaggressionen“ reichen nicht aus. Die Rechtsprechung zu § 22 Abs. 3 BBiG (Berufsbildungsgesetz – früher § 15 Abs. 3 BBiG a. F.) liefert dafür passendes Anschauungsmaterial.

  3. Diese Anforderungen betreffen nur die formellen, nicht die materiellen Voraussetzungen der Kündigung.

II. Das Urteil

Das Bundesarbeitsgericht entschied am 17. März 2015 über die Revision des Klägers zum Urteil des Landesarbeitsgerichts vom 11. November 2013 – 9 Sa 469/13. Dieses Urteil wurde im Beitrag B1-2015 von uns besprochen[1].

Der wesentliche Teil des Urteils des Landesarbeitsgerichts wurde auf die Revision des Klägers hin aufgehoben. Das BAG gab der Kündigungsschutzklage des Klägers statt, da die Kündigung der Beklagten vom 28. November 2012 wegen § 138 Abs. 7 SGB IX i. V. m. 125 Satz 1 BGB formunwirksam sei. Das LAG Düsseldorf hatte dagegen die Einhaltung der Formvorschrift des § 138 Abs. 7 SGB IX bejaht, da es auf die Einhaltung der Begründung nicht ankomme; im Übrigen sei die Begründung des Kündigungsschreibens auch ausreichend gewesen. Wir hatten dazu nicht Stellung genommen, weil der Wortlaut des Kündigungsschreibens im LAG-Urteil nicht wiedergegeben worden war.

Die Entscheidung des BAG korrigiert die Position des LAG Düsseldorf und ist sowohl für die Anwendung als auch für den Umfang der Schriftform als Grundsatzurteil zu § 138 Abs. 7 SGB IX zu bewerten.

Die gesetzliche Regelung zur Kündigung von Werkstattverträgen ist nicht nur auf den ersten Blick unübersichtlich. Eine spezielle Vorschrift zur Kündigung von Werkstattverträgen fehlt im SGB IX. Da diese Beschäftigung als arbeitnehmerähnlich qualifiziert wird, gilt auch die arbeitsvertragliche Formvorschrift in § 623 BGB nicht. 2002 hat man Regelungen in das Gesetz eingefügt, die einen Bestandsschutz vermitteln sollen, wenn ein geschäftsunfähiger volljähriger Mensch einen Werkstattvertrag abgeschlossen hat. Dieser müsste nach § 105 BGB unwirksam sein, doch soll sich die Werkstatt nur unter besonderen Voraussetzungen von diesem „Vertrag“ lösen können: dazu wird verlangt, dass die Lösungserklärung der Schriftform bedarf und zu begründen ist. Weiter wird in § 138 Abs. 6 angeordnet, dass eine solche Lösung vom Vertrag nur unter den Voraussetzungen erfolgen kann, unter denen ein wirksam geschlossener Werkstattvertrag gekündigt werden könnte. Was heißt das jetzt für die Form der Kündigung eines Werkstattvertrags?

Systematisch ist das Urteil des BAG so aufgebaut, dass zunächst die Fragen zur Anwendbarkeit des § 138 Abs. 7 SGB IX auf wirksam geschlossene Verträge geklärt werden und im Anschluss daran die Notwendigkeit des Schriftformerfordernisses für die Begründung der Kündigung ausgeführt wird.

1. Anwendbarkeit des § 138 Abs. 7 SGB IX

Einige Ansichten in der Literatur[2] halten § 138 Abs. 7 SGB IX nicht für Verträge anwendbar, die zuvor wirksam geschlossen wurden. In Anknüpfung an § 138 Abs. 6 SGB IX, der zwischen einer Kündigung eines wirksamen geschlossenen Vertrages und der Lösung eines unwirksam geschlossenen Vertrages wegen Geschäftsunfähigkeit sprachlich unterscheidet, wird dort teilweise die Ansicht vertreten, dass die sprachliche Unterscheidung auch auf § 138 Abs. 7 SGB IX ausstrahle und die Lösung[3] eines Vertrages nur für solche Verträge möglich sei, die von einem geschäftsunfähigen behinderten Menschen geschlossen wurden.

Das BAG hält eine solche begriffsjuristische Argumentation, die sich nur auf den Unterschied der Begriffe „Kündigung“ und „Lösung“ stützen kann, für falsch. Es stellt in den Mittelpunkt eine systematische Begründung – das Inklusionsprinzip. Der Senat argumentiert, dass in rechtssystematischer Hinsicht zwischen den Anforderungen an eine Kündigung und eine Lösung keine Unterscheidung vorgenommen werden könne, weil der Gesetzgeber mit § 138 Abs. 6 SGB IX eine Gleichstellung des Bestands der Rechtsverhältnisse von geschäftsfähigen und geschäftsunfähigen Beschäftigten erreichen wollte. Dies gehe auch aus der Gesetzesbegründung zu § 138 Abs. 6 SGB IX hervor; in der ausgeführt wird, dass Werkstattträger gerade nicht bessergestellt werden sollen, wenn sie einen „Vertrag“ mit einem Geschäftsunfähigen abschließen, als bei einem Vertragsschluss mit einem Geschäftsfähigen[4].

Würde man also den wirksamen Vertrag aus dem Anwendungsbereich des § 138 Abs. 7 SGB IX herausnehmen, würde dies dem Gleichstellungsgedanken der vorhergehenden Absätze 5 und 6 entgegenstehen. Somit ist auch für die Kündigung eines wirksam geschlossenen Vertrages die spezifische Schriftform nach § 138 Abs. 7 SGB IX erforderlich.

2. Schriftformerfordernis der Begründung

Trotz des klaren Wortlauts von § 138 Abs. 7 SGB IX vertrat das LAG Düsseldorf die Rechtsauffassung, dass diese Norm explizit nur die zwingende Schriftform der Kündigung anordne. Die in der Norm genannte Schriftform der Begründung diene nur der Nachvollziehbarkeit, so dass Fehler nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führen würden.

Zutreffend hat das BAG diese Rechtsauffassung abgelehnt und auf die rechtliche Regelungstechnik von Kündigungsvorschriften in anderen Gesetzen verwiesen, in denen ebenfalls die Schriftform der Begründung verlangt wird. Als wichtigstes Beispiel führte das Gericht § 22 Abs. 3 BBiG an, wonach bei Auszubildenden die Kündigung „schriftlich und unter Angabe der Kündigungsgründe“ erfolgen muss. Eine vergleichbare Regelung enthielt seit 1969 § 15 Abs. 3 BBiG a. F.. Bereits in der ersten Entscheidung zu dieser Norm hatte das BAG zutreffend verlangt, dass im Kündigungsschreiben auch die Kündigungsgründe aufzuführen sind. In weiteren Entscheidungen hatte das BAG dann verlangt, dass die Kündigungsgründe sich auf konkrete Tatsachen beziehen müssen und dass „Schlagworte“ und „Bewertungen“ allein nicht ausreichen.[5] In Kenntnis dieser Rechtsprechung wurde die Neuregelung durch § 22 Abs. 3 BBiG hinsichtlich eines ausdrücklichen Schriftformerfordernisses nicht erweitert. Vergleichbar ist mit unionsrechtlicher Begründung 1997 für die Kündigung nach § 9 Abs. 3 MuSchG (Mutterschutzgesetz) die Schriftform auch auf die Angabe der Kündigungsgründe erstreckt worden. Ebenso enthalten einige Tarifverträge vergleichbare Regelungen[6].

Das BAG stützte diese Rechtsprechung mit der Rechtsklarheit und -sicherheit, die eine schriftliche Begründung darstelle. Eine schriftliche Begründung diene der Beweissicherung, der Abschätzung eines möglichen prozessualen Vorgehens gegen die erklärte Kündigung, und schließlich auch der Rechtssicherheit hinsichtlich des Zugangs der Erklärung.[7]

Etwas anderes könne auch nicht für § 138 Abs. 7 SGB IX gelten, denn hier diene Schriftformerfordernis ebenfalls dem Schutz behinderter Menschen und ihren Vertreterinnen und Vertretern.[8] Ebenso soll ein Prozessrisiko hinreichend kalkulierbar sein.

Die Begründung muss außerdem so präzise formuliert sein, dass der Empfänger den Kündigungsgrund eindeutig erkennen kann, pauschale Angaben – im vorliegenden Fall „aggressives Verhalten“ – reichen hierfür nicht aus.

Für die Werkstatt bedeutet dies, dass neben einer ausführlichen Schilderung des Verhaltens des Klägers auch Zeit- und Ortsangaben aufgeführt werden müssen.

Wegen des Verstoßes gegen die Formvorschrift aus § 138 Abs. 7 SGB IX ist die Kündigungserklärung gemäß § 125 S. 1 BGB nichtig. Das Werkstattverhältnis ist durch die Kündigung vom 28. November 2012 nicht beendet worden.

Diese Entscheidung bedeutet nicht, dass jetzt materielles arbeitsvertragliches Kündigungsrecht in der Werkstatt gilt. Sie macht jedoch ernst mit den formellen Anforderungen in § 138 Abs. 7 SGB IX. Das ist sachgerecht, denn die Gründe, die zur strengen Schriftform im Berufsbildungsrecht geführt haben, passen auch in der Werkstatt. Die von uns in B1-2015 begonnene Diskussion, welche materiellen Anforderungen an die Werkstattkündigung zu stellen sind, wird in anderen Verfahren fortzusetzen sein.

Beitrag von Dipl. jur. Anna-Lena Hoffmann und Prof. Dr. Wolfhard Kohte, beide Martin-Luther Universität Halle (Saale)

Fußnoten:

[1] Hoffmann/Kohte: Kündigung eines Werkstattvertrages und der Verlust der Aufnahmevoraussetzungen in eine Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) – Anmerkung zum Urteil des LAG Düsseldorf vom 11.11.2013 – 9 Sa 469/13 – unter der Beachtung des Verlusts der Aufnahmevoraussetzungen in eine WfbM und der Bedeutung des Betreuungsschlüssels; Forum B, Beitrag B1-2015 unter www.reha-recht.de; 19.02.2015.

[2] Siehe dazu Pahlen in Neumann/ Pahlen/ Majerski-Pahlen SGB IX 12. Aufl. § 138 Rn. 34.

[3] Das BAG führt aus, dass der Begriff der Kündigung dem allgemeinen Sprachgebrauch nach nichts anderes als die „Lösung eines Vertrages“ ist und somit nicht im Widerspruch zu der in § 138 Abs. 7 SGB IX verwendeten Bezeichnung „Lösungserklärung“ steht.

[4] Siehe BT-Drs. 14/9266 S. 53.

[5] Dazu werden im Urteil folgende Entscheidungen genannt: BAG Urt. v. 10.2.1999 – 2 AZR 176/98, BAG Urt. 2511. 1976 – 2 AZR 751/75, BAG Urt. 22.2.1972 2 AZR 205/71; zur Formvorschrift des § 22 Abs. 3 BBiG auch Bodenstedt, in Thüsing/Laux/Lembke (Hrsg.) KschG 3. Aufl. § 22 BBiG Rdn.10.

[6] Kliemt, Formvorschriften im Arbeitsrecht, 1995, S. 103 ff.; BAG 10.02.1999.

[7] Zur Rechtssicherheit auch BAG Urt. v. 10.02.1999 - 2 AZR 176/98 Rdn. 17.

[8] Zur Rechtssicherheit der Schriftformerfordernis auch BT-Drs. 14/9266 S.53.


Stichwörter:

Berufliche Teilhabe, Gesetzesauslegung, Inklusion, Kündigung Werkstattvertrag, Werkstattverhältnis, Berufliche Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben


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