27.03.2015 B: Arbeitsrecht Nebe: Beitrag B4-2015

Anmerkung zum Diskussionsbeitrag B3-2015 „Barrierefreie Arbeitsstätten – Änderung der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV 2015)“ von Franz Josef Düwell

Dieser Beitrag ist eine Anmerkung zu dem Diskussionsbeitrag B3-2015, der sich mit den geplanten, aber vorläufig verschobenen Änderungen des § 3a Abs. 2 Arbeitsstättenverordnung befasst.

Die Autorin zeigt auf, dass auch mit der geplanten Neufassung der Norm ein wesentliches Defizit nicht behoben worden wäre. So deute der Wortlaut des alten sowie auch des neuen § 3a Abs. 2 Arbeitsstättenverordnung darauf hin, dass die Pflicht zur Barrierefreiheit nur Betriebe trifft, die tatsächlich Menschen mit Behinderung beschäftigen. Eine derartige Begrenzung hält die Autorin für nicht vereinbar mit § 81 Abs. 3 SGB IX sowie mit höherrangigem Recht. Eine Korrektur des Wortlautes sei daher notwendig. Bis zu einer solchen Korrektur hätten Gerichte und Verwaltung die Norm unionskonform sowie völkerrechtsfreundlich auszulegen.

Gerade weil durch Intervention aus dem Kanzleramt die Novellierung der Arbeitsstättenverordnung verschoben worden ist, besteht jetzt die Chance, über weitere und weiter reichende Änderungsbedarfe zu diskutieren. Sie zeigen, dass die geplante und jetzt zeitweilig gebremste Änderung des Arbeitsstättenrechts unter behinderungspolitischen Aspekten noch nicht ausreichend war.

(Zitiervorschlag: Nebe: Anmerkung zum Diskussionsbeitrag B3-2015 „Barrierefreie Arbeitsstätten – Änderung der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV 2015)“ von Franz Josef Düwell; Forum B, Beitrag B4-2015 unter www.reha-recht.de; 27.03.2015)


I.       Vorbemerkung

Der vorliegende Beitrag nimmt Bezug auf die Ausführungen von Prof. Franz Josef Düwell zu der Verordnung zur Änderung von Arbeitsschutzverordnungen (Diskussionsbeitrag B3-2015[1]).

Im Diskussionsbeitrag B3-2015 stellte der Autor bisher wenig diskutierte behinderungspolitische Aspekte vor. Nach Intervention durch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und im Ergebnis der Beratungen des Koalitionsausschusses am 24.02.2015 ist die novellierte Verordnung nicht wie geplant zum 01.03.2015 in Kraft getreten (Stand 27.03.2015).

Die Arbeitsstättenverordnung soll noch einmal überarbeitet und dann erneut im Kabinett beraten werden. Gerade weil die geplanten Änderungen der Arbeitsstättenverordnung  damit  eher ungewiss sind, wollen wir die Gelegenheit nutzen, um eine weiterführende Diskussion der behinderungspolitischen Aspekte des Arbeitsstättenrechts zu fördern, denn aus unserer Sicht waren in dieser Perspektive die geplanten Änderungen nicht zu weit, sondern noch nicht ausreichend.


II.      Adressat der Verordnung nur der Arbeitgeber, der behinderte Menschen tatsächlich beschäftigt?

1.      Einleitung

Trotz, oder vielleicht auch gerade wegen der vorläufig verschobenen Neufassung der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) lohnt es sich, über die bislang vorgesehenen Erweiterungen, die von Franz Josef Düwell im Diskussionsbeitrag B3-2015 näher skizziert worden sind, hinaus den Novellierungsbedarf zu diskutieren; und zwar nicht im Sinne einer Abschwächung, sondern vielmehr im Sinne einer noch weitergehenden Änderung der bisherigen Regelung, denn ein ganz erhebliches Defizit der bisherigen Regelung wäre auch durch die – zunächst verschobene – Neuregelung nicht behoben.

Im alten wie im geplanten neuen Wortlaut des § 3a Abs. 2 ArbStättV heißt es: „Beschäftigt der Arbeitgeber Menschen mit Behinderungen, hat er Arbeitsstätten so einzurichten und zu betreiben, dass die besonderen Belange dieser Beschäftigten (…) berücksichtigt werden“.

Bei rein wörtlicher Auslegung wäre danach die Pflicht zur Barrierefreiheit der Arbeitsstätte auf die Betriebe beschränkt, die tatsächlich Menschen mit Behinderungen beschäftigen. Diese Engführung der Pflicht wurde bereits deutlich kritisiert.[2]

Die Novellierung der ArbStättV bietet die Chance, die „verunglückte Formulierung“[3] zu korrigieren. Umso wichtiger ist es, dem vom Wortlaut ausgehenden Trugschluss auch weiterhin im Wege der verfassungs-, völkerrechts- und unionsrechtskonformen Auslegung vorzubeugen und so der Norm ihre fehlanreizende Wirkung zu nehmen. Bei schlicht wörtlicher Anwendung setzt die Norm einen deutlichen Anreiz, behinderte Menschen nicht einzustellen, scheint doch die Pflicht zur barrierefreien Gestaltung erst bei tatsächlicher Beschäftigung einzugreifen.

2.      Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht

Ein solch enges Verständnis der Norm ist weder verfassungsrechtlich, noch mit Völker- oder Unions- und nationalem Antidiskriminierungsrecht zu vereinbaren.

a)     Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 Grundgesetz (GG)

Unter behinderten Menschen ist die Erwerbslosenquote nahezu doppelt so hoch wie in der Vergleichsgruppe. Mit rund 26 Monaten sind beeinträchtigte Menschen nach wie vor länger von Arbeitslosigkeit betroffen als nicht beeinträchtigte Menschen (15,3 Monate). Die Erwerbsquote beeinträchtigter Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist mit 58 % deutlich niedriger als die nicht beeinträchtigter Menschen, deren Erwerbsquote unterteilt nach Geschlecht für Frauen bei 75 % und für Männer bei 83 % liegt.[4]     

Die Tatsachen liegen also klar auf der Hand: Behinderte Menschen sind in ihrem Recht auf berufliche Teilhabe nach wie vor deutlich stärker beschränkt als nicht behinderte Menschen. Der Gesetzgeber darf also nicht nachlassen, seinen in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verankerten verfassungsrechtlichen Auftrag zu erfüllen und behinderte Menschen nicht wegen ihrer Behinderung zu benachteiligen. Denn das Bundesverfassungsgericht hat eine diskriminierende Benachteiligung nicht nur bei verschlechternden Maßnahmen und Regelungen angenommen, sondern auch bei einem Ausschluss behinderter Menschen von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten, der nicht durch Förderungsmaßnahmen hinlänglich kompensiert wird.[5]

Erschwert der Gesetzgeber nun den Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt zusätzlich, dann verstößt er gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG. Ein solcher Verstoß kann dem um Verbesserung der Situation zugunsten der behinderten Menschen bemühten Gesetzgeber nicht unterstellt werden. Im Wege der verfassungskonformen Auslegung muss die Restriktion des Wortlautes mit Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG in Einklang gebracht werden.

b)     Verstoß gegen Unionsrecht und nationales Antidiskriminierungsrecht

Das Antidiskriminierungsrecht der Europäischen Union (EU) und das nationale Antidiskriminierungsrecht bauen auf dem Leitbild der gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen in allen Lebensbereichen, vor allem auch im Arbeitsleben auf, vgl. Richtlinie (RL) 2000/78/EG und §§ 1–17 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG).

Sowohl das europäische wie auch das nationale Recht schützen behinderte Menschen nicht erst vor Diskriminierungen im Zusammenhang mit der tatsächlichen Beschäftigung. Vielmehr gelten das Diskriminierungsverbot und die Verwirklichung des Gleichbehandlungsgrundsatzes jeweils schon für den Zugang zur Erwerbstätigkeit.[6]

Die scheinbare Entpflichtung jener Arbeitgeber, die behinderte Menschen nicht beschäftigen, verfestigt nicht nur den Status quo, sondern widerspricht auch ganz klar dem Umsetzungsauftrag des Unionsrechts und dem nationalen Umsetzungsgesetz. Auch im Hinblick auf Art. 3 lit. a) RL 2000/78/EG kann § 3a ArbStättV daher nur weit ausgelegt werden.

c)     Verstoß gegen völkerrechtliche Maßstäbe – universal design und Zugänglichkeit

Art. 27 des von Deutschland ratifizierten UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) anerkennt das Recht auf Arbeit und konkretisiert es speziell für die Situation behinderter Menschen. Die Bestimmung enthält Unterlassungs-, Schutz- und Gewährleistungsverpflichtungen, die seit der Ratifizierung auch von der Bundesrepublik zu erfüllen sind.

Zentrales Anliegen ist die Öffnung des gesamten Arbeitsmarktes für behinderte Menschen unabhängig von der Schwere ihrer Beeinträchtigung. Behinderte Menschen sollen sowohl ihren Beruf als auch ihren konkreten Arbeitsplatz in einem inklusiven Arbeitsmarkt vergleichbar nicht behinderten Menschen frei und selbstbestimmt[7] wählen können, was wiederum die Anpassung des Arbeitsmarktes an die Belange behinderter Menschen und nicht umgekehrt erfordert.[8]

Flankiert wird die Pflicht zur Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarktes durch das Verbot der Diskriminierung schon bei den Einstellungsbedingungen (vgl. Art. 27 Abs. 1 lit. a). Funktional ergänzt wird das Diskriminierungsverbot durch das Prinzip des universal design (Art. 2 Abs. 5 UN-BRK) und das Konzept der Zugänglichkeit/Barrierefreiheit (Art. 9 UN-BRK).

All diesen Grundsätzen und dem damit verfolgten Ziel, Menschen mit Beeinträchtigung die allgemeine Arbeitswelt ebenso und gleichberechtigt wie nicht beeinträchtigten Menschen zu eröffnen, liefe es diametral zuwider, die Pflicht zur barrierefreien Gestaltung und Unterhaltung von Arbeitsstätten von vornherein auf Arbeitgeber mit behinderten Beschäftigten zu beschränken.

Deutschland muss bei der Umgestaltung seiner Arbeitswelt alle Akteure und auch alle Arbeitgeber in die Pflicht nehmen. Es können nicht von vornherein gerade diejenigen ausgenommen bleiben, die bislang – egal ob zufällig oder bewusst – behinderte Menschen nicht beschäftigt haben. Die eingegangene völkerrechtliche Verpflichtung zur Öffnung des Arbeitsmarktes für Menschen unabhängig von der Schwere ihrer Beeinträchtigung muss konsequent verwirklicht werden. Widersprüchliche Normen, wie insoweit § 3a ArbStättV, zeigen, dass es nach wie vor an der nötigen Reflektion fehlt.

d)     Verstoß gegen § 81 Abs. 3 Sozialgesetzbuch (SGB) IX

Die öffentlich-rechtliche Beschäftigungsquote gemäß (gem.) § 71 SGB IX ist funktional durch verschiedene weitere Pflichten ergänzt, u. a. durch die generelle, betriebsbezogene Organisationspflicht in § 81 Abs. 3 SGB IX, die wiederum durch Ansprüche einzelner Beschäftigter gem. § 81 Abs. 4 und 5 SGB IX ergänzt werden.

Gem. § 81 Abs. 3 SGB IX stellen Arbeitgeber durch geeignete Maßnahmen sicher, dass in ihren Betrieben und Dienststellen wenigstens die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen eine möglichst dauerhafte behinderungsbedingte Beschäftigung finden kann. Solche Maßnahmen sind rechtzeitig zu treffen; sie sollen durch Integrationsvereinbarungen, aber auch durch Betriebs- und Dienstvereinbarungen präventiv vereinbart und getroffen werden.[9]

Eine Lesart des § 3a ArbStättV, zur barrierefreien Gestaltung erst bei tatsächlicher Beschäftigung behinderter Menschen verpflichtet zu sein, liefe dieser deutlich im Vorfeld liegenden präventiven Organisationspflicht deutlich zuwider. Bei der Anwendung der Normen darf davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber auf die kohärente Ausgestaltung eines Regelungsbereiches zielte.

Keinesfalls wollte er mit dem restriktiven Wortlaut des § 3a ArbStättV das gesamte Schutzsystem des Schwerbehindertenrechts (§§ 71 ff. SGB IX) verkehren. § 3a ArbStättV ist daher auch im Einklang mit der Organisationspflicht des § 81 Abs. 3 SGB IX weiter zu verstehen. Das bedeutet, dass Arbeitgeber, die keine Menschen mit Behinderungen beschäftigen, nicht dauerhaft vom Gebot der Barrierefreiheit ausgeschlossen sind. Sie sind vielmehr gem. § 81 Abs. 3 SGB IX verpflichtet, schrittweise die Arbeitsstätte anzupassen. Dazu ist eine Integrationsvereinbarung das beste Instrument.

Ein Vorbild für eine pragmatische Korrektur enthält § 15 der österreichischen ArbStättV. Neben den Anforderungen für Arbeitgeber, die Menschen mit Behinderungen beschäftigen, verlangt diese Norm, dass bei allen neu zu errichtenden Arbeitsstätten die barrierefreie Einrichtung geplant wird.


III.    Fazit

Der Verordnungsgeber wäre nicht nur gut beraten, die verunglückte Norm zu begradigen; die Pflicht der Bundesrepublik zur transparenten Umsetzung von unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. Art. 288 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) verlangt einen klar erkennbaren Normbefehl im nationalen Recht.[10] Bis zu einer Korrektur des Wortlautes müssen Verwaltungen, insbesondere Aufsichtsbehörden,[11] aber auch Gerichte entsprechend ihrer Loyalitätspflicht gegenüber dem Unionsrecht (vgl. Art. 4 Abs. 3 Vertrag über die Europäische Union im Wege der unionsrechtskonformen Anwendung und darüber hinaus im Wege der völkerrechtsfreundlichen Anwendung[12] § 3a ArbStättV weit interpretieren und dürfen seine Anwendung keinesfalls allein auf Arbeitgeber, die tatsächlich behinderte Menschen beschäftigten, begrenzen. Selbstverständlich ist auch in allen anderen Arbeitsstätten mit Hilfe der Integrationsvereinbarung ein Plan zur Herstellung effektiver Barrierefreiheit zu realisieren. Ebenso sind die Zielvereinbarungen nach § 5 Behindertengleichstellungsgesetz auszubauen (vgl. Beitrag A5-2015 Groskreutz). Langfristig sollte über die Möglichkeit zur unions- und völkerrechtskonformen Rechtsanwendung hinaus Transparenz hergestellt werden, denn der Wille zur inklusiven Gestaltung der Arbeitswelt sollte auch in hinreichend klaren Rechtsnormen zum Ausdruck kommen.

 

Fußnoten:

[1] Der Beitrag von Herrn Düwell ist bereits im Juris PraxisReport Arbeitsrecht 1/2015 erschienen.

[2] Kohte/Faber DB 2005, 224, 227; HaKo-ArbSchR/Faber ArbStättV Rn. 83 ff., KSW/Kohte § 81 Rn. 10;

[3] So HaKo-ArbSchR/Faber ArbStättV Rn. 87.

[4] Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigung vom 31.07.2013, BT-Drs. 17/14476.

[5] BVerfG, 08.10.1997, 1 BvR 9/97, E 96, 288 ff.

[6] Art. 3 lit. a) RL 2000/78/EG und § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG.

[7] Das Recht auf selbstbestimmte Lebensgestaltung („… Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen…“) ist in der UN-BRK zentral in Art. 3 lit. a) verankert.

[8] Trenk-Hinterberger in Welke, UN-BRK, Art. 27 Rn. 1 ff., 7 ff.

[9] Dazu KSW/Kohte, 3. A., §§ 81, 82 SGB IX Rn. 10.

[10] Schroeder in Streinz, AEUV, 2. A., Art. 288 Rn. 92 ff.

[11] Zur Kritik an den wenig reflektierten Leitlinien des LASI HaKo-ArbSchR/Faber ArbStättV Rn. 86.

[12] Grundlegend BVerfG, Görgülü-Beschluss, 14.10.2004, 2 BvR 1481/04, E 111, 307 = NJW 2004, 3407.


Stichwörter:

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