07.10.2020 B: Arbeitsrecht Veit et al.: Beitrag B5-2020

Die Werkstätten-Mitwirkungsverordnung nach Inkrafttreten des BTHG – Eine Bestandsaufnahme – Teil I: Ausgangssituation und Weiterentwicklung der WMVO

In dem zweiteiligen Beitrag geben die Autorin und Autoren einen Einblick in die Werkstätten-Mitwirkungsverordnung und werfen dabei rechtliche und tatsächliche Fragen auf, die sich in diesem Zusammenhang seit Einführung des Bundesteilhabegesetzes ergeben. Dabei werden auch Parallelen zu anderen Regelungswerken im Bereich der betrieblichen Mitbestimmung hergestellt.

Im ersten Beitragsteil thematisieren die Autorin und Autoren zunächst die Entstehungsgeschichte der WMVO sowie ihre Weiterentwicklung im Rahmen des BTHG. Dabei gehen sie unter anderem auf die in § 222 Abs. 5 SGB IX neu geregelten Frauenbeauftragten ein. Im Anschluss daran werden einige parallele Regelungswerke vorgestellt.

(Zitiervorschlag: Veit et al.: Die Werkstätten-Mitwirkungsverordnung nach Inkrafttreten des BTHG – Eine Bestandsaufnahme – Teil I: Ausgangssituation und Weiterentwicklung der WMVO; Beitrag B5-2020, unter www.reha-recht.de; 07.10.2020.)

I. Ausgangssituation

In Deutschland arbeiten über 300.000 Menschen mit Behinderungen in „Werkstätten für behinderte Menschen“ (WfbM). Die Träger der beinahe 700 Werkstätten mit knapp 3.000 Betriebsstätten sind in der BAG WfbM zusammengeschlossen[1]. Als auf Teilhabe am Arbeitsleben ausgerichtetes Angebot[2] standen die WfbM in der zurückliegenden Diskussion um die Schaffung eines neuen Teilhaberechts im Fokus einer kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle von Einrichtungen als Instrument der Eingliederungshilfe. Zu Recht wurde ihre Rolle wegen vielfältiger Möglichkeiten der Kontrolle und Machtausübung kritisch reflektiert. Gleichermaßen zu Recht wurde auf die Chancen zur Erbringung verlässlicher und komplexer Hilfen in einrichtungsartigen Strukturen hingewiesen. Im Ergebnis hat der Bundesgesetzgeber die bei der Teilhabe am Arbeitsleben zuvor im Vordergrund stehende Einrichtung der WfbM durch weitere Instrumente wie das Budget für Arbeit und Leistungen anderer Anbieter im Arbeits­bereich ausdrücklich ergänzt.

Menschen mit Behinderungen können in Werkstätten für behinderte Menschen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten. Machen sie von diesem Anspruch Gebrauch, erhalten sie einerseits eine Sozialleistung. Andererseits aber gehen sie – ganz im Sinne von Teilhabe – praktisch wie Arbeitnehmende arbeiten. Tatsächlich sind sie aber keine Arbeitnehmende; Werkstattbeschäftigte stehen in einem „arbeitnehmer­ähnlichen Rechtsverhältnis“[3]. Deshalb sollen sie u. a. keinen Zugang zur institutiona­lisierten Arbeitnehmervertretung in den Werkstätten haben. Ohne eine Vertretung ihrer Interessen wären die Werkstattbeschäftigten aber zusätzlich benachteiligt. Um eine solche Benachteiligung zu vermeiden (oder zumindest zu mildern), wurden Werkstatt­räte geschaffen. Sie treten in den WfbM neben die Betriebsräte, Personalräte oder Mitarbeitervertretungen. Grundlage ihrer Arbeit ist die Werkstätten-Mitwirkungsverord­nung (WMVO). Damit kommt es in den WfbMs zu einer aufgespaltenen und gegliederten Vertretung der Interessen der Menschen, die an diesen Orten arbeiten.

Der vorliegende Beitrag[4] soll – jedenfalls auszugsweise – zeigen, welche Fragestellungen aktuell rund um die WMVO bestehen. Diese sind zum Teil rechtsdogmatischer Natur, zum Teil verhandeln sie aber auch die konkrete praktische Umsetzung der Vorgaben in den WfbM. Vor diesem Hintergrund und nicht zuletzt auch mit Blick auf die mit dem Bundesteilhabegesetz einhergehenden Änderungen haben sich die Autorin und Autoren dieses Beitrags auf den Weg gemacht, einen neuen Kommentar zur WMVO zu publizieren. Dieser ist in diesem Jahr im Lebenshilfe-Verlag erscheinen und vertieft die hier angerissenen Fragestellungen.

II. Zur Entwicklung der WMVO

Die Frage der Mitwirkung durch die Werkstattbeschäftigten wurde seit 1980 zunächst noch in der Werkstättenverordnung (WVO) geregelt. Dessen § 14 beschränkte sich auf die Aussage, dass Menschen mit Behinderungen eine angemessene Mitbestimmung und Mitwirkung zu ermöglichen sei. Die WfbM hatten in der Folgezeit unterschiedliche Beteiligungsmodelle etabliert, die zur Entwicklung einer neuen Regelungsgrundlage später evaluiert wurden.[5] Ein daraus hervorgegangener – bereits recht weitgehender – Regelungsentwurf wurde schließlich in § 54c SchwbG, einem Vorgängergesetz des heutigen SGB IX, implementiert. In dessen Absatz 4 war nunmehr eine Verordnungs­ermächtigung für ein untergesetzliches Regelungswerk zur Mitwirkung der Werkstatt­beschäftigten vorgesehen.

Die Werkstätten-Mitwirkungsverordnung (WMVO) wurde demgemäß als Rechtsverord­nung vom damaligen Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (heute: Bundes­ministerium für Arbeit und Soziales – BMAS) auf Grundlage der in § 144 Abs. 2 SGB IX a. F. verankerten Verordnungsermächtigung am 25. Juni 2001 erlassen.[6] Der Bundesrat hat am 2. Juni 2001 seine Zustimmung erteilt.[7] Die Verordnungsermächtigung ist heute in § 227 SGB IX geregelt.

1. Erweiterung von Beteiligungsrechten

Die WMVO gestaltet in der Sache die heute in § 222 SGB IX geregelten Grundsätze über die Mitwirkung und Mitbestimmung der Werkstattbeschäftigten aus.

Nach dessen Absatz 1 bestimmen und wirken die in § 221 Abs. 1 SGB IX genannten Menschen mit Behinderungen (Werkstattbeschäftigte) unabhängig von ihrer Geschäfts­fähigkeit durch Werkstatträte in den ihre Interessen berührenden Angelegenheiten der Werkstatt mit. Der § 222 Abs. 2 SGB IX bestimmt, dass ein Werkstattrat in allen Werk­stätten gewählt wird und sich dieser aus mindestens drei Mitgliedern zusammensetzt. § 222 Abs. 3 SGB IX regelt die Wahlberechtigung: Wahlberechtigt zum Werkstattrat sind alle in § 221 Abs. 1 genannten Werkstattbeschäftigten; von ihnen sind die behinderten Menschen wählbar, die am Wahltag seit mindestens sechs Monaten in der Werkstatt beschäftigt sind.

Im Zuge des seit dem 1. Januar 2017 stufenweise inkrafttretenden Bundesteilhabe­gesetzes[8] (BTHG) neu hinzugekommen ist der sich der Frauenbeauftragten widmende § 222 Abs. 5 SGB IX, wonach weibliche Werkstattbeschäftigte im Sinne des § 221 Abs. 1 SGB IX in jeder Werkstatt eine Frauenbeauftragte und eine Stellvertreterin wählen. Die WMVO wurde gleichzeitig um entsprechende Regelungen ergänzt.

Neben der Einführung der Frauenbeauftragten wurden insbesondere auch die Rechte der Werkstatträte erweitert. So sieht § 5 WMVO in dessen Absatz 2 erstmalig auch Mitbestimmungsrechte vor, die – je nach Fallkonstellation – mit einer Letztentscheidungs­befugnis der im Streitfall zu bildenden Vermittlungsstellen einhergeht.[9] Damit wurden die Rechte des Werkstattrats an die Rechte des Betriebsrats angenähert.[10]

Die WMVO enthält insgesamt sechs Abschnitte. Abschnitt 1 widmet sich dem Anwen­dungsbereich der WMVO sowie der Errichtung, Zusammensetzung und den Aufgaben des Werkstattrats. Abschnitt 2 regelt die Wahl des Werkstattrats. Er gliedert sich in drei Unterabschnitte, die (1) die Wahlberechtigung, Wählbarkeit und den Zeitpunkt der Wahlen, (2) die Vorbereitung der Wahlen sowie (3) deren Durchführung regeln. Abschnitt 3 betrifft die Amtszeit, Abschnitt 4 die Geschäftsführung des Werkstattrats. Der neu eingefügte Abschnitt 4a widmet sich der Frauenbeauftragten und den Stellvertrete­rinnen. Die WMVO endet mit den Schlussvorschriften (Abschnitt 5).

2. Parallele Regelungswerke

Die WMVO ist in großen Teilen anderen Regelungswerken zur Arbeitnehmer-Mitbestimmung nachgebildet. Diverse Parallelen finden sich zum Betriebsverfassungs­gesetz (BetrVG) und den Personalvertretungsgesetzen[11], welche die Mitwirkung und Mitbestimmung des Betriebsrats bzw. des Personalrats regeln. Auch die auf Grundlage des BetrVG erlassene Wahlordnung war Vorbild für einige der in der WMVO enthaltenden Regelungen. Ähnliches gilt für die Vorschriften der Wahlordnung Schwerbehindertenvertretung (SchwbVWO). Die Parallelen und Unterschiede zwischen der WMVO und den eben genannten Regelungswerken sind nicht nur von akademi­schem Interesse. Sie sind gleichzeitig auch Erkenntnisquelle bei der Auslegung der WMVO.

Der § 227 Abs. 2 S. 3 SGB IX ermächtigt den Verordnungsgeber, die Möglichkeit vor­zusehen, dass Religionsgemeinschaften eine andere – gleichwertige – Regelung treffen. Hiervon wurde in § 1 Abs. 2 WMVO Gebrauch gemacht. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat auf dieser Grundlage die Diakonie-Werkstätten-Mitwirkungs­verordnung (DWMV) erlassen, im Bereich der katholischen Kirche findet die Caritas-Werkstätten-Mitwirkungsverordnung (CWMO) Anwendung. Beide Regelungswerke weisen große Ähnlichkeiten mit der WMVO auf, enthalten zum Teil aber auch ab­weichende Vorgaben. Die Gliederung der beiden kirchlichen Regelungswerke ist der der WMVO ähnlich, aber nicht identisch. Insgesamt ähnelt vor allem die CWMO stark der WMVO.

Beitrag von Rechtsanwältin Carola Veit, Richter Dr. Kilian Ertl, Rechtsanwalt Prof. Dr. Dr. Christian Bernzen, Rechtsanwalt Ansgar Dittmar

Fußnoten

[1] S. https://www.bagwfbm.de/page/24.

[2] S. § 56 i. V. m. § 49 SGB IX.

[3] Vgl. § 221 Abs. 1 SGB IX.

[4] Zu Teil 2 des Beitrags vgl. Veit et al., Die Werkstätten-Mitwirkungsverordnung nach Inkrafttreten des BTHG – Eine Bestandsaufnahme – Teil II: Ausgewählte Rechts- und Praxisfragen; Beitrag B6-2020 unter reha-recht.de, 12.10.2020.

[5] Cramer, Werkstätten für behinderte Menschen, 5. Aufl. 2009, Vor § 1 WMVO Rn 4 f.

[6] Bundesgesetzblatt, BGBl. I, S. 1297.

[7] Bundesrats-Drucksache 378/01.

[8] Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen v. 23.12.2016, BGBl. I, S. 3234.

[9] Zum Beispiel bestand nach der WMVO in der Fassung vom 25.06.2001 für die Regelung des Fahrdienstes ein Mitwirkungsrecht (s. Nebe/Ulmer: Zumutbarkeitsgrenzen für die tägliche Fahrzeit in die Werkstatt für behinderte Menschen; Beitrag A5-2016 unter reha-recht.de; 15.12.2016, S. 5). Dieses Mitwirkungsrecht wurde mit der WMVO vom 23.12.2016 zu einem Mitbestimmungsrecht.

[10] Zur den Neuregelungen und ihrer Umsetzung, s. Schachler/Schreiner und Schachler/Nachtschatt/Schreiner: Mitbestimmung light? Die Reform der Werkstätten-Mitwirkungs­verordnung durch das Bundesteilhabegesetz – Teil I–III; Beiträge B2-, B3- und B5-2017 unter reha-recht.de; 26.04. und 28.04.2017 sowie 17.10.2019; Schachler: Die Umsetzung der reformierten Werkstätten-Mitwirkungsverordnung aus Sicht der Beteiligten – Ergebnisse aus Gruppendiskussionen – Teile I und II; Beiträge B6-2018 und B7-2018 unter reha-recht.de; 18.10. und 24.10.2018.

[11] Insoweit bestehen diverse landesrechtliche Regelungen und für den Bund das Bundes­personalvertretungsgesetz (BPersVG).


Stichwörter:

Bundesteilhabegesetz (BTHG), Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM), Werkstattrat, Mitbestimmungsrechte, Werkstätten-Mitwirkungsverordnung (WMVO)


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