08.09.2022 B: Arbeitsrecht Rabe-Rosendahl: Beitrag B7-2022

Pflicht zur behinderungsgerechten Beschäftigung auch in der Probezeit – Anmerkung zu EuGH-Urteil v. 10. Februar 2022, Az. C-485/20 (HR Rail SA)

Die Autorin bespricht eine Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Pflicht zur behinderungsgerechten Beschäftigung nach Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG. Der Gerichtshof stellt in seinem Urteil heraus, dass diese Arbeitgeberpflicht gegenüber behinderten Beschäftigten auch bereits während einer Probezeit besteht und beispielsweise eine Versetzung des behinderten Menschen auf einen anderen, behinderungsgerechten Arbeitsplatz bedeuten kann. Die Autorin begrüßt dieses Urteil und setzt sich ausführlich mit den verschiedenen Verfahrensschritten der Arbeitgeberpflicht auseinander.

(Zitiervorschlag: Rabe-Rosendahl: Pflicht zur behinderungsgerechten Beschäftigung auch in der Probezeit – Anmerkung zu EuGH-Urteil v. 10. Februar 2022, Az. C-485/20 (HR Rail SA); Beitrag B7-2022 unter www.reha-recht.de; 08.09.2022.)

I. Thesen der Autorin

  1. Die Suche nach einer geeigneten angemessenen Vorkehrung zur behinderungsgerechten Beschäftigung steht als Verfahrensplicht in untrennbaren Zusammenhang mit der Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen.
  2. Der individuelle Charakter einer jeden Vorkehrung als Überwindung einer individuellen Barriere kann die Beteiligten bei der Suche vor Herausforderungen stellen. Daher ist die Einbeziehung auch externen Sachverstandes wichtig.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Die innerbetriebliche Versetzung auf einen behinderungsgerechten Arbeitsplatz kann eine angemessene Vorkehrung darstellen.
  2. Die Pflicht des Arbeitgebers zur Vornahme angemessener Vorkehrungen für behinderte Beschäftigte besteht auch bereits während einer Probezeit.

III. Der Sachverhalt

Der Kläger des Ausgangsverfahrens wurde von der HR Rail (belgische Eisenbahn) als Facharbeiter für die Wartung und Instandhaltung der Schienenwege im November 2016 eingestellt. Während der Probezeit wurde beim Kläger im Dezember 2017 eine Herzerkrankung diagnostiziert, die das Einsetzen eines Herzschrittmachers erforderlich machte. Der Herzschrittmacher reagiert empfindlich auf elektromagnetische Felder, die u. a. auch in Gleisanlagen verbreitet auftreten. Bei seiner Tätigkeit als Wartungs- und Instandhaltungsfacharbeiter auf Schienenwegen würde er jedoch wiederholt elektromagnetischen Feldern ausgesetzt, so dass er die Aufgaben nicht länger wahrnehmen konnte. Im Juni 2018 wurde eine Behinderung von den zuständigen Behörden anerkannt. Das Regionale Zentrum für Verwaltungsmedizin, welches mit der Beurteilung der medizinischen Eignung der Eisenbahnbediensteten betraut war, bestätigte, dass der Kläger die Funktionen, für die er eingestellt worden war, nicht mehr ausführen konnte, jedoch auf einem anderen Arbeitsplatz ohne Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern arbeiten könne. Der Kläger arbeitete daraufhin als Lagerist innerhalb des Unternehmens.

Ende September 2018 wurde der Kläger entlassen. Der Arbeitgeber erklärte, dass für behinderte Bedienstete in der Probezeit im Gegensatz zu endgültig eingestellten Bediensteten keine Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz vorgesehen sei. Hiergegen erhob der Kläger beim Conseil d`État (Staatsrat, Belgien) Klage auf Nichtigerklärung der Entlassungsentscheidung.

In der belgischen Rechtsprechung wird die Frage, ob unter „angemessene Vorkehrungen“ im Sinne von Art. 5 der Rahmenrichtlinie 2000/78/EG auch die Möglichkeit zu verstehen ist, eine Person, die aufgrund ihrer Behinderung nicht mehr in der Lage ist, die gleiche Tätigkeit auszuüben wie vor dem Eintritt ihrer Behinderung, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, uneinheitlich beurteilt. Der Conseil d`État beschloss daher, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 5 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass ein Arbeitgeber verpflichtet ist, einer Person, die aufgrund ihrer Behinderung nicht mehr in der Lage ist, die wesentlichen Funktionen ihres bisherigen Arbeitsplatzes zu erfüllen, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, für den sie die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist, sofern eine solche Maßnahme keine übermäßige Belastung für den Arbeitgeber darstellt?

Zum besseren Verständnis wird hier noch einmal Art. 5 RL 2000/78/EG abgedruckt:

Angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung

Um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, sind angemessene Vorkehrungen zu treffen. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Diese Belastung ist nicht unverhältnismäßig, wenn sie durch geltende Maßnahmen im Rahmen der Behindertenpolitik des Mitgliedstaates ausreichend kompensiert wird.

IV. Die Entscheidung

Der EuGH stellte zunächst fest, dass die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG auch auf Beschäftigte, die zur Probe eingestellt sind, anwendbar ist. Unter Heranziehung des Arbeitnehmerbegriffs des Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der dem Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 2000/78/EG entspricht, betonte der Gerichtshof, dass diese auch Personen erfasse, die einen Vorbereitungsdienst ableisten oder in einem Beruf Ausbildungszeiten absolvieren, sofern sie hierbei in einem Lohnverhältnis stünden und weisungsabhängig seien. Dass der Kläger zum Zeitpunkt seiner Entlassung noch kein endgültig eingestellter Bediensteter gewesen sei, führe nicht dazu, dass seine berufliche Situation vom Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG ausgenommen sei.

Zur Beantwortung der Vorlagefrage verweist der Gerichtshof auf Art. 5 der Richtlinie, welcher vorsieht, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zur behinderungsgerechten Beschäftigung zu ergreifen hat, es sei denn, diese Maßnahmen würden ihn unverhältnismäßig belasten. Dabei sei jeweils die individuelle Situation zu berücksichtigen. Der Begriff der Vorkehrungen sei hierbei im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) weit auszulegen, d. h. der Begriff umfasse die Beseitigung der verschiedenen Barrieren, die die volle und wirksame Teilhabe der Menschen mit Behinderungen am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, behindern. Daher könne es im Rahmen „angemessener Vorkehrungen“ i. S. v. Art. 5 RL 2000/78 eine geeignete Maßnahme darstellen, einen Arbeitnehmer, der wegen des Entstehens einer Behinderung für seinen Arbeitsplatz endgültig ungeeignet geworden ist, an einem anderen Arbeitsplatz einzusetzen.

V. Würdigung/Kritik

In der deutschen Diskussion wird das Urteil hauptsächlich im kündigungsrechtlichen Zusammenhang diskutiert. In der Entscheidung des EuGH liegt der Schwerpunkt jedoch aufgrund der Vorlagefrage des belgischen Gerichts auf der vorgelagerten Frage des Umfangs der Arbeitgeberpflicht zur Vornahme angemessener Vorkehrungen zur behinderungsgerechten Beschäftigung. Natürlich hat dieser Aspekt auch Auswirkungen auf das Kündigungsrecht: Wenn ein Arbeitgeber seiner Pflicht zu angemessen Vorkehrungen nicht nachkommt, kann eine Kündigung diskriminierend i. S. d. Art. 2, 5 der Richtlinie (im deutschen Recht: §§ 1, 7 AGG) und somit unwirksam sein.[1] Hier soll auf die kündigungsrechtlichen Fragen ebenfalls nicht eingegangen werden, sondern die Arbeitgeberpflicht zu angemessenen Vorkehrungen zur behinderungsgerechten Beschäftigung im Fokus stehen.

Der EuGH hat mit seiner Entscheidung HR Rail seine Präzisierung der Auslegung sowohl von Art. 5 RL 2000/78/EG und des Begriffes der möglichen Vorkehrungen als auch des Anwendungsbereichs fortgeführt.[2] Auch wenn es sich hierbei um die Vorlage eines belgischen Gerichtes handelt, hat die Entscheidung eine praktische Relevanz auch für das deutsche Recht. Im Folgenden soll daher dargestellt werden, was genau die Pflicht des Arbeitgebers im Hinblick auf die Gewährleistung eines behinderungsgerechten Arbeitsplatzes umfasst.

Im deutschen Recht ist die Arbeitgeberpflicht zur Vornahme angemessener Vorkehrungen aus Art. 5 RL 2000/78/EG für schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Beschäftigte in § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 4 und Nr. 5 SGB IX geregelt. Für behinderte Beschäftigte ohne Schwerbehinderungs- oder Gleichstellungsstatus ergibt sich der Anspruch auf einen behinderungsgerechten Arbeitsplatz aus § 241 Abs. 2 BGB.[3]

1. Pflicht zur Vornahme angemessener Vorkehrungen auch während der Probezeit

In seiner Entscheidung betont der EuGH, dass die Arbeitgeberpflicht, ggf. einen alternativen Arbeitsplatz als angemessene Vorkehrung für eine behinderte Beschäftigte bzw. einen behinderten Beschäftigten zu finden, bereits während einer Probezeit bestehe. Diese Auslegung der EuGH ist nicht überraschend; zum einen umfasst die Richtlinie explizit auch den Zugang zu beruflicher (Aus)Bildung, zum anderen betonte der EuGH bereits in einer früheren Entscheidung[4] ausführlich, dass der Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie auch Personen erfasse, die einen Vorbereitungsdient ableisten oder in einem Beruf Ausbildungszeiten absolvieren, wenn diese weisungsgebunden und in einem Lohn-/Gehaltsverhältnis erfolgen. Auch der deutschen Rechtsprechung ist eine solche Auslegung nicht fremd: Bereits 2013 hatte der 6. Senat des BAG die Pflicht des Arbeitgebers zur Beseitigung von Beschäftigungshindernissen eines behinderten Menschen durch angemessene Vorkehrungen während der kündigungsrechtlichen Wartezeit bejaht.[5] Dementsprechend gilt auch während der ersten sechs Monate: Nur für den Fall, dass keine andere Einsatzmöglichkeit oder eine andere angemessene Vorkehrung gefunden werden kann, ist eine Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses nicht diskriminierend. [6]

2. Arten von Vorkehrungen

Da sich die Rechtsprechung sowohl auf europäischer – wie im vorliegenden Fall – als auch auf nationaler Ebene immer wieder mit der Frage beschäftigt, was als eine geeignete Vorkehrung in Frage kommt, sollen hier einige Möglichkeiten einer behinderungsgerechten Beschäftigung vorgestellt werden. Der individuelle Charakter einer jeden Vorkehrung als Überwindung einer individuellen Barriere steht einer enumerativen Aufzählung, nicht jedoch systematisierenden Überlegungen entgegen.

a) weite Auslegung des Arbeitsplatzbegriffes

Der Begriff „Arbeitsplatz“ ist im Sinn der Rahmenrichtlinie weitauszulegen, d. h. die Schaffung eines behinderungsgerechten Arbeitsplatzes meint hierbei nicht allein den physischen Arbeitsplatz. Erwägungsgrund 20 der Rahmenrichtlinie konkretisiert hierfür Anhaltspunkte:

Es sollten geeignete Maßnahmen vorgesehen werden, d. h. wirksame und praktikable Maßnahmen, um den Arbeitsplatz der Behinderung entsprechend einzurichten, z. B. durch eine entsprechende Gestaltung der Räumlichkeiten oder eine Anpassung des Arbeitsgeräts, des Arbeitsrhythmus, der Aufgabenverteilung oder des Angebots an Ausbildungs- und Einarbeitungsmaßnahmen. (Hervorhebung durch die Autorin)

Insofern meint der Begriff Arbeitsplatz i. S. d. Richtlinie die Arbeitsbedingungen im umfassenden Sinn.[7] Die Pflicht des Arbeitgebers umfasst somit die Beseitigung der verschiedenen Barrieren, die die volle und wirksame Teilhabe der Menschen mit Behinderungen am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, behindern.[8]

b) Formen und Kategorien von Vorkehrungen

Vorkehrungen lassen sich z. B. anhand der folgenden Kriterien unterscheiden:[9]

  • Vorkehrungsform: physische Anpassungen inklusive baulichere und technischer Maßnahmen sowie anderweitige Arbeitsbedingungsanpassungen;
  • einmalige Investitionen und dauerhafte Maßnahmen;
  • Ansatz der Vorkehrung: direkt an der behinderten Person ansetzende Maßnahmen (z. B. persönliche Hilfsmittel) und die Arbeitsumwelt betreffende Maßnahmen (Anpassung der Arbeitsorganisation, Sensibilisierungsmaßnahmen usw.) bzw. Kombinationsvarianten.

Eine weitere Möglichkeit ist die Einordnung in eine oder mehrere der folgenden, nicht abschließenden Kategorien:[10]

Physische Anpassungen des Arbeitsplatzes/Arbeitsgeräts/Arbeitsstätte

z. B. elektrische Türöffner, ergonomische Arbeitstische, taktile Leitsysteme, Tageslichtbeleuchtung, Fahrstühle und Rampen

(technische) Arbeitshilfen

z. B. elektronische Sprachdialogsysteme, Braille-Tastaturen, Stimmverstärker, Lesemasken

Assistenzen

z. B. kollegiale oder externe Assistenzen

Anpassung der Arbeitsorganisation

  • Arbeitszeit (z. B. Teilzeit-[11] und Gleitzeit, flexible Arbeitszeitregelungen, aber auch Pausenzeiten, Freistellung für Ärzt:innenbesuche oder ambulante Reha-Maßnahmen, Befreiung von Nachtarbeit oder Rufbereitschaft[12], Beschränkung auf eine Fünf-Tage-Woche[13]),
  • Arbeitsrhythmus (z. B. Arbeitstakt, Arbeitsgeschwindigkeit, Befreiung von Schichtarbeit[14])
  • Arbeitsort (z. B. Homeoffice,[15] räumliche Umsetzung),
  • Arbeitsaufgaben (z. B. Anpassung der Aufgabenverteilung, Zuweisung anderen Aufgaben[16]),
  • Versetzung auf einen anderen freien Arbeitsplatz (auch mit anderem Tätigkeitsprofil sofern qualifiziert oder mit geringem Aufwand qualifizierbar)

weitere organisatorische Maßnahmen

z. B. Mentoringprogramme sowie Awarenesstrainings

Anpassungen von Vorschriften, Verfahren, Kriterien

z. B. Modifizierung von Fristen, Prüfungsordnungen, Betriebsanweisungen

(Aus-)Bildungs-/Einarbeitungs- und Qualifikationsmaßnahmen

 

3. Die Suche und Bereitstellung einer Vorkehrung

Die Pflicht des Arbeitgebers besteht aus mehreren Komponenten. Zentral ist die Umsetzung einer verhältnismäßigen, also angemessenen, Vorkehrung. Die Pflicht muss jedoch vorher ansetzen: Die Suche nach einer geeigneten Vorkehrung steht als Verfahrensplicht in untrennbarem Zusammenhang mit der Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen, denn die bzw. der Beschäftigte hat in der Regel keinen Einblick in betriebs- und unternehmensinterne Ressourcen und Möglichkeiten. Auf der anderen Seite darf eine arbeitgeberseitige Suche jedoch nicht ohne die Konsultation des behinderten Menschen stattfinden. Die oder der behinderte Beschäftigte ist selbst kompetente Expertin/ kompetenter Experte hinsichtlich der Anforderungen an die Vorkehrung. Entscheidend ist somit ein kooperativer Suchprozess nach Möglichkeit unter Einbeziehung externen Sachverstandes wie z. B. durch Reha-Träger oder das Inklusions-/Integrationsamt, wie es im deutschen Recht bereits die beiden Verfahren nach § 167 SGB IX[17] vorsehen. So gibt es eine Fülle behinderungskompensierender Technologien, die nur dann genutzt werden können, wenn sie überhaupt bekannt sind.[18]

Nicht nur, da der EuGH in der hier besprochenen Entscheidung explizit hervorhebt, dass diese Arbeitgeberpflicht auch bereits während einer Probezeit besteht, ist die Rechtsprechung des BAG hinsichtlich der Pflicht zur Durchführung eines Konfliktpräventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX als Suchverfahren für eine angemessene Vorkehrung problematisch.[19] Der achte Senat des BAG hatte 2016 entschieden, dass das Verfahren im Zeitraum der ersten sechs Monate eines Beschäftigungsverhältnisses nicht verpflichtend durchzuführen sei, da das Verfahren gerade keine angemessene Vorkehrung sei.[20] Wichtig ist jedoch an dieser Stelle zu betonen, dass – auch wenn § 167 Abs. 1 SGB IX an sich keine angemessene Vorkehrung darstellt – das Verfahren in einem notwendigen Realisierungszusammenhang zur Pflicht des Arbeitgebers, angemessene Vorkehrungen vorzunehmen, steht.[21] Da der Anspruch auf die Vorkehrung auch in dieser Zeit besteht, muss er auch das Suchverfahren – ob nun wie § 167 Abs. 1 SGB IX ausgestaltet oder ähnlich – umfassen. Denn ohne ein solches Suchverfahren wird der Arbeitgeber seiner Pflicht zur behinderungsgerechten Beschäftigung rein praktisch bereits kaum nachkommen können.

4. Grenzen der Arbeitgeberpflicht

Die Pflicht des Arbeitgebers steht in der Richtlinie wie auch im deutschen Recht unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit, d. h. die Vorkehrung muss dem Arbeitgeber zumutbar sein. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Maßnahmen zu übermäßigen Belastungen für den Arbeitgeber führen, sollten insbesondere der mit ihnen verbundene finanzielle und sonstige Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten berücksichtigt werden.[22] Im deutschen Recht können Ansprüche aus den sozialen Sicherungssystemen wie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§§ 49 ff.) durch die Rehabilitationsträger und Leistungen zur begleitenden Hilfe im Arbeitsleben durch die Integrationsämter eine entscheidende Rolle spielen. § 164 Abs. 4 Satz 2 verpflichtet daher die Bundesagentur für Arbeit und die Integrationsämter, ihre besondere Expertise und Erfahrung einzubringen, indem sie den Arbeitgeber fachkundig beraten und unterstützen.[23]

Beitrag von Dr. iur. Cathleen Rabe-Rosendahl, LL.M. (Nottingham)

Fußnoten

[1] ArbG Gelsenkichen 12.03.2019 - 5 Ca 1899/18, juris; dazu ausführlich Eberhardt: Kündigung einer Auszubildenden während der Probezeit – Anmerkung zu ArbG Gelsenkirchen, Urteil vom 12. März 2019 – 5 Ca 1899/18; Beitrag B7-2021 unter www.reha-recht.de; 07.09.2021.

[2] EuGH v. 11.04.2013 - C 335/11 und C 337/11 (HK Danmark), NZA 2013, 553 ff.; EuGH v. 11.09.2019 – C-397/18 (Nobel Plastiques Ibérica SA), Rn. 68 f.

[3] BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 ff.

[4] EuGH v. 09.07.2015 – C-229/14 (Balkaya), Rn. 50.

[5] BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372 ff.

[6] Rn. 50; so bereits auch EuGH v. 11.04.2013 – C-335/11 u.a., Rn. 66, 68.

[7] Vgl. EuGH v. 11.04.2013 - C‑335/11 u.a., Rn. 55 ff.

[8] EuGH v. 11.04.2013 - C‑335/11 u. a, Rn. 54; EuGH v. 11.09.2019 – C-397/18, Rn. 64.

[9] Pecker/Hechl, Providing reasonable accommodation for persons with disabilities in the workplace in the EU – good practices and financing schemes, KMU Forschung Austria, Austrian Institute für SME Research 2008.

[10] Die Datenbank des U.S. Job Accommodation Networks bietet eine Aufstellung von Vorkehrungsarten nach der Behinderung bzw. jeweiligen Einschränkung (auf Englisch): https://askjan.org/a-to-z.cfm, zuletzt abgerufen am 26.07.2022.

[11] EuGH v. 11. 04. 2013 – C-335/11 u.a., Rn. 55 ff.

[12] BAG v. 27.07.2021 – 9 AZR 448/20, juris, Rn. 29.

[13] BAG v. 03.12.2002 - 9 AZR 462/01 - BAGE 104, 73 ff.

[14] ArbG Hamburg v. 12.02.2020 – 17 Ca 41/19, juris; m. Anm. Kohte, jurisPR-ArbR 6 /2020 Anm. 2.

[15] Kombination aus Heim- und Betriebsarbeit: LAG Niedersachsen v. 06.12.2010 – 12 Sa 860/10, juris, m. Anm. Beyer, juris PR-ArbR 19/2011 Anm. 4.

[16] EuGH v. 11.09.2019 – C-397/18, Rn. 68 f.

[17] Die Konfliktprävention nach § 167 Abs. 1 SGB IX findet auf schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Beschäftigte Anwendung; das Betriebliche Eingliederungsmanagement nach § 167 Abs. 2 SGB IX gilt dagegen für alle Beschäftigten.

[18] Dazu umfassend Bundestagsausschuss für Bildung, Forschung und Technologiefolgenabschätzung: Chancen und Perspektiven behinderungskompensierender Technologien am Arbeitsplatz, Bundestags-Drucksache 16/13860.

[19] So auch Düwell, PersR 4/2022, 40 f.

[20] BAG v. 21.04.2016 – 8 AZR 402/14, Rn. 27, juris; kritisch zu dieser Entscheidung: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann/Kohte, 7. Aufl. 2021, SGB IX § 167 Rn. 9; Wietfeldt, SAE 2017, 22 (29); Schmitt, BB 2017, 2293 (2298).

[21] Auch gibt es im dt. Recht eine überzeugende Argumentation für eine solche Pflicht innerhalb der Wartezeit, denn eine Verknüpfung von § 167 Abs. 1 SGB IX mit §§ 1, 23 KSchG ist gerade nicht gesetzlich vorgesehen. Ausführlich: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann/Kohte, 7. Aufl. 2021, SGB IX § 167 Rn. 9; ErfK/Rolfs, § 167 SGB IX, Rn. 1.

[22] Ausführlich hierzu: Faber/Rabe-Rosendahl in Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX, § 164 Rn. 60 ff.

[23] Hauck/Noftz-Gutzlerr, § 164 Rn. 46; GK-SGB IX-Spiolek, § 164 Rn. 400 ff.


Stichwörter:

Angemessene Vorkehrungen, Behinderungsgerechte Beschäftigung, Behinderung, Chancengleiche Teilhabe, Diskriminierung, Probezeit


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