10.12.2019 C: Sozialmedizin und Begutachtung Linden et al.: Beitrag C3-2019

Sozialmedizinische Aufgaben in der Richtlinienpsychotherapie

In der “Richtlinienpsychotherapie” werden wegen der organisatorischen und rechtlichen Vorgaben mit Antragsverfahren, Begutachtung, Bewilligung und Kontingentbegrenzungen im Wesentlichen nur chronische Krankheitsfälle behandelt. Diese Patienten leiden nicht nur unter der Krankheitssymptomatik im engeren Sinne, sondern regelhaft auch unter Fähigkeitseinschränkungen und Teilhabebeeinträchtigungen.

Daher muss die Behandlung nicht nur symptom-, sondern auch fähigkeits- und teilhabeorientiert ausgerichtet sein. Letzteres erfordert, dass Richtlinienpsychotherapeuten auch gute Kenntnisse bezüglich der sozialmedizinischen Behandlungsoptionen haben und diese kundig im Interesse ihrer Patienten zur Anwendung bringen müssen.

Es wird eine Übersicht über die einschlägigen sozialmedizinischen Interventionsmöglichkeiten gegeben.

(Zitiervorschlag: Linden/Schymainski/Solvie: Sozialmedizinische Aufgaben in der Richtlinienpsychotherapie, Beitrag C3-2019 unter www.reha-recht.de; 10.12.2019)

I. Teilhabeprobleme bei psychischen Störungen

Psychische Störungen sind ihrer Natur nach zu einem wesentlichen Teil Langzeit­erkrankungen, seien es hirnorganische Störungen, Suchterkrankungen, schizophrene Psychosen, viele depressive, somatoforme und Angsterkrankungen oder Persönlich­keitsstörungen. Sie beeinträchtigen auch regelhaft die Fähigkeit zur Lebensbewältigung. Ein Beispiel sind Einschränkungen in der Arbeitsfähigkeit. Laut Sachverständigenrat der Bundesregierung (2015) sind psychische Erkrankungen der zweihäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit (AU). Ebenso leiden diese Patienten auch unter Problemen mit der Teilhabe am sonstigen sozialen Leben im Sinne von Beziehungsproblemen, Schwierig­keiten im Umgang mit Kollegen oder einem eingeschränkten sozialen Netz (Muschalla & Linden, 2011 a, b). Nach dem § 2 Abs. 1 SGB IX ist von einer Behinderung zu sprechen, wenn „körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen“ vor­liegen, die die betroffenen Menschen „in Wechselwirkung mit einstellungs- und umwelt­bedingten Barrieren an der gleichberechtigen Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“. Die meisten psychischen Störungen sind nach dieser Definition des SGB IX als „Behinderung“ zu verstehen. Dies hat unmittelbare therapeutische Konsequenzen. In der Behandlung dieser Patienten genügt es nicht, sich nur mit der Krankheitssymptomatik im engeren Sinne zu befassen. Es bedarf ebenso Maßnahmen zur Förderung der Teilhabe in allen Lebensbereichen.

II. Richtlinien- und Rehabilitationspsychotherapie

Die Richtlinienpsychotherapie ist eine organisatorische Variante der Psychotherapie, neben vielen anderen (G-BA, 2018). Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die Versicher­ten einen Antrag stellen müssen, der von einem therapeutischen Bericht begleitet sein muss, der wiederum von den Krankenkassen einem Gutachter zur Indikations-, Zweck­mäßigkeits- und Wirtschaftlichkeitsprüfung vorgelegt wird und für die dann ein von Beginn an begrenztes Stundenkontingent bewilligt wird, was bedeutet, dass die Behand­lung danach abgeschlossen werden muss, unabhängig vom Krankheitsstatus des Patienten. Dies ist ethisch, juristisch, wie auch therapeutisch, nur bei chronischen Erkrankungen erlaubt (Linden, 2016). Die formale Organisation der Richtlinien­psychotherapie ist zudem identisch mit den Regularien, wie sie auch bei der Einleitung und Durchführung einer stationären Rehaleistung gelten. Sie ist zu unterscheiden von der allgemein- oder fachärztlichen Psychotherapie im Rahmen der Grundversorgung, die Patienten direkt und ohne Beantragung und ohne zeitliche Begrenzung in Anspruch nehmen können. Alleine schon aus diesen Formalien ergibt sich, dass die Richtlinien­psychotherapie zu einem wesentlichen Teil als Rehabilitationsleistung zu verstehen ist. Dies ist unabhängig davon, wer der Leistungsträger ist (Linden, 2008, 2009). Im § 42 Abs. 2 S. 5 SGB IX wird unter den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation die „Psychotherapie als ärztliche und psychotherapeutische Behandlung“ aufgeführt.

III. Aufgaben der Rehabilitationspsychotherapie

Aus dieser Sichtweise heraus ergeben sich für die Rehabilitationspsychotherapie und in wesentlichen Teilen auch die Richtlinienpsychotherapie unter einer ganzheitlichen, bio-psycho-sozialen Perspektive in Anlehnung an das SGB IX und die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, WHO 2001) mehrere Aufgaben. Dies sind die Behandlung bzw. Beeinflussung von

a) Körperfunktionsstörungen (d. h. Krankheitssymptomen), z. B. durch Angstabbau oder Modifikation dysfunktionaler Kognitionen.

b) Fähigkeitseinschränkungen, z. B. durch ein Training sozialer, kommunikativer oder lebenspraktischer Fähigkeiten.

c) Kontextbarrieren, z. B. durch eine Beeinflussung von Ressourcen (z. B. Familien­therapie, berufliche Hilfen, Unterstützung bei der Krankheits- und Behinderungs­verarbeitung)

In der psychotherapeutischen Fallbeschreibung kann beispielsweise die in der Verhaltens­therapie durchgeführte Verhaltensanalyse als ein Konzept zur Beschreibung dieses mehrdimensionalen Modells verstanden werden (Bördlein 2016). Es werden intrapsychi­sche Prozesse, Fähigkeiten und Kontextbedingungen in Wechselwirkung miteinander erfasst, um ein Störungsverständnis zu erarbeiten, das dann auf allen angesprochenen Ebenen auch Therapieansätze bietet. Bei chronischen psychischen Erkrankungen ergibt sich daraus ein „Behinderungsmodell“ und eine behinderungsorientierte Psychotherapie beispielsweise in Anlehnung an das SOC-Modell von Baltes & Baltes (1989). Es wird versucht, sich ressourcenorientiert auf die vorhandenen Stärken zu konzentrieren (S = Selektion), diese gegebenenfalls auch noch zu verbessern (O = Optimierung) und für nicht veränderbare Defizite kompensatorische Strategien zu entwickeln (C = Kompensation).

Nur psychotherapeutische Interventionen können eine solche „multiaxial orientierte Therapie“ umfassend realisieren. Daher müssen Psychotherapeuten auch diese erwei­terten Therapieansätze in ihren Behandlungsplänen mitbedenken. Approbierte Thera­peuten sind dafür verantwortlich, dass derartige Maßnahmen initiiert werden, wenn es im Interesse des Patienten geboten ist, auch wenn sie dazu mit anderen Leistungs­erbringern zusammenarbeiten müssen. Gerade was sozialmedizinische Maßnahmen angeht, wurden Psychotherapeuten in letzter Zeit neue Kompetenzen und Aufgaben zugesprochen, wie beispielsweise die Verordnung von Soziotherapie, Krankenfahrten oder Krankenhauseinweisungen, sowie der Einleitung von Rehabilitationsleistungen (BMG 2017).

IV. Sozialmedizinische Interventionen in der Richtlinienpsychotherapie

Die Tabelle 1 gibt eine Auflistung, was an sozialmedizinischen Interventionen bei der Behandlung chronisch psychischer Störungen mit Teilhabeeinschränkungen zu bedenken und ggf. für den Patienten nutzbringend einzusetzen ist. Dies sind Kooperationen mit den verschiedenen Verwaltungen der Leistungsträger, seien es die Krankenkassen, die Rentenversicherungsträger oder die Bundesagentur für Arbeit. Dies umfasst die Hinzu­ziehung von Spezialisten unterschiedlicher Art, seien es Fachärzte, sozialpsychiatrische Dienste, Schuldenberater oder die Einleitung stationärer Behandlungen. Wichtig sind auch komplementäre Unterstützungsangebote, wie beispielsweise von Suchtberatungsstellen oder Stressmanagementkurse. Zudem gibt es eine Reihe von Hilfen hinsichtlich der Alltagsbewältigung, wie Wohnhilfen. Wichtig ist die Förderung der beruflichen Teilhabe mit einem weiten Spektrum an Maßnahmen durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Schließlich sind auch noch Hilfen zur Verbesserung der Lebensqualität zu nennen, wie Kontakte zu Sportvereinen.

Zusammenfassend gilt, dass die Fokussierung auf eine Behandlung von Krankheits­symptomen und -prozessen in der Richtlinienpsychotherapie nicht ausreichend ist. Um einen nachhaltigen Erfolg der Therapieergebnisse zu gewährleisten, ist die Diagnostik und Behandlung nach dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF notwendig. Die Nutzung sozialmedizinischer Interventionsoptionen ist bei der Behandlung chronischer Krankheiten unerlässlich.

Tab. 1: Übersicht an sozialmedizinischen Interventionen in der Richtlinienpsychotherapie
Ambulante Hilfen und Ko-Therapeuten
  • Kontakte zu Krankenkassen-Fallmanagern
  • Kontakte zum Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK)
  • Kontakte zum Sozialpsychiatrischen Dienst (SpD)
  • Hinzuziehung Verweisung an Fachärzten oder Spezialisten
  • Hinzuziehung von Ergotherapeuten, Physiotherapeuten u. a. Co-Therapeuten
  • Verordnung von Soziotherapie
  • Kontakte zu bzw. Initiierung von Einzelfallhilfe
  • Kontakte zu bzw. Initiierung von psychiatrischer oder häuslicher Pflege
  • Kontakte zu bzw. Initiierung einer gesetzlichen Betreuung
  • Kontakte zu bzw. Verweisung an bezirkliche Beratungsstellen, Fallmanager
  •  Kontakte zu bzw. Verweisung an Sucht-, Drogenberatungsstellen
  • Kontakte zu bzw. Verweisung an Schuldnerberatung
  • Kontakte zu bzw. Verweisung an Erziehungs- und Familienberatung
  • Kontakte zu bzw. Initiierung von Familienhilfe
  • Initiierung von speziellen Kursen (Patientenschulung, Entspannung, etc.)
  • Initiierung von Teilnahme an Freizeit- oder Sportvereinen u. ä.
  • Verweisung an Selbsthilfegruppen für psychisch / Sucht-Kranke
  • Kontakte zu bzw. Hinzuziehung von Angehörigen
  • Durchführung von Hausbesuchen
Stationäre Hilfen
  • Ausstellung einer Krankentransportverordnung
  • Einleitung einer Krankenhausbehandlung
  • Antrag auf / Initiierung einer stationären medizinischen Rehabilitation
  • (Psy)IRENA
  • Antrag auf / Initiierung einer Entwöhnungsbehandlung
  • Verweis an eine Tagesstätte
  • Initiierung eines Betreuten Wohnens
  • Kontakte zu Therapeuten in Akut- oder Rehakliniken
Beruf und Wohnen
  • Veranlassung / Beantragung eines Schwerbehindertenausweises
  • Veranlassung eines Arbeitsunfähigkeits-Attests / Krankschreibung
  • Initiierung einer stufenweisen Wiedereingliederung
  • Kontakte zu Betriebsärzten / Arbeitgeber
  • Kontakte zum Betriebsrat / Schwerbehindertenvertretung / Mobbingberatung
  • Kontakte zur Bundesagentur für Arbeit
  • Einschaltung des Integrationsamtes
  • Kontakte zu bzw. Verweisung an Reha-Beratungsstellen
  • Initiierung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
  • Initiierung eines Rentenantrags

Beitrag von Prof. Dr. Michael Linden. M. Sc. Psych. David Schymainski, M. Sc. Psych. Julia Solvie

Literatur

Baltes, P. B. & Baltes, M. M. (1989). Optimierung durch Selektion und Kompensation. Zeitschrift für Pädagogik, 35, 85–105.

BMG, Bundesministerium für Gesundheit: Bekanntmachung eines Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Rehabilitations-Richtlinie: Verordnungsbefugnis von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten vom 16. März 2017. Abrufbar im Bundesanzeiger (Banz AT 15.02.2017 B2) https://www.bundesanzeiger.de/ebanzwww/contentloader?state.action=genericsearch_loadpublicationpdf&session.sessionid=49eca7b5916fcbbd25be5e57d8a11f27&fts_search_list.destHistoryId=80964&fts_search_list.selected=0b8ca55df7789370&state.filename=BAnz%20AT%2015.02.2017%20B2, abgerufen am 14.05.2019.

Bördlein, C. (2016). Einführung in die Verhaltensanalyse (behavior analysis). Alibri, Aschaffenburg

G-BA, Gemeinsamer Bundesausschuss: Richtlinie des Gemeinsamen Bundesaus­schusses über die Durchführung von Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinien) in der Fassung vom 18. Oktober 2018/21. Dezember 2018. https://www.g-ba.de/richtlinien/20, abgerufen am 02.05.2019

Linden, M. (2008). Was ist Psychotherapie gemäß SGB IX. Verhaltenstherapie, 18, 144–145.

Linden, M. (2009). Rehabilitationspsychotherapie. Definition, Aufgaben und Organisa­tionsformen nach ICF und SGB IX. Klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation, 84, 137–142.

Linden, M. (2016). Die Langzeitperspektive in der Richtlinienpsychotherapie: Rehabilita­tionspsychotherapie. Verhaltenstherapie, 26, 80–81.

Muschalla, B. & Linden, M. (2011a). Sozialmedizinische Aspekte bei psychischen Erkran­kungen. Teil 1: Definition, Epidemiologie, Kontextbedingungen und Leistungsbeurteilungen. Der Nervenarzt, 82, 917–931.

Muschalla, B & Linden, M. (2011b). Sozialmedizinische Aspekte bei psychischer Erkrankung. Teil 2: Psychische Erkrankungen im medizinischen Versorgungssystem und therapeutische Maßnahmen. Der Nervenarzt, 82, 1187–1200.

Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2015). Krankengeld – Entwicklung, Ursachen und Steuerungsmöglichkeiten. Sondergutachten. https://www.svr-gesundheit.de/index.php?id=565, abgerufen am 18.07.2019)

WHO, World Health Organization (2001). International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). Genf: WHO.

 


Stichwörter:

Richtlinien, Psychotherapie, Sozialmedizin, psychische Erkrankung, ICF, Ambulante Rehabilitation, stationäre Rehabilitation


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