24.01.2018 D: Konzepte und Politik Rambausek-Haß: Beitrag D1-2018

Tagungsbericht "Der Teilhabebericht – Konsequenzen für die Teilhabeforschung" am 10. November 2017 in Berlin

Die Autorin Tonia Rambausek-Haß fasst wesentliche Inhalte und Kommentare der Fachtagung des Aktionsbündnisses Teilhabeforschung vom November 2017 zusammen. Dort stand der zweite Teilhabebericht über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen in Deutschland im Mittelpunkt. Problemfelder der Berichterstattung seien Begrifflichkeiten und Definitionen von Teilhabe und Behinderung. Hier wurde ein wesentlicher Forschungsbedarf identifiziert. Weiterhin wurde kritisiert, dass in der Sozialberichterstattung eine Mehrfachdiskriminierung (z.B. von Menschen mit Behinderung und Migrationserfahrung) noch zu lückenhaft erfasst werde sowie viele qualitative oder regionale Studien im Teilhabebericht nicht berücksichtigt würden. Als ein weiteres Forschungsthema wurde die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen identifiziert.

(Zitiervorschlag: Rambausek-Haß, „Der Teilhabebericht – Konsequenzen für die Teilhabeforschung“ am 10. November 2017 in Berlin, Beitrag D1-2018 unter www.reha-recht.de; 24.01.2018)


Am 10. November 2017 fand die Fachtagung des Aktionsbündnisses Teilhabeforschung im Kleisthaus (Berlin) statt. Das Bündnis gründete sich im Februar 2015. Es besteht aus 140 Mitgliedern (Organisationen und Einzelpersonen). Ziele des Bündnisses sind u. a. die Profilierung der Teilhabeforschung als eigenständiger Forschungsdisziplin, Akquise von Fördermitteln, Aufbau von Forschungsprogrammen, Vernetzung und Bewusstseinsbildung.[1]

I. Einführung

Die Begrüßung und Einführung übernahm Barbara Vieweg, Sprecherin des Aktionsbündnisses und Mitglied des Deutschen Behindertenrates. Durch das Programm führte Dr. Katrin Grüber, Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft. Das Grußwort wurde stellvertretend für Verena Bentele (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen), die verhindert war, von ihrer Referentin Antonia Kremp gesprochen. Sie wies darauf hin, dass Teilhabe als Begriff noch nicht abschließend definiert und Teilhabeforschung deshalb umso wichtiger sei. Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Committee on the Rights of Persons with Disabilities – CRPD) beobachte sehr genau, was Deutschland als Vertragsstaat der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zur Verbesserung der Datenlage über Menschen mit Behinderung unternimmt. Aus diesem Grund appelliere auch der Deutsche Behindertenrat an Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft und Politik, weiter an der Umsetzung von Art. 31 UN-BRK zu arbeiten. Die Beauftragte der Bundesregierung begrüße das Engagement des Aktionsbündnisses und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) in dieser Hinsicht.

II. Aussagen und Kommentare zum zweiten Teilhabebericht

Reiner Schwarzbach (BMAS) fasste Ziele und zentrale Aussagen des zweiten Teilhabeberichts über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen in Deutschland[2] zusammen: Beispielsweise sei das Armutsrisiko chronisch kranker Menschen besonders hoch. Die schulische Inklusion von Kindern gehe nur langsam voran. Über Kinder, die ihre Eltern pflegen, wisse man nur wenig. Bei der medizinischen Versorgung im ländlichen Raum mangele es an Barrierefreiheit. Mit der Abkehr von einem defizitorientierten Behinderungsbegriff eröffneten sich neue Handlungsoptionen. Nun müssten den Rechten noch entsprechende Indikatoren zugeordnet werden können. Er wünsche sich von den Mitgliedern des Aktionsbündnisses und den Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmern Anregungen zur Verbesserung der Teilhabeberichterstattung.

Im weiteren Verlauf des Vormittags kommentierten Dr. Peter Bartelheimer (Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen), Robert Bau (Dienste für Menschen mit Behinderung Friedehorst gGmbH) und Barbara Vieweg den zweiten Teilhabebericht. Bau sprach über „Wohnen und Barrierefreiheit als Aspekte der Alltäglichen Lebensführung“ und Vieweg zum Thema „Praxisrelevanz am Beispiel Arbeit“.[3] Bartelheimer beschäftigte sich in seinem Vortrag hauptsächlich mit dem Teilhabebegriff. Dieser solle sozialrechtliche Ansprüche begründen. Hierfür müssten sich die Mitglieder einer Gesellschaft darauf einigen, wie viel Teilhabe sie sich leisten können und wollen. Problematisch sei es außerdem, eine einheitliche Definition von Teilhabe zu finden, weil der Begriff interdisziplinär und für verschiedene Handlungsfelder genutzt wird. Für die Berichterstattung über Teilhabe komme erschwerend hinzu, dass verschiedene Behinderungsbegriffe verwendet werden. Im Bericht wird hauptsächlich der Begriff „Menschen mit Beeinträchtigungen“ benutzt. Dies sind „Menschen mit anerkannter Behinderung sowie Menschen mit chronischer Erkrankung oder lang andauernden gesundheitlichen Problemen“[4]. Im sozial- oder menschenrechtlichen Kontext oder bei Verweisen auf in empirischen Erhebungen genutzte Kategorien wird sich des Terminus „Menschen mit Behinderungen“ bedient.[5]

Der Abbau von Barrieren führt Bartelheimer zufolge indes nicht immer zu mehr Teilhabe, weil sich durch die Eröffnung weiterer Möglichkeiten der Assistenzbedarf sogar erhöhen kann. Sein Vorschlag zur Verbesserung der Berichterstattung ist die Einführung neuer Teilhabedimensionen, die sich nicht an den Lebensbereichen der ICF (siehe erster Teilhabebericht[6]) orientieren, sondern an den Teilhaberessourcen vermittelnden und Lebenslagen beeinflussenden Funktionssystemen wie Arbeit, soziale Nahbeziehungen, Bildung oder das Rechtssystem.[7] Des Weiteren sei zu überlegen, ob Menschen ohne Beeinträchtigungen per se als geeignete Vergleichsgruppe für gelungene Teilhabe herangezogen werden können. Teilhabeforschung müsse in jedem Fall auch zur Begriffsklärung beitragen. Sie sei daher an den Wissenslücken in diesem Bereich auszurichten.

III. Diskussion zur Teilhabeberichterstattung

In der anschließenden Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass dringend zu § 99 BTHG geforscht werden müsse, weil der Bundestag 2023 über die Formulierung der Zugangskriterien entscheidet. Es müsse dann klar sein, wer Unterstützung benötigt und wer nicht.[8] Der Fokus der Berichterstattung dürfe außerdem nicht nur auf Erwerbseinkommen liegen, ebenso müssten auch Transferleistungen einbezogen werden. Auch sei im Bericht zu wenig über die Gelingensfaktoren der sozialen Teilhabe zu erfahren. Kritisch angemerkt wurde häufig, dass Forschung nur selten inklusiv sei.

Eine zweite Runde mit Kommentierungen zum Teilhabebericht erfolgte am Nachmittag. Es sprachen Prof. Dr. Reinhard Burtscher (Katholische Hochschule für Sozialwesen, Berlin), Christine Braunert-Rümenapf (Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung, Berlin) und Prof. Dr. Gudrun Wansing (Humboldt-Universität zu Berlin). Die Landesbeauftragte wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass es für Menschen mit Behinderungen immer noch schwierig sei, sich politisch zu beteiligen. Dies habe gravierende Folgen für die Berücksichtigung ihrer Interessen. An dieser Stelle seien Verwaltungsvorschriften auf ihr Exklusionspotential hin zu überprüfen. Wansing stellte in ihrem Vortrag die Lückenhaftigkeit der Sozialberichterstattung zum Thema Mehrfachdiskriminierung am Beispiel der Kategorien Behinderung und Migrationshintergrund heraus. So gibt es eine eigene Teilhabeberichterstattung zur Lage der Menschen mit Migrationshintergrund, die jedoch bislang nicht das Thema Behinderung berücksichtigt.[9] Zur Beantwortung vieler Fragen wäre jedoch die gleichzeitige Erfassung verschiedener Merkmale notwendig, z. B. in der Schulstatistik. Im Teilhabebericht der Bundesregierung gibt es ein Schwerpunktkapitel zum Thema Behinderung und Migrationshintergrund. Datenlücken täten sich nach Wansing jedoch u. a. bei Fragen nach der Lebenssituation von Flüchtlingen mit Behinderung sowie zu Dimensionen der Lebensführung, Gewalterfahrungen oder rechtlicher Betreuung von Menschen an der Schnittstelle von Behinderung und Migrationshintergrund auf. Es sei aus einer intersektionalen Perspektive von der Gleichzeitigkeit und wechselseitigen Verstärkung verschiedener Merkmale, aber auch von Kompensationsmöglichkeiten und der Entstehung von Resilienz im Zusammenwirken auszugehen. Bei der Teilhabeberichterstattung müsse mit Blick auf eine notwendige Komplexitätsreduktion abgewogen werden, bei wie vielen Kategorien die gleichzeitige Erfassung und Darstellung sinnvoll ist.

An die Vorträge schloss sich eine Diskussion zu verschiedenen Aspekten der Teilhabeforschung an. In dieser wurde u. a. diskutiert, dass durch Sozialleistungsträger beauftragte Forschung im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse kritisch zu sehen sei. Des Weiteren würden Studien zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nach wie vor nicht systematisch genug erfasst, z. B. in einschlägigen Datenbanken.[10] Kritisiert wurde ebenfalls, dass die Teilhabeberichterstattung repräsentativ-quantitativ ausgerichtet sei, sodass viele Studienergebnisse (qualitative oder regionale) nicht im Teilhabebericht berücksichtigt werden.

Abschließend fasste Prof. Dr. Markus Schäfers, Sprecher des Aktionsbündnisses Teilhabeforschung, die Aufgabe der Teilhabeforschung zusammen: Um Fördermittel akquirieren zu können, müsse den Förderern vermittelbar sein, was Teilhabe ist. Aus dem Publikum kam der Hinweis, dass es für gute Forschung entsprechender Strukturen (Zentren, Institute) bedürfe. Es dürfe außerdem keine reine Wirkungsforschung betrieben werden. Forschung zum Teilhabebegriff müsse des Weiteren partizipativ sein und den wissenschaftlichen Nachwuchs einbeziehen.

Beitrag von Dr. Tonia Rambausek-Haß, Humboldt-Universität zu Berlin

Fußnoten:

[1] Die Homepage des Aktionsbündnisses ist online verfügbar unter: https://teilhabeforschung.bifos.org/index.php, Informationsmaterialien zur Fachtagung können unter folgendem Link heruntergeladen werden: https://teilhabeforschung.bifos.org/index.php/veranstaltungen, zuletzt abgerufen am 23.01.2018.

[2] Der Bericht kann unter folgendem Link heruntergeladen oder bestellt werden: http://www.bmas.de/DE/Service/Medien/Publikationen/a125-16-teilhabebericht.html?nn=76078, zuletzt abgerufen am 23.01.2018.

[3] Die Vorträge von Robert Bau und Barbara Vieweg werden hier nicht wiedergegeben. Baus Vortragspräsentation ist online verfügbar (als PDF-Datei): https://teilhabeforschung.bifos.org/attachments/article/82/171109_BTB_Pr%C3%A4sentation_Wohnen_und_Barrierefreiheit_
NDR_RBA.pdf
.

[4] Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS, 2016): Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung. Bonn, S. 15 f. (BT-Drs. 18/10940).

[5] Vgl. BMAS 2016, S. 15 f.; Der wissenschaftliche Beirat führt zahlreiche Gründe an, warum „die Sprache des Berichts nicht immer trennscharf sein kann“ und „man mit Kompromissen leben“ müsse. Ein Grund ist ein sich stetig im Wandel befindlicher Behinderungsbegriff. Diesem Umstand trägt die UN-BRK in der Präambel Buchstabe e) Rechnung. Vgl. ebd., S. 34 f.

[6] Vgl. BT-Drs. 17/14476. Beim Zweiten Bericht wurden geringfügige Änderungen an der Bezeichnung der Lebensbereiche vorgenommen (vgl. BT-Drs. 18/10940).

[7] Bis auf das Rechtssystem sind alle genannten Bereiche im Teilhabebericht berücksichtigt worden.

[8] Das BMAS soll Bundestag und Bundesrat bis zum 30. Juni 2018 eine Untersuchung über die rechtlichen Wirkungen von Art. 25a § 99 BTHG auf den leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe vorlegen (Art. 25 Abs. 5 BTHG).

[9] Download des Berichts der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration unter: https://www.bundesregierung.de/Content/Infomaterial/BPA/IB/11-Lagebericht_09-12-2016.html, zuletzt abgerufen am 23.01.2018.

[10] Das REHADAT-Informationssystem verzeichnet zwar einschlägige Forschungsprojekte, allerdings mit dem Schwerpunkt Teilhabe am Arbeitsleben. Online verfügbar unter: https://www.rehadat-forschung.de, zuletzt abgerufen am 23.01.2018.


Stichwörter:

Aktionsbündnis Teilhabeforschung, Behinderungsbegriff, Teilhabebegriff, Teilhabeforschung, Teilhabe am politischen Leben, Mehrfachdiskriminierung


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