06.04.2016 D: Konzepte und Politik Weber/Giese: Beitrag D11-2016

Diskussionsveranstaltung „Forschung und Behindertenpolitik“ am 18. November 2015 in Kassel

Die Autorinnen Alexandra Weber und Maren Giese berichten von der Diskussionsveranstaltung „Forschung und Behindertenpolitik“, die der Forschungsverbund Sozialrecht und Sozialpolitik (FoSS) am 18. November 2015 in der Universität Kassel veranstaltete. Zunächst führte Verena Bentele, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, mit einem Impulsreferat über das Verhältnis von Behindertenpolitik und Forschung in das Veranstaltungsthema ein. Als die zwei wichtigsten Aspekte wurden die Bestimmung geeigneter Standorte für Studium und Forschung von behinderten Menschen sowie die Forschung über das Thema Behinderung und die Themen behinderter Menschen genannt.

Anschließend wurden ausgewählte Aktivitäten aus Forschung und Lehre der Universität Kassel vorgestellt, darunter ein Seminar zur Barrierefreiheit des Fachbereichs Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung, die Arbeit des Instituts für Sportwissenschaften sowie das Projekt „Gemeinsam in Bewegung“. Ebenso wurden das Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht sowie das Projekt „PROMI – Promotion inklusive“ vorgestellt. Abschließend kommentierte Dr. Andreas Jürgens, erster Beigeordneter des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, zum Thema aus der Perspektive der Praxis.

(Zitiervorschlag: Weber/Giese: Diskussionsveranstaltung „Forschung und Behindertenpolitik“ am 18. November 2015 in Kassel; Beitrag D11-2016 unter www.reha-recht.de; 06.04.2016)

 


Am 18. November 2015 veranstaltete der Forschungsverbund Sozialrecht und Sozialpolitik (FoSS) der Universität Kassel und der Hochschule Fulda eine Diskussionsveranstaltung zum Thema „Forschung und Behindertenpolitik“.

I. Verhältnis von Behindertenpolitik und Forschung

Eingeleitet wurde der Abend mit einem Statement von Verena Bentele (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen).

Bei ihrer Arbeit als Behindertenbeauftragte der Bundesregierung gehe es ihr im Kontext der Veranstaltung insbesondere um zwei Aspekte. Zunächst hält sie eine Standortbestimmung bei der Ermöglichung von Studium und Forschung für behinderte Menschen für unbedingt erforderlich. Ein zweites und ebenso wichtiges Thema sei aber auch die Forschung von Themen der Behinderung und behinderten Menschen. Dabei seien ein interdisziplinärer Ansatz und die Betrachtung von Behinderung aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven unabdingbar. Dies sei in Zeiten, in denen das Thema Behinderung sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft immer noch als Nischenthema behandelt wird, umso dringender geboten.

Im Hinblick auf den erstgenannten Aspekt riss Bentele folgende Thesen an: Viele Studierende haben „kaum sichtbare“ Behinderungen. Daher sollten gerade diese Studentinnen und Studenten ihre Bedarfe klar artikulieren. Ob Scham, Scheu oder falsche Bescheidenheit dazu führen, dass behinderte Studierende ihre Bedarfe oftmals nicht äußern, müssten die Beratungsstellen für Menschen mit Behinderung herausfinden. Darüber hinaus sollten auch alle weiteren Akteure, z. B. Lehrende oder Kommilitonen, dahingehend sensibilisiert werden. Denjenigen, denen ein der Behinderung entsprechender Nachteilsausgleich zuteilwird, erlebten dadurch keine Bevorzugung oder Besserstellung, sondern vielmehr einen adäquaten Ausgleich zu der mit der Behinderung einhergehenden Einschränkung. Dass es schon viel Know-how und Erfahrung vor Ort, in der Universität, gibt, werde häufig nicht gesehen. Eine Forderung an die Politik müsse deshalb auch sein, dass die Förderung von behinderten Menschen nicht nach dem ersten berufsqualifizierenden Abschluss (meist Bachelor) endet. Wichtige Expertise könne durch mangelnde Förderung von Menschen mit Behinderung verloren gehen. Allerdings sollte allen Menschen, unabhängig von einer Behinderung, individuelle Unterstützung auch im Masterstudium und in der möglicherweise folgenden Promotion gleichermaßen möglich sein. Die Universität Kassel gehe dabei an vielen Stellen mit gutem Beispiel voran, was jedoch nicht heiße, dass es keinen Verbesserungsbedarf gebe. So bietet die Universität mit der Servicestelle und dem Kompetenz-Team „Barrierefreie IT“ einen Dienst für sehbehinderte und blinde Studierende an, der ihnen durch eine entsprechende Aufbereitung der Lehrmaterialien das eigenständige Vor- und Nachbereiten von studienrelevanten Dokumenten ermöglicht.[1]

Der zweite von der Referentin als wesentlich genannte Aspekt umfasst die Erforschung von Behinderung als gesellschaftliches Thema, das alle und nicht etwa nur behinderte Menschen und Angehörige betrifft. Mit Blick auf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland scheint es noch viel Handlungsbedarf zu geben. So bemängelte Bentele die häufig unzureichende und ungenaue Datenlage und wünschte sich deshalb eine zielgenauere und bessere Datenerhebung über Behinderung.

Nicht zuletzt ihre eigenen sportlichen Erfolge zeigten, dass der Sport als gesellschaftliche Rahmeninstitution schon immer sehr aktiv im Bereich der Inklusion war und ist. Die sportliche Betätigung und Bewegung könne als positiver Verstärker für andere Bereiche dienen. Sport und Behinderung seien schon lange im wissenschaftlichen Fokus verankert, sei es im naturwissenschaftlich-technischen Bereich in der Biomechanik oder sei es sportwissenschaftlich im Hinblick auf den Leistungssport.

Schließlich wünschte sich Bentele, dass es Menschen mit Behinderung noch besser ermöglicht wird, forschend tätig zu werden. Hierbei sei es egal, ob die Forschung rund um das Thema Behinderung angesiedelt ist oder ob die forschende Person in einem inhaltlich völlig anderen Bereich tätig wird. Schließlich sollten alle unabhängig von einer Behinderung ihrer Berufung folgen können.

II. Vorstellung ausgewählter Aktivitäten in Forschung und Lehre

Im Anschluss an das Impulsreferat der Behindertenbeauftragten boten verschiedene Fachbereiche, Institute und Projekte einen interdisziplinären Einblick in die Forschung und Lehre der Universität Kassel im Hinblick auf das Thema Behinderung. Zunächst erläuterte Dipl.-Ing. Gudrun Jostes (Planungsbüro Jostes – barrierefreies Bauen) ihren Tätigkeitsbereich. Neben ihrer Tätigkeit als freie Sachverständige für barrierefreies Bauen für öffentliche und private Bauträger ist sie als Lehrbeauftragte für den Fachbereich Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung der Universität Kassel tätig. In dieser Funktion bietet sie im Fachgebiet Entwerfen und Gebäudelehre ein Blockseminar an, welches sich mit barrierefreiem Bauen beschäftigt. Im Grundlagenseminar werden rechtliche Grundlagen vermittelt und durch Selbsterfahrungen die eigene Betroffenheit erhöht. Hierzu werden sog. „Rolli-Challenges“ angeboten und mit Simulationsbrillen und Langstöcken Sinneseinschränkungen erfahrbar gemacht. Die Studierenden sollen hierdurch für den Stellenwert des barrierefreien Bauens sensibilisiert werden. Der Schwerpunkt des Basisseminars liege also in der Erkundung öffentlich zugänglicher Räume und dem Erfahren von „Aha-Erlebnissen“. Für vertiefend interessierte Studierende werde ein Aufbauseminar („Schrankenlos“) angeboten. Die überwiegend positive Resonanz auf das Angebot bestätigt die Vorstellung von Jostes, dass das Thema „barrierefreies Bauen“, wenngleich es nach wie vor als Nischenthema im Diskurs behandelt wird, dennoch zunehmend als wichtig erachtet wird. Einen Schritt in die richtige Richtung, zumindest an der Universität Kassel, sieht sie in der Verstetigung ihres Lehrangebotes. Ein Wunsch sei jedoch die stärkere Wahrnehmung der sozialen Dimension barrierefreien Bauens. Noch werde das Thema hauptsächlich nur von Betroffenen als wichtig wahrgenommen. Wünschenswert sei allerdings, dass sich barrierefreies Bauen als roter Faden durch die gesamte Universität und darüber hinaus gesamtgesellschaftlich als Thema verstetige. Ein Institut für barrierefreies Bauen wäre an der Universität Kassel ein (weiterer) Schritt in die richtige Richtung.

Im Anschluss referierten Prof. Dr. Volker Scheid und Barbara Pögl (Universität Kassel, FB Gesellschaftswissenschaften) über das Institut für Sportwissenschaften. Nachdem bundesweit lediglich 65 Institute für Sportwissenschaften existieren und das Thema Inklusion an wenigen dieser Institute eine Rolle spiele, sei umso erfreulicher, dass am Kasseler Institut für Sportwissenschaften in einem Projekt (März 2015 – März 2018) das Thema „Inklusion in der Sportlehrerausbildung“ intensiv wissenschaftlich beleuchtet wird. Derzeit befindet sich das Projekt in der Pilotphase, bei dem primär ein Lehrkonzept für Inklusion im Sportunterricht sowie die in der universitären Ausbildung regelmäßig stattfindenden Lehrerprobung entwickelt wird. Den Lehramtsstudierenden sollen Kompetenzen mit auf den Weg gegeben werden, die sie dazu befähigen, im Rahmen der inklusiven Schule Berührungsängste abzubauen und die Motivation von inklusivem Sportunterricht zu fördern. Mit einem im Wintersemester 2015/16 erstmalig stattfindenden Seminar werden die Studierenden mit dem Thema „Inklusion im Sportunterricht“ in Berührung gebracht. Dort soll primär deren Einstellung zu dem Thema herausgefiltert werden. Ferner soll zum Ende des Semesters eine mögliche Einstellungsänderung überprüft werden. Mit dem Projekt möchte das Institut für Sportwissenschaften seinen Beitrag zu Barrierefreiheit und Inklusion leisten.

Bianca Wagner und Philine Zölls (Universität Kassel, FB Humanwissenschaften) haben mit dem Projekt „Gemeinsam in Bewegung – Sport- und Bewegungsangebote für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung in der Region Kassel“[2] einen weiteren Beitrag zum Thema vorgestellt. Ziel des Projekts ist die Inklusion und Teilhabe in der Gesellschaft mithilfe des Sports. Dies soll konkret durch den Freizeitsport in der Region Kassel ermöglicht werden. Es sollen Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung geschaffen werden und Barrieren in den Köpfen abgebaut werden. Ferner werden Vereine beraten und Möglichkeiten für die ehrenamtliche Mitarbeit behinderter Menschen aufgezeigt. Das Projekt besteht aus drei wesentlichen Bausteinen: Einerseits sollen lokale Sportangebote angestoßen werden. Zweitens sollen Übungsleiter und Trainer unter anderem durch Fortbildungen konkret qualifiziert sowie bei Fragen und Unsicherheiten sensibilisiert werden. Nicht zuletzt dient das Projekt auch der Vernetzung der beteiligten Personen. Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet und durch Mittel der Aktion Mensch können 15 Sportprojekte konkret finanziell unterstützt werden.

Vom Institut für Sozialwesen präsentierte Maren Giese (Universität Kassel, FB Humanwissenschaften) das Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht (www.reha-recht.de). Das Diskussionsforum ist eine Plattform, um Informationsbedarfe bei Juristinnen und Juristen sowie anderen Akteuren aus Betrieben und Institutionen zu bedienen, die Diskussion von Rechtsfragen zu ermöglichen und so zur Klärung verschiedener Grundsatz- und Detailfragen des Rehabilitations- und Teilhaberechts beizutragen. Dazu werden verschiedene Materialien in der Infothek zur Verfügung gestellt, regelmäßig moderierte Online-Expertenrunden durchgeführt und Fachbeiträge, z. B. Urteilsanmerkungen, veröffentlicht. Auf diese Weise sollen Wissenschaft, Rechtsprechung und Rechtsanwendung verbunden werden. Lilit Grigoryan (Universität Kassel, FB Humanwissenschaften) erforscht als Promovierende der Politikwissenschaft im Rahmen des PROMI-Projektes (Promotionsstellen für schwerbehinderte Menschen)[3] die Implementation der UN-Behindertenrechtskonvention in Dänemark, Deutschland, Frankreich und Österreich und präsentierte ihr Forschungsthema.

Abschließend ergänzte Dr. Andreas Jürgens (Erster Beigeordneter Landeswohlfahrtsverband Hessen) die vorherigen Beiträge mit einem Kommentar aus der Praxis. Als ehemaliges Mitglied des hessischen Landtages und aus Sicht des Landeswohlfahrtsverbandes, eines höheren Kommunalverbands, der u. a. auch überörtlicher Träger der Sozialhilfe ist, betonte er die Bedeutung der Verzahnung von Theorie und Praxis. Es gehe darum, die Dynamiken im Laufe der Zeit und dem damit einhergehenden Wandel zu berücksichtigen. Dies gelte gleichermaßen für die Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Wissenschaft stehe ferner vor der Herausforderung, dass sie häufig den schmalen Grat zwischen reinem Erkenntnisgewinn und Fragen aus der Praxis zu überwinden habe. Dennoch sollte die wechselseitige Befruchtung von Theorie und Praxis gelten und jeder Bereich für sich seine Stärken im Fokus behalten. So gelte es, dass die Forschung ihre Unabhängigkeit bewahren solle und die Praxis dann daraus die für sie relevanten Aspekte ableiten müsse. Konkret sieht Jürgens im Bereich der zunehmenden Personenzentrierung von Leistungen zur Teilhabe eine theoretische Herangehensweise in der wissenschaftlichen Forschung im Themenkomplex Behinderung, die für die Praxis eine positive Entwicklung zur Folge hat.

Im Anschluss wurden in der Diskussion mit dem Plenum verschiedene Aspekte der Wortbeiträge noch einmal aufgegriffen und vertieft diskutiert. Dabei standen insbesondere die Themen Inklusion und Sport, die Versorgung mit Hilfsmitteln für das Studium, die Forschung und die Arbeit an der Universität und bestehende Änderungsbedarfe in der Rechtslage, aber auch konkret in der Universität und bei der Bewusstseinsbildung der Personen vor Ort im Fokus.

Bereits vor der öffentlichen Diskussionsveranstaltung hatte Verena Bentele verschiedene Einblicke in die Universität Kassel erhalten. Nach einer Begrüßung und Einführung von Prof. Dr. Andreas Hänlein (Vizepräsident, Universität Kassel) wurden verschiedene Tätigkeiten und Aktivitäten der Universität Kassel aus den Bereichen Behinderung und Studium sowie Beschäftigung behinderter Menschen vorgestellt. Dazu erläuterten Marion Schomburg, Christoph Trüper und Andrea Herfert (Universität Kassel) u. a. das Projekt „Inklusive Hochschule Hessen“[4] sowie die Servicestelle für Studium und Behinderung, die behinderte und chronisch erkrankte Studierende zu prüfungsrelevanten Nachteilsausgleichen und anderen Fragen rund um das Studium berät. Ebenso wurden die bauliche Barrierefreiheit und die Gestaltung barrierefreier Informationstechnik, insbesondere im Hinblick auf barrierefreie Lehrmaterialien, diskutiert. Dazu stellten Thomas Abel und Martin Falge (IT-Servicezentrum) ihre Tätigkeiten vor. Manuela Robrecht (Arbeitgeberbeauftragte nach § 98 SGB IX), Wilfried Diederich (Schwerbehindertenvertretung) und Prof. Dr. Felix Welti (Universität Kassel, Beauftragter für Behinderung und Studium) erläuterten für die Bundesbehindertenbeauftragte die Situation der Beschäftigung behinderter Menschen an der Universität Kassel. Ein Aspekt dabei sei das Sonderprogramm zur Qualifikation und Promotion schwerbehinderter arbeitsloser oder von Arbeitslosigkeit bedrohter Akademikerinnen und Akademiker („PROMI – Promotion inklusive“), an dem sich die Universität seit 2013 beteiligt. Auch zahlreiche andere Maßnahmen sollen die Situation behinderter Beschäftigter an der Universität Kassel weiter verbessern. Dabei wurde auch kritisch angesprochen, dass die bisherigen Förderinstrumente des Sozialrechts die Promotion außerhalb bezahlter Arbeitszeit – also bei Teilzeit-Qualifikationsstellen der Universitäten, bei Stipendien oder bei externen Promotionen – nicht erfassen und dass die Beschäftigung studentischer und wissenschaftlicher Hilfskräfte im Allgemeinen wegen deren geringer Arbeitszeit von den Rehabilitationsträgern und dem Integrationsamt nicht gefördert wird. Von der Intensität der Bemühungen zeigte sich die Behindertenbeauftragte beeindruckt, forderte zugleich jedoch auch auf, an dieser Stelle weiterzumachen und ggf. durch Netzwerke für andere Hochschulen ein Vorbild zu sein.

Beitrag von Alexandra Weber, B. A., und Dipl. jur. Maren Giese, beide Universität Kassel

Fußnoten:

[1] Weitere Informationen hierzu unter:   www.uni-kassel.de/themen/literaturumsetzungsdienst.html.

[2] Weitere Informationen zum Projekt unter: gib-regionkassel.de.

[3] Weitere Informationen zum Projekt „Promovieren mit Behinderung“ unter: promi.uni-koeln.de/hintergrund/.

[4] Weitere Informationen unter: www.uni-kassel.de/themen/inklusion-hochschulen/startseite.html.


Stichwörter:

Barrierefreies Bauen, Nachteilsausgleich, Inklusive Hochschule, Hochschule, Studieren mit Behinderung, Studium


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