09.01.2020 D: Konzepte und Politik Beyerlein et al.: Beitrag D2-2020

Stand und Entwicklung der Teilhabeforschung – Bericht vom 1. Kongress der Teilhabeforschung: Teil I

In diesem dreiteiligen Beitrag wird über den 1. Kongress der Teilhabeforschung berichtet, der am 26. und 27. September 2019 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. Initiiert wurde der Kongress vom Aktionsbündnis Teilhabeforschung, die wissenschaftliche Leitung übernahmen Prof. Dr. Markus Schäfers (Hochschule Fulda, Sprecher Aktionsbündnis Teilhabeforschung) und Prof. Dr. Gudrun Wansing (Humboldt-Universität zu Berlin). Ziele dieses Kongresses und zukünftiger Veranstaltungen dieser Art sind die Profilierung, Etablierung und Weiterentwicklung der Teilhabeforschung. Ca. 250 Teilnehmende zeigten Interesse an dieser Gelegenheit zum fachlichen Austausch und zur Vernetzung. Der erste Teil des Berichts informiert über Stand und Entwicklung der Teilhabeforschung. 

(Zitiervorschlag: Beyerlein et al.: Stand und Entwicklung der Teilhabeforschung – Bericht vom 1. Kongress der Teilhabeforschung: Teil I; Beitrag D2-2020 unter www.reha-recht.de; 09.01.2020)

I. Einleitung

Am 26. und 27. September 2019 fand an der Humboldt-Universität zu Berlin, unter wissenschaftlicher Leitung von Prof. Dr. Markus Schäfers (Hochschule Fulda) und Prof. Dr. Gudrun Wansing (HU Berlin), der 1. Kongress der Teilhabeforschung statt. Initiiert wurde der Kongress vom Aktionsbündnis Teilhabeforschung, einem Zusammenschluss aus 140 Organisationen und Einzelmitgliedern, mit dem Ziel eine Teilhabeforschung zu fördern, die der Verwirklichung von Selbstbestimmung, Teilhabe und Partizipation von Menschen mit Behinderungen verpflichtet ist.[1]

Auf dem Kongress referierten und diskutierten Expertinnen und Experten verschiedener fachlicher Disziplinen und Handlungsfelder über Begriffe, Konzepte und Methoden der Teilhabeforschung. In den fünf Hauptvorträgen, über die nachfolgend berichtet wird, wurden die Teilhabeforschung als Forschungsfeld sowie Konzept und Methodik des ersten repräsentativen Teilhabesurveys in Deutschland vorgestellt. Weitere Themenschwerpunkte waren die Internationalisierung der Teilhabeforschung, die Einbindung von Menschen mit Behinderungen im Sinne partizipativer Forschung und die Teilhabeforschung als Transformationsforschung.

Schäfers und Wansing eröffneten gemeinsam den Kongress. Schäfers formulierte als Ziele dieser und zukünftiger Veranstaltungen die Profilierung, Etablierung und Weiterentwicklung der Teilhabeforschung. Der Kongress sei mit 250 Teilnehmenden ausgebucht, was als reges Interesse an der Vernetzung in der Teilhabeforschung zu deuten und zu begrüßen sei. Teilnehmende waren Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Interessenvertretungen als Expertinnen und Experten in eigener Sache. Wansing beschrieb die HU Berlin als geeigneten Ort für die Auseinandersetzung mit Teilhabeforschung. Im Leitbild der HU seien die Ablehnung jedweder Diskriminierung und die Betonung der gesellschaftlichen Verantwortung verankert. Das Institut für Rehabilitationswissenschaften widmet sich in Forschung und Lehre dem Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt und der Verbesserung von Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Sie wies auf das neu gegründete Zentrum für Inklusionsforschung[2] hin, das sich interdisziplinär mit Inklusions- und Exklusionsprozessen mit Blick auf unterschiedliche Differenzkategorien befasst und sowohl wissenschaftliche als auch politische und zivilgesellschaftliche Akteure in die Forschung einbindet.

Prof Dr. Christian Kassung (Dekan der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät, HU Berlin) unternahm einen Exkurs in die Kulturgeschichte des Essens als kulturelle Praxis. Dabei gehe es ebenfalls um Teilhabe. Sie führe zu sozialer Differenzierung, z. B. bei der Frage zu welcher Gruppe man gehört (Vegetarier oder nicht?). Teilhabe habe als kulturelle Ausdrucksform auch immer eine symbolische Funktion. Er unterstrich das Interesse der HU und der KSB-Fakultät, Teilhabe zu fördern. Dr. Rolf Schmachtenberg (Staatssekretär, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, BMAS) betonte die Bedeutung von Teilhabe und Selbstbestimmung für die Arbeit des Ministeriums. Die HU und das Aktionsbündnis seien hierfür wichtige Partner. Der Veranstaltungsort (Hauptgebäude der Universität) symbolisiere die zentrale Verortung des Themas in der Forschungslandschaft. Angesichts des Ziels eines Disability Mainstreaming komme der Verwirklichung partizipativer Forschung eine wichtige Rolle zu. Als lohnende Herausforderung könne die Kooperation zwischen Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik gesehen werden, denn auf diese Weise würden unterschiedliche Perspektiven auf Exklusionsmechanismen zusammengebracht. Vor dem Hintergrund der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) sei der Abbau sozialer Ungleichheit durch Partizipation und ein inklusives Miteinander ein wichtiges Ziel. Aus diesem Grund bestehe im BMAS ein großes Interesse an Teilhabeforschung und ihrer Förderung. Gesetze (z. B. das Bundesteilhabegesetz), Modellprojekte (z. B. rehapro[3]) und Reformen (z. B. die der Eingliederungshilfe) müssten evaluiert werden. Die Zuständigkeit der verschiedenen Rehabilitationsträger solle in Zukunft transparenter und die Zusammenarbeit verbessert werden. Vor allem interdisziplinäre Ansätze und die Betroffenenperspektive seien sehr wichtig.

II. Wesen und Aufgaben der Teilhabeforschung in Gegenwart und Zukunft

1. Interdisziplinarität

Prof. Dr. Iris Beck (Universität Hamburg) stellte die Teilhabeforschung als ein sich gerade profilierendes Forschungsfeld vor[4] und skizzierte die damit verbundenen Herausforderungen. Die Teilhabeforschung müsse damit umgehen, dass sie aufgrund ihrer Interdisziplinarität über die Lehrstühle und Fachgebiete der Universitäten verteilt stattfindet und dementsprechend z. B. auf unterschiedliche Publikationsorgane, aber auch Begrifflichkeiten zurückgreift. Daher sei es begrüßenswert, dass das Aktionsbündnis und der Kongress nun die verschiedenen Disziplinen zusammenführen und den interdisziplinären Austausch vorantreiben. Dabei stärke der Begriff der Teilhabe die Auseinandersetzung mit Behinderung, denn er biete eine neue Perspektive, die nicht mehr individuelle Defizite und deren gesellschaftliche Integration in den Vordergrund stellt.

Beck stellte anschließend die normativen Bezüge des Teilhabebegriffs und seine Abgrenzung, insbesondere zum Begriff der Partizipation, dar. Herausfordernd für die Teilhabeforschung sei, dass sie nicht (nur) innerhalb der gegebenen Normen, sondern auch über die normative Einbettung nachdenkt. Insbesondere müssten die normativen Spannungen, in denen die Teilhabe steht, aufgedeckt und analysiert werden, beispielsweise die Selbstbestimmung und Wahlfreiheit auf der einen und spezifische Abhängigkeiten auf der anderen Seite. Des Weiteren sei eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Teilhabebegriff notwendig. Dies machte Beck am Beispiel der Teilhabe am Arbeitsleben deutlich. Zu fragen sei, wie berufliche Tätigkeit Teilhabe und Selbstständigkeit bewirken könne. Darauf aufbauend könnten Handlungskonzepte auf Makro-, Meso- und Mikroebene abgeleitet werden. Wie eine mehrdimensionale Forschung stattfinden kann, wurde am Beispiel des Forschungsprojekts „IMPAK“[5] erläutert.

Zum Abschluss stellte Beck zentrale Fragen der Arbeitsgruppe (AG) Partizipative Forschung & Forschungsmethoden des Aktionsbündnisses Teilhabeforschung vor. Erstens befasst sich die AG mit der Frage, wie Teilhabe in der Forschung aussehen soll, zweitens fragt sie, wie Beteiligung an Forschung verbessert oder verstetigt werden kann und schließlich, unter welchen Bedingungen Teilhabe in der Forschung wirkt und Wirksamkeit erlangt (siehe auch Teil II, Beitrag D3-2020).[6]

2. Der Teilhabebegriff in Wissenschaft und Politik

Die Frage, wie politisch Teilhabeforschung sei, diskutierten Angela Rauch (BMAS), Dr. Peter Bartelheimer (SOFI Göttingen), Prof. Dr. Gisela Hermes (HAWK Hildesheim) und Andreas Heimer (Prognos AG) unter Moderation von Katrin Grüber (IMEW Berlin).[7]

Zunächst wurde die Frage in die Runde gegeben, wo Teilhabeforschung heute steht und welches Verständnis davon herrscht. Bartelheimer erläuterte, dass Teilhabe im Unterschied zu Armut und Ungleichheit ein positiv besetzter Begriff sei, der die Funktion habe, Ungleichheit Grenzen zu setzen und Unterschiedlichkeit zu akzeptieren. Gleichzeitig handele es sich um einen konkreten Rechtsbegriff aus der UN-BRK. Ähnlich argumentierte Hermes. Für sie besteht die Aufgabe von Teilhabeforschung darin, Ausgrenzungsmechanismen aufzudecken. Dabei sei die Forschung politisch, weil sie die UN-BRK als Ausgangspunkt nehme und mit Inklusion ein langfristiges Ziel habe. Heimer sieht Teilhabeforschung eingebettet in politische Prozesse. Das mache es notwendig, die vorhandenen politischen Interessen ebenfalls zum Gegenstand von Evaluationsforschung zu machen. Eine aktuelle Herausforderung der Teilhabeforschung sei es zudem, die Partizipation von Menschen mit Behinderungen in der Forschung zu stärken (siehe auch Teil II, Beitrag D4-2020).

Wo steht Teilhabeforschung zwischen Unabhängigkeit und Politisierung? Bartelheimer verdeutlichte, dass es sich bei Teilhabeforschung oft um Auftragsforschung im politischen Raum handele. Deswegen müsse das Verhältnis von Wissenschaft und Politik stets reflektiert werden. So wurde der Begriff der Teilhabe zunächst im wissenschaftlichen und erst nachfolgend im politischen Kontext gebraucht. Aufgabe der Wissenschaft sei es, die Verwendung der Begriffe mit Standards zu hinterlegen, die deren Aushöhlung verhindern. Dem pflichtete Hermes bei. Innerhalb der Teilhabeforschung müsse man sich auf Standards einigen. So mache es einen enormen Unterschied, ob man der Forschung das medizinische oder das bio-psycho-soziale Behinderungsmodell zu Grunde lege. Rauch betonte ebenfalls die Wichtigkeit eines gemeinsamen Verständnisses von Teilhabe. Fragen der Teilhabeforschung würden von Verbänden und der Exekutive, aber ebenso aus der Forschung heraus formuliert. Dabei sei es wichtig, Grundlagenforschung zu fördern und unvoreingenommen an die Thematik heranzugehen.

Wo könnte die Teilhabeforschung in vier Jahren stehen? Heimer vertrat die Auffassung, zukünftig seien auch Kostenevaluationen im Rahmen der Teilhabeforschung denkbar. Diese würden den Blick für neue Zusammenhänge öffnen und könnten auch Wirtschaftsunternehmen gedankliche Zugänge zu Fragen der Inklusion eröffnen. Rauch äußerte, der (bis dahin vorliegende) dritte Teilhabebericht der Bundesregierung werde die Teilhabeforschung weiter voranbringen. Neben mehr Wissen würden sich dadurch auch mehr Forschungsfelder öffnen. Sowohl Hermes als auch Bartelheimer hoffen, dass in vier Jahren Einigkeit über zentrale Begriffe der Teilhabeforschung erreicht sein wird. Zudem sollten sich Standards etabliert haben und Menschen mit Behinderungen mehr an der Forschung partizipieren.

Die Diskussion auf dem Podium wurde anschließend für Fragen und Anmerkungen aus dem Publikum geöffnet. Hier wurde zunächst darauf hingewiesen, dass insbesondere der derzeit durchgeführte Teilhabesurvey (siehe Punkt 5., S. 6 ff.) ein wichtiger Beitrag zur Grundlagenforschung sei. Jedoch sei es auch eine Aufgabe der Teilhabeforschung, sich wissenschaftspolitisch zu profilieren. Teilhabeforschung müsse unabhängig von den Interessen der Leistungsträger erfolgen und sollte aus dem Blickwinkel verschiedener Disziplinen betrieben werden. Bartelheimer ergänzte, dass insbesondere das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in der Verantwortung sei, mehr Grundlagenforschung zu Fragen der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen.

Eine weitere Anmerkung war, dass das föderale System mit seinen zum Teil sehr unterschiedlichen Lösungen für gleiche Anforderungen in Praxis und Wissenschaft zu Diffusion führe.[8] Es müsse eine Forschungskultur entwickelt werden, die näher an der Praxis ist.

Schließlich wurde eingeworfen, dass Teilhabeforschung zwar selbst unpolitisch, zugleich aber abhängig von politischen Zielen sei. Es solle auch mehr Forschung im Auftrag von Verbänden geben. Auch sollten sich alle Bundesministerien für Fragen der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen interessieren. Diese sei ein Querschnittsthema und umfasse beispielsweise auch Fragen der Mobilität und des Bauens. Das bestätigte auch Rauch seitens des BMAS. Man müsse die UN-BRK und ihren Handlungsauftrag in den verschiedenen Ressorts noch bekannter machen.

3. Mögliche Aufgaben der Teilhabeforschung aus Sicht der Rechtswissenschaften

Michael Beyerlein (Universität Kassel) setzte sich in seinem Vortrag mit der Frage auseinander, ob aus den unbestimmten Rechtsbegriffen Wirkung und Wirksamkeit im Recht der Eingliederungshilfe ein Auftrag an die Teilhabeforschung hervorgeht.[9]

Das Vorhaben der aktuellen Bundesregierung (18. Legislaturperiode), Leistungen nicht länger institutionenorientiert, sondern personenzentriert bereitzustellen[10] nahm er zum Ausgangspunkt, um damit in Verbindung stehende Gesetzesänderungen vorzustellen.

Er stellte fest, dass die Gesetzesziele des BTHG, mehr Teilhabe zu ermöglichen und gleichzeitig durch erhöhte Steuerungskompetenzen der Leistungsträger neue Ausgabendynamiken zu vermeiden u. a. durch wirkungsorientierte Bedarfsermittlung, Teilhabe- und Gesamtplanung und wirksame Leistungserbringung im Vertragsrecht der Eingliederungshilfe erreicht werden sollen. Jedoch lasse es der Gesetzestext weitgehend offen, was unter einer Wirkungskontrolle zu verstehen ist und wie die Wirksamkeit einer Einrichtung oder Maßnahme überprüft werden soll.

Der unbestimmte Rechtsbegriff der Wirkung sei im Kontext der Eingliederungshilfe als Erreichung von allgemeinen und individuellen Teilhabezielen zu deuten. Die Ermittlung der Wirkung müsse dabei im Rahmen des Gesamtplanverfahrens in der Sprache der ICF, diskursiv und qualitativ anhand von leitfadengestützten Gesprächen und unter Einschluss der subjektiven Zufriedenheit der leistungsberechtigten Personen erfolgen.

Die Frage der Wirksamkeit auf institutioneller Ebene berühre Fragen der Qualität und Wirtschaftlichkeit der Leistung. Vor dem Hintergrund der starken Outcome-Orientierung des BTHG könne sich die Frage der Wirtschaftlichkeit einer Einrichtung nicht darauf beschränken, dass Leistungserbringer weit definierte Leistungen zu einem möglichst geringen Preis erbringen. Die Wirtschaftlichkeit eines Dienstes oder einer Einrichtung müsse sich an Fragen der tatsächlichen Teilhabeförderung lt. Gesamtplan messen lassen.

Der Teilhabeforschung komme darum die Aufgabe zu, zu erforschen, welche Strukturen und Prozesse bei Leistungserbringern teilhabefördernd wirken und welche nicht.

Weiterhin sei zu fragen, wie empirisch gesicherte, einheitliche und überprüfbare Maßstäbe zur Struktur- und Prozessqualität von Leistungserbringern aussehen könnten und wie sich die tatsächlich erreichte Teilhabe einer leistungsberechtigten Person erfassen und darüber hinaus auf die Leistung eines Dienstes oder einer Einrichtung zurückführen lässt.

4. Mögliche Aufgaben der Teilhabeforschung aus Sicht der Soziologie

Prof. Dr. Elisabeth Wacker (Technische Universität München) referierte zum Thema „Teilhabeforschung als Transformationsforschung“. Dabei hob sie den gesellschaftlichen Bezug der Teilhabeforschung hervor. Dieser werde durch die Lebenslagen- und Lebensweltorientierung ebenso wie partizipative Methoden und transdisziplinäre Zuschnitte deutlich. Es handle sich bei der Teilhabeforschung um Transformationsforschung mit einem Übersetzungs- und Verwandlungsauftrag. Es gelte menschenrechtsbasierte Ansätze, Diversität und Gleichstellung, Lebenslagen und den jeweiligen Sozialraum in Forschungsansätzen mitzudenken. Das mache die Einbeziehung verschiedener Disziplinen wie Gender oder Diversity Studies sowie Disability Studies, aber auch Global Health-Forschung nötig. Eine wichtige Aufgabe der Teilhabeforschung sei es, Unterschiede zwischen Rechtsnormen wie der UN-BRK und der Rechtswirklichkeit aufzuzeigen. Ein wichtiger Beitrag dazu sei der Teilhabesurvey.

Der grundsätzliche Auftrag der Teilhabeforschung könne sich nicht in einem Abbauprogramm von Vorurteilen erschöpfen. Es müsse vielmehr um die Frage gehen, wie ein Umbauprogramm von Gesellschaft aussehen kann. Es gehe also auch um eine Politik der Anerkennung von Gleichwertigkeit bei Verschiedenheit. Die Transformation, die Teilhabeforschung zu leisten hat, bestehe also auch darin, den Blick nicht allein auf die Menschen mit Behinderungen zu richten, sondern vor allem auf die sie behindernden Umstände.

5. Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen

Prof. Dr. Markus Schäfers und Dr. Jacob Steinwede (Institut für angewandte Sozialforschung GmbH, infas) berichteten über Konzeption und Methodik des ersten repräsentativen Teilhabesurveys im Auftrag des BMAS.

Aktuell befindet sich der Survey in der Feldphase, weshalb auch noch keine Ergebnisse präsentiert werden können.[11] In der bisherigen Sozialberichterstattung seien Menschen mit Beeinträchtigungen unterrepräsentiert gewesen, sodass über ihre Lebensbedingungen nur wenig bekannt ist. Es existierten bis dato lediglich Einzelstudien, die Details beleuchten, aber es fehlten verlässliche Daten für einen Gesamtüberblick über die Teilhabechancen dieser Menschen. Bereits 1984 („Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation“[12]) sei zwar ein Bedarf an systematischer Teilhabeforschung formuliert worden, nur habe es den Begriff damals noch nicht gegeben. Entsprechende Forschung sei auch noch nicht gefördert worden. Der erste „Behindertenbericht“ sei vielmehr eine vom Ministerium verfasste „Leistungsschau“ gewesen, in der Rechte und Maßnahmen dargestellt wurden. Auf diese Weise habe keine politische Debatte über Teilhabe angestoßen werden können. Verändert habe sich dies erst mit dem ersten „Teilhabebericht“[13] von 2013. Das Ministerium entschied sich darin für einen neuen, ICF-orientierten Behinderungsbegriff. Erstmals ging es nicht mehr nur um eine Berichterstattung auf Basis der Schwerbehindertenstatistik. Folgerichtig mussten neue Datenquellen erschlossen werden (z. B. Sozioökonomisches Panel, SOEP). Dies führte dazu, dass sich große Datenlücken (u. a. zu Themen wie alltäglicher Lebensführung und Partizipation) zeigten. Durch methodische Schwächen des SOEP konnten außerdem auch kaum Informationen über schwer erreichbare Personengruppen gewonnen werden. Diese Lücken sollen mit dem Teilhabesurvey nun geschlossen werden. Ihm liegt ein menschenrechtsbasierter Teilhabebegriff zugrunde.

Steinwede führte aus, wie schwierig der Feldzugang sei. Aufgrund fehlender vollständiger Listen konnte keine einfache Zufallsstichprobe gezogen werden. Um dennoch repräsentative Ergebnisse zu gewährleisten, sei ein hoher Aufwand betrieben worden. In sieben Teilstudien wurden ca. 27.000 Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen befragt, darunter auch ca. 5.000 Menschen in Einrichtungen sowie wohnungslose Menschen. Beide Gruppen gelten in der Sozialforschung als schwer erreichbar. Zur Qualitätssicherung und um Partizipation in der Forschung zu ermöglichen, wurde ein inklusiver Beirat eingesetzt.

Über das Einwohnermelderegister wurde schließlich bundesweit eine Zufallsauswahl unter allen Einwohnerinnen und Einwohnern ab 16 Jahren getroffen. Sie erhielten jeweils einen Vorabfragebogen, um die Haushaltssituation zu erfassen, sowie ein Begleitschreiben des BMAS. Der Fragebogen orientiert sich an der ICF, d.h. die Behinderung wurde nicht als Eigenschaft der Person aufgefasst. Dies sei in der Sozialwissenschaft ein Novum und schwierig zu operationalisieren. Als Vorbild diente das Disability Screening Questionnaire (DSQ). Gefragt wurde etwa, wie sehr die Befragten im Alltag oder in ihren Funktionen eingeschränkt seien. Die Lebensbereiche der ICF wurden in Fragebogendimensionen übersetzt:

ICF-Domäne

Teilhabesurvey

Mobilität (d4)

z. B. Transportmittel im öffentlichen Raum, Körperbeweglichkeit

bedeutende Lebensbereiche (d8)

z. B. wirtschaftliche Verhältnisse, Bildung, Arbeit

Quelle: DIMDI/WHO (2005): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, S. 20; Ergänzungen auf Basis des oben genannten Vortrags.

Bisher wurden ca. 14.000 Interviews geführt (Stand 26.09.2019). Die Kooperationsbereitschaft und die Bereitschaft zur erneuten Teilnahme seien sehr hoch. Es wurden sämtliche Erhebungsmethoden ausgeschöpft, um Barrierefreiheit herzustellen (z. B. auch Leichte Sprache). Auf individuelle Befragungswünsche wurde eingegangen (z. B. Kurzinterviews oder Kombination verschiedener Methoden). Ein sog. Mittelschichtsbias (Verzerrung der Ergebnisse aufgrund systematischer Stichprobenausfälle[14]) könne ebenfalls ausgeschlossen werden. Es bestehe eine gute Wahrscheinlichkeit, mit dem Teilhabesurvey eine Langzeitstudie zu etablieren. Schäfers betonte abschließend, dass mit dem Survey keine Wirkungsmessung von Maßnahmen oder Gesetzen erzielt werden soll. Vielmehr gehe es um die Identifizierung von Problemlagen und politischem Handlungsbedarf. Darüber hinaus solle durch die erhobenen Daten eine für Forschende zugängliche Datenquelle (Scientific Use File) für die Teilhabeforschung entstehen.

6. Internationalisierung der Teilhabeforschung

Unter dem Titel „Internationalisierung der Teilhabeforschung: Möglichkeiten und Chancen, Probleme und Herausforderungen“ referierte Prof. Dr. Anne Waldschmidt (Universität zu Köln). Globalisierungseffekte und die Transnationalisierung machten eine international ausgerichtete Teilhabeforschung notwendig, die spätestens seit Inkrafttreten der UN-BRK zum Forschungsalltag zählen müsse. Aber auch zuvor hätten beispielsweise die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, der UN-Sozialpakt sowie der UN-Zivilpakt und internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die International Labour Organization (ILO) und die UNESCO[15] das Feld der Teilhabeforschung beeinflusst. Wesentlicher Motor internationaler Behindertenpolitik seien die Vereinten Nationen. Aber auch dem Europarat sowie der Europäischen Union mit ihren supranationalen Befugnissen kämen tragende Rollen zu.

Im Aktionsbündnis Teilhabeforschung erkenne man zwar den hohen Stellenwert internationaler Forschung, allerdings sei diese noch ausbaufähig. So wurde 2016 z. B. eine Arbeitsgruppe „Internationales“ gegründet. Waldschmidt wünscht sich die Fortführung der begonnenen Aktivitäten.

Im Forschungsalltag beinhalte Internationalisierung sowohl vergleichende Forschung als auch gemeinsame Forschung mit internationalen Partnern und Partnerinnen und zu international relevanten Themen. Indikatoren internationaler Forschung seien Mitgliedschaften in internationalen Fachgesellschaften, internationale Vorträge, Gutachtertätigkeiten für internationale Zeitschriften und Forschungsinstitutionen, Einladungen ausländischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Organisation und Publikation internationaler Veranstaltungen und Veröffentlichungen sowie international ausgerichtete Forschungsprojekte.

Internationale Forschung erfordere hierbei ein erhöhtes Maß an kulturellen sowie auch ökonomischen Ressourcen, da beispielsweise die Ausrichtung internationaler Tagungen finanziell aufwendig sei. Aber auch soziales, symbolisches und körperliches Kapital seien notwendig, um Sichtbarkeit zu erzeugen. Gleichzeitig müsse erhöhten Mobilitätsanforderungen nachgekommen werden. Im Gegenzug erweitere internationale Forschung die eigenen Perspektiven, bewirke „produktive Irritationen“ und steigere die Ambiguitätstoleranz.

Im zweiten Teil des Kongressberichtes (Beitrag D3-2020) geht es um Partizipation von Menschen mit Behinderungen an der Forschung und am politischen Geschehen.

Beitrag von Michael Beyerlein (LL.M.), René Dittmann (LL.M.), beide Universität Kassel; Cindy Gast-Schimank (LL.M.), Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Lea Mattern (B.A.) und Dr. Tonia Rambausek-Haß, beide Humboldt-Universität zu Berlin

Fußnoten

[1] Nähere Informationen zum Aktionsbündnis, dessen Ausrichtung sowie aktuelle Aktivitäten sind zu finden unter https://www.teilhabeforschung.org/index.php, zuletzt abgerufen am 07.01.2020.

[2] Siehe auch https://www.zfib.org/, zuletzt abgerufen am 08.11.2019.

[3] Bundesprogramm „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ www.modellvorhaben-rehapro.de/, zuletzt abgerufen am 07.01.2020.

[4] Zu den bisherigen Entwicklungen der Teilhabeforschung: Nachtschatt, Teilhabeforschung – aktuelle Entwicklungen in Deutschland; Beitrag D48-2017 unter www.reha-recht.de; 18.10.2017.

[5] Implementation von Partizipation und Inklusion für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen – Determinanten für Handlungsspielräume und bedarfsgerechte Unterstützungssettings, siehe https://www.ew.uni-hamburg.de/einrichtungen/ew2/behindertenpaedagogik/forschungsprojekte/impak.html, zuletzt abgerufen am 01.10.2019.

[6] Dazu: Wontorra: „Wir forschen gemeinsam: nichts ohne uns über uns!“ – Partizipation in der Teilhabeforschung; Beitrag D43-2017 unter www.reha-recht.de; 29.09.2017.

[7] Die Diskussion fand am Nachmittag des 26.09.2019 als „Moderierte Runde“ statt.

[8] Z. B. bei Bedarfsermittlungsinstrumenten. Vgl. https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/gesetz/umsetzung-laender/, zuletzt abgerufen am 07.01.2020.

[9] Dabei bezog er sich auf die Stellungnahme der DVfR zur Bedeutung der Begriffe Wirkung und Wirksamkeit im Recht der Eingliederungshilfe, abrufbar unter https://www.dvfr.de/arbeitsschwerpunkte/stellungnahmen-der-dvfr/detail/artikel/stellungnahme-der-dvfr-zur-umsetzung-des-bthg-wirkung-und-wirksamkeit-von-leistungen-der-einglieder/, zuletzt abgerufen am 29.11.2019.

[10]  Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode, S. 111, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/koalitionsvertrag-vom-12-maerz-2018-975210, zuletzt abgerufen am 22.11.2019.

[11]  Auf der BMAS-Seite ist zu lesen, dass die Datenanalyse 2021 abgeschlossen sein wird, vgl. https://www.bmas.de/DE/Presse/Meldungen/2017/startschuss-repraesentative-studie-zur-teilhabe-menschen-mit-behinderungen.html, zuletzt abgerufen am 14.10.2019. Weitere Informationen finden sich auch hier: https://www.infas.de/aktuelle-befragungen/infas-befragung/die-befragung-zur-teilhabe-von-menschen-mit-und-ohne-behinderungen/ , zuletzt abgerufen am 21.10.2019.

[12]  BT-Drs. 10/1233.

[13]  BT-Drs. 17/14476; Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen, abrufbar unter https://www.bmas.de/DE/Service/Medien/Publikationen/a125-13-teilhabebericht.html, zuletzt abgerufen am 21.10.2019.

[14]   Kleine Haushalte und Angehörige sozioökonomisch benachteiligter Gruppen beteiligen sich vergleichsweise selten an Befragungen. Vgl. auch https://www.gesis.org/gml/gml-home/forschung/stichprobenausfall-und-repraesentativitaet/, zuletzt abgerufen am 14.10.2019.

[15] United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization


Stichwörter:

Chancengleiche Teilhabe, Partizipation, Teilhabeforschung, Aktionsbündnis Teilhabeforschung


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