18.06.2015 D: Konzepte und Politik Welti: Beitrag D20-2015

Wunsch- und Wahlrecht bei Leistungen zur Teilhabe – neue und alte Rechtsfragen (Teil 2)

In diesem zweiteiligen Beitrag bespricht der Autor das Wunsch- und Wahlrecht bei Leistungen zur Teilhabe und erläutert sowohl neue, als auch alte Rechtsfragen. Im Anschluss an den ersten Teil (Beitrag D19-2015) befasst sich der Autor im zweiten Teil mit der Selbstbestimmung und den Mitwirkungsmöglichkeiten der Leistungsberechtigten an der Ausführung der Leistungen.

Laut Autor müsse sich dies auch in den zivilrechtlichen Beziehungen, die z.B. bei einem Behandlungsvertrag entstehen, widerspiegeln. Sodann wirft der Autor Verfahrensfragen bei der Entscheidung über einen geäußerten Wunsch auf und plädiert für eine stärkere Ausprägung des Rechtsschutzes. Er befasst sich mit Besonderheiten der einzelnen Leistungen zur Teilhabe und den Leistungsträgern (z.B. Teilhabe am Arbeitsleben durch die Bundesagentur für Arbeit).

Schließlich kommt er zu dem Ergebnis, dass es für eine Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts oftmals schon ausreichend wäre, den bereits bestehenden Regelungen besser zur Durchsetzung zu verhelfen.  

Der Beitrag ist bereits in FORUM Sozialarbeit und Gesundheit 3/2015, der Zeitschrift der Deutschen Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen (DVSG) erschienen.

(Zitiervorschlag: Welti: Wunsch- und Wahlrecht bei Leistungen zur Teilhabe – neue und alte Rechtsfragen (Teil 2); Forum D, Beitrag D20-2015 unter www.reha-recht.de; 18.06.2015)

 


6.      Das Verhältnis zum Bürgerlichen Recht

Nach § 9 Abs. 3 SGB IX lassen Leistungen, Dienste und Einrichtungen den Leistungsberechtigten möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände und fördern ihre Selbstbestimmung. Nach § 21 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX haben die Verträge der Rehabilitationsträger mit den Leistungserbringern angemessene Mitwirkungsmöglichkeiten der Teilnehmer an der Ausführung der Leistungen zu regeln. Damit macht das Sozialrecht klar, dass auch in der Rechtsbeziehung zwischen den Leistungsberechtigten und den Leistungserbringern Wunsch- und Wahlrechte innerhalb der Leistung ihren Platz haben müssen. Selbst- und Mitbestimmung der Leistungsberechtigten ist keine punktuelle Angelegenheit, sondern ein Grundprinzip der Rehabilitation und Teilhabe.

Dies muss sich auch in den zivilrechtlichen Beziehungen widerspiegeln, die in der Medizinischen Rehabilitation insbesondere nach dem Behandlungsvertrag (§ 630a BGB), bei stationären Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach dem Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG), bei Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen, namentlich über den Persönlichkeitsschutz (§ 36 Satz 3 SGB IX) und im Übrigen vor allem nach dem Recht des Dienstvertrags (§ 611 BGB) zu beurteilen sind.

7.      Verfahrensfragen

Die Entscheidung des Rehabilitationsträgers über die Leistung zur Teilhabe und ihre Konkretisierung ist ein Verwaltungsakt (§ 31 SGB X). Dieser beinhaltet die Entscheidung über einen geäußerten Wunsch. Eine solche Entscheidung, insbesondere wenn sie ablehnend ist, ist zu begründen (§ 9 Abs. 2 Satz 3 SGB IX; § 35 SGB X). Gegen sie ist innerhalb eines Monats Widerspruch möglich, über den vom Rehabilitationsträger zu entscheiden ist, entweder durch Abhilfe oder durch Widerspruchsbescheid (§ 85 SGG), gegen den wiederum Klage beim Sozialgericht (bei der Kinder- und Jugendhilfe: Verwaltungsgericht) möglich ist.

Wird die Leistung zügig benötigt, so ist entweder ein Antrag beim Sozialgericht auf einstweilige Anordnung möglich (§ 86b Abs. 2 SGG)[7] oder der Antragsteller kann die Leistung selbst beschaffen und auf Erstattung klagen, weil sie zu Unrecht abgelehnt worden sei (§ 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX). In diesem Fall riskiert der Kläger allerdings, dass das Sozialgericht im Ergebnis nicht seiner Meinung folgt. Nach der neueren Rechtsprechung der Sozialgerichte kann es dann passieren, dass nicht einmal die „Sowieso-Kosten“[8] erstritten werden können. Dies führt zu einer zu schwachen Ausprägung des Rechtsschutzes. Der Gesetzgeber sollte, wenn er das Wunsch- und Wahlrecht stärken möchte, vor allem auf diesen Aspekt der Rechtsdurchsetzung achten.

III.   Besonderheiten bei einzelnen Leistungsgruppen und Leistungsträgern

1.      Medizinische Rehabilitation: Krankenkassen

Besonders umstritten war und ist die Geltung des SGB IX und seines Wunsch- und Wahlrechts für die Krankenkassen. Diese sind jedoch Rehabilitationsträger nach § 6 SGB IX, so dass das SGB IX für sie gilt, soweit nichts Abweichendes geregelt ist. Der Rückverweis in § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB V – obwohl systematisch überflüssig – bekräftigt das.

In § 40 Abs. 2 Satz 1 SGB V ist geregelt, dass für eine stationäre medizinische Rehabilitationsleistung nur Leistungserbringer in Betracht kommen, die nach § 20 Abs. 2a SGB IX zertifiziert sind und mit denen ein Versorgungsvertrag nach § 111 SGB V besteht. Mit der Absicht, das Wunsch- und Wahlrecht zu stärken und zu präzisieren, hat der Gesetzgeber 2007 in § 40 Abs. 2 Satz 2 SGB V festgeschrieben, dass Versicherte eine andere zertifizierte Einrichtung wählen können, mit der kein Versorgungsvertrag besteht, soweit sie die Mehrkosten tragen. Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat aus der Regelung in zwei umstrittenen Entscheidungen vom 7. Mai 2013[9] gefolgert, dass ein entsprechendes Wahlrecht zwischen zwei Vertragseinrichtungen nicht bestehe. Es legt den Gesetzeswortlaut insofern eng aus und bezieht sich auf den möglichen Gewinn an Wirtschaftlichkeit, der den Krankenkassen entstehe, wenn sie in der Entscheidung zwischen Vertragseinrichtungen freier seien. Näher hätte aber ein „erst recht“-Schluss gelegen: Wenn schon eine Nicht-Vertragseinrichtung gewählt werden kann, dann auch eine Vertragseinrichtung. Die Entscheidung ist auf berechtigte Kritik gestoßen[10], weil sie ohne eine zwingende Abweichung im Wortlaut des SGB V die Anwendung von § 9 Abs. 1 SGB IX praktisch ausschließt.

Mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz, das voraussichtlich im Mai 2015 im Deutschen Bundestag beschlossen werden soll[11], sollen die Unklarheiten der Regelung von 2007 und der dazu ergangenen Regelung korrigiert werden. In § 40 Abs. 2 SGB V soll klargestellt werden, dass sich das Wahlrecht auf alle zertifizierten Einrichtungen erstreckt, unabhängig davon, ob mit ihnen ein Versorgungsvertrag besteht. Zudem soll klargestellt werden, dass nur diejenigen Mehrkosten zu tragen sind, die über angemessene Mehrkosten hinausgehen. In § 40 Abs. 3 SGB V wird als Reaktion auf das „Übersehen“ von § 7 Satz 1 SGB IX durch Rechtsprechung und Krankenkassen nochmals auf die Geltung von § 9 Abs. 1 SGB IX hingewiesen werden.

Eine Besonderheit im Krankenversicherungsrecht ist die Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V, wonach bei Nichteinhaltung der Entscheidungsfrist von drei oder, bei Einholung eines Gutachtens, fünf Wochen über einen Antrag zu entscheiden ist, ansonsten gilt der Antrag als genehmigt, wenn kein hinreichender Verzögerungsgrund vor Fristablauf mitgeteilt wurde (§ 13 Abs. 3a Satz 1–6 SGB V), so dass die versicherte Person Kostenerstattung verlangen kann. Nach § 13 Abs. 3a Satz 9 SGB V gelten für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zur Zuständigkeitserklärung und Erstattung selbst beschaffter Leistungen die §§ 14, 15 SGB IX. Es ist strittig, ob mit Satz 9 die Genehmigungsfiktion ausgeschlossen wird. Nach richtiger Ansicht weist die Regelung nur auf die weiter gehenden Regelungen des SGB IX hin, während die Genehmigungsfiktion als krankenversicherungsrechtliche Besonderheit auch für Rehabilitationsleistungen gilt[12].

2.      Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben: Bundesagentur für Arbeit

Die Bundesagentur für Arbeit nutzt – anders als die anderen Rehabilitationsträger – für eine selektive Auswahl der Leistungserbringer auch bei Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben das Vergaberecht. Sie sieht sich hierzu durch § 45 Abs. 3 SGB III berechtigt. Für Leistungen durch besondere Einrichtungen nach § 35 SGB III nutzt auch die Bundesagentur Verträge nach § 21 SGB IX. Fraglich ist, ob das Vertragsmodell nach § 21 SGB IX angesichts des offenen Wortlauts von § 45 Abs. 3 SGB III („kann“) nach § 7 Satz 1 SGB IX Vorrang vor der Vergabe haben sollte[13].

Eine Klärung dieser Rechtsfrage in Rechtsstreitigkeiten oder durch Aufsichtsbehörden ist gegenwärtig nicht zu erwarten. Das Ausschreibungsmodell hat zur Folge, dass die Vielfalt möglicher Leistungserbringer bereits im Vorwege erheblich eingeschränkt wird und damit das Wunsch- und Wahlrecht praktisch beschränkt wird. Doch ist auch für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben festzuhalten, dass bereits das zusammen mit Eignung und Arbeitsmarktlage wesentliche Auswahlkriterium der Neigung (§ 33 Abs. 4 SGB IX; § 112 Abs. 2 SGB III) eine Berücksichtigung von Wünschen zwingend erfordert[14]. Ohne Berufswunsch erscheint eine berufliche Rehabilitation sinnlos. In problematischer Weise eingeschränkt ist das Wunsch- und Wahlrecht gesetzlich für Leistungen der Bundesagentur, indem die Länge auf zwei Jahre beschränkt ist und die Möglichkeit einer Eigenfinanzierung eines dritten Jahres ausgeschlossen wurde (§ 179 Abs. 4 SGB III)[15].

3.      Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft: Sozialhilfe

Für die Träger der Sozialhilfe ist als einzige Gruppe von Rehabilitationsträgern die Geltung von § 9 Abs. 1 SGB IX grundsätzlich eingeschränkt. In § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist die Berücksichtigung auf „angemessene“ Wünsche eingeschränkt, die Erweiterung des Wunsch- und Wahlrechts durch das SGB IX nicht mitvollzogen. Damit wird die Möglichkeit einer Abwägung zwischen den Wünschen der behinderten Menschen und dem Wirtschaftlichkeitsgebot schon auf der primären Ebene des Leistungsanspruchs ermöglicht.

Eine weitere Restriktion erfährt das Wunsch- und Wahlrecht in § 13 SGB XII, wo die Entscheidung zwischen ambulanten und stationären Leistungen geregelt ist. Danach gilt – wie in anderen Leistungsbereichen (§ 19 Abs. 2 SGB IX) ein Vorrang der ambulanten Leistung. Diese gilt aber nicht, wenn eine stationäre Leistung zumutbar und die ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist (§ 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII).[16] Diese Regelung bezieht sich vor allem auf Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Verhältnis von Wohneinrichtungen (Heimen) und ambulanten Hilfen zum Leben in der eigenen Wohnung. Die Regelung kann insofern so verstanden werden, dass sie eine Pflicht zum Leben im Heim auch gegen den Willen behinderter und pflegebedürftiger Menschen ermöglicht.

Im Lichte des Rechts auf freie Wahl des Aufenthaltsorts nach Art. 19 der UN- Behindertenrechtskonvention wird diese Regelung kritisiert. In der UN-BRK haben sich die Staaten verpflichtet, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben. Richtigerweise muss diese Wertung bei der Auslegung von § 13 SGB XII berücksichtigt werden: Ein Leben in besonderen Wohnformen gegen den eigenen Willen ist nicht zumutbar.

IV.    Ausblick

Bei den laufenden Diskussionen über ein Bundesteilhabegesetz zur Reform des SGB XII und des SGB IX wird von vielen Seiten eine Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts gefordert. In vielen Fällen wäre es schon ausreichend, den geltenden Regelungen besser zur Durchsetzung zu verhelfen. Viele Beteiligte können dazu einen Beitrag leisten.

Beitrag von Prof. Dr. Felix Welti, Universität Kassel

Fußnoten:

[7] Daniel Hlava, Rehabilitations- und Teilhabeleistungen durch einstweiligen Rechtsschutz, Diskussionsforum A Nr. 4/2013, www.reha-recht.de.

[8] Dazu LSG Baden-Württemberg v. 01.08.2007, L 4 KR 2071/05, Anwalt im Sozialrecht 2009, 98-101; andererseits aber BSG v. 07.05.2013, B 1 KR 12/12 R, BSGE 113, 231–240.

[9] BSG v. 07.05.2013, B 1 KR 12/12 R, BSGE 113, 231–240; BSG v. 07.05.2013, B 1 KR 53/12 R.

[10] Stefan Fuhrmann/ Wolfgang Heine, Wunsch- und Wahlrecht contra Bedarfsplanung in der medizinischen Rehabilitation, Die Sozialgerichtsbarkeit 2014, 297–307; dieselben Diskussionsforum A Nr. 7/2014, www.reha-recht.de.

[11] Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 18/4095 vom 25.02.2015; dazu Fabian Walling, Diskussionsforum D Nr. 8/2015, www.reha-recht.de.

[12] So auch Thomas Motz, Diskussionsforum A Nr. 26/2014.

[13] Vgl. einerseits: Felix Welti, Vergabe im Bereich der Rehabilitation, Schriftenreihe des Sozialrechtsverbands (SDSRV) 60 (2011), 93–110; andererseits: Andreas Hänlein, Vergabe in der Arbeitsförderung, SDSRV 60, 111–135.

[14] Dazu: Bayerisches LSG v. 27.07.2010, L 20 R 309/09; Diana Ramm, Diskussionsforum A Nr. 13/2011, www.reha-recht.de.

[15] Vgl. Diana Ramm/ Manuela Willig/ Felix Welti, Diskussionsforum A Nr. 20/2012, www.reha-recht.de.

[16] Vgl. LSG Baden-Württemberg v. 02.09.2010, L 7 SO 1357/10 ER-B; Sächsisches LSG v. 28.08.2008, L 3 B 613/07 SO-ER, dazu Diana Ramm/ Felix Welti, Diskussionsforum A Nr. 1/2010, www.reha-recht.de.


Stichwörter:

Auswahl, Rechtsverhältnis Träger-Leistungsberechtigter, Rehabilitationsträger, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, Leistungen im Rahmen medizinischer Rehabilitation, Wirtschaftlichkeitsgebot, Leistungserbringungsrecht, Bundesagentur für Arbeit (BA), Leistungserbringer, Berufliche Rehabilitation, Berufliche Teilhabe


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