04.07.2017 D: Konzepte und Politik Ramm: Beitrag D28-2017

Wege in die berufliche Bildung für Jugendliche mit Behinderung – Teil 5: Jugendliche mit Behinderung und Schulen der beruflichen Bildung

In dieser siebenteiligen Beitragsreihe beschäftigt sich die Autorin Diana Ramm mit den Rahmenbedingungen des Zugangs zu beruflicher Bildung für Jugendliche mit Behinderung. Teil 5 nimmt die Ausbildungssituation an berufsbildenden Schulen in den Fokus. Die Autorin betrachtet zunächst den Stand der Inklusion an Schulen der Berufsbildung. Hier müsse der Zugang deutlich verbessert werden. Hinderlich für einheitliche Strukturen sei vor allem die föderale Ausgestaltung des Schulsystems.

Im Weiteren betrachtet Ramm mögliche Handlungsansätze zur Verbesserung der Inklusion. Sie spricht sich für verbindliche Standards aus, etwa in Form von Beschlüssen der Kultusministerkonferenz. Zudem müsse Barrierefreiheit in allen Bereichen des Bildungssystems umgesetzt und die Aus- und Weiterbildung von Lehrenden in den Blick genommen werden. Wichtig wäre zudem die Zertifizierung einzelner Ausbildungsabschnitte, sodass auch bei Nichtabschluss entsprechende Qualifikationsnachweise vorliegen.

Die Autorin schließt mit dem Fazit, dass es bereits eine Vielzahl an Ansätzen zur Verbesserung der Inklusion im (Berufs-)Schulkontext gebe. Es mangele jedoch an einheitlichen, bundeslandübergreifende Konzepten und einer konsequenten Umsetzung bereits bestehender Vorgaben.

(Zitiervorschlag: Ramm: Wege in die berufliche Bildung für Jugendliche mit Behinderung – Teil 5: Jugendliche mit Behinderung und Schulen der beruflichen Bildung; Beitrag D28-2017 unter www.reha-recht.de; 04.07.2017.)


Zur Verwirklichung des Rechts auf Bildung in einem integrativen bzw. inklusiven Bildungssystem, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention fordert (vgl. Teil 1[1]), sind Bedingungen an beruflichen Schulen zu schaffen, die es auch Jugendlichen mit Behinderung und Förderbedarf ermöglichen, dort zu lernen.

In Rückgriff auf statistische Daten (vgl. Teil 4[2]) ist ersichtlich, dass eine nur geringe Anzahl von Jugendlichen mit Behinderung in der regulären dualen Ausbildung ausgebildet wird und deren berufliche Schulen besucht. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) konstatiert, dass der Anspruch der inklusiven Bildung im Widerspruch zu den derzeitigen Organisationsformen und -strukturen der beruflichen Bildung steht[3]. Dieter Euler und Eckart Severing fassen zusammen, dass die bildungspolitische Debatte zur Inklusion "oft wenig differenziert und primär normativ fixiert"[4] sei.

Zukünftige Herausforderungen bestehen vor allem darin, die Organisationformen und
-strukturen beruflicher Schulen zu überprüfen und anzupassen, um mehr Jugendlichen mit Behinderungen einen besseren Zugang zu ermöglichen.

Eine einheitliche Umsetzung von Maßnahmen wird derzeit kaum gelingen können. Dem steht schon die föderale Gestaltung des Schulwesens entgegen. Laut Art. 7 Abs. 1 Grundgesetz (GG) steht das gesamte Schulwesen zwar unter der Aufsicht des Staates, jedoch in Ausübung der Kulturhoheit gestalten die einzelnen Bundesländer eigenständig ihre Schulpolitik. Durch mehr gemeinsame Beschlüsse der Kultusministerkonferenz (KMK) könnten gegebenenfalls verbindliche Standards gesetzt werden.

Nach dem Beschluss der KMK vom 20. Oktober 2011 zur inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen sind u. a. für das Gelingen von Übergängen unterstützende Konzepte zu entwickeln und durch "Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote für Jugendliche mit Behinderungen sind Wege zu einer qualifizierten Berufsbildung in einen anerkannten Ausbildungsberuf oder in einen Ausbildungsberuf für Jugendliche mit Behinderungen zu eröffnen".[5] In einem eigenen Punkt "Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote im berufsbildenden Bereich und beim Übergang in die Arbeitswelt" gibt die KMK entsprechende Empfehlungen, wie bspw. die Verbesserung von gemeinsamen Bildungsmaßnahmen von allgemein- und berufsbildenden Schulen bzw. Bildungsträgern in der Berufsvorbereitung.[6] Insgesamt gibt der Beschluss allgemeine Empfehlungen, lässt aber konkrete Handlungs- und Umsetzungsempfehlungen bzw. Gelingensbedingungen offen. Dieser Beschluss wird derzeit in den Bundesländern, teils mit Aktionsplänen[7], umgesetzt. Die Umsetzung gestaltet jedoch wiederum jedes Land individuell, auch in Abhängigkeit von seiner Wirtschaftskraft. Wünschenswert wären länderübergreifende Bemühungen auf gleichem Niveau. Die betriebliche Bildung Jugendlicher mit Behinderungen, so kann festgestellt werden, scheint auf politischer Landesebene präsent.[8]

Obwohl der Beschluss der KMK auch Empfehlungen für den berufsbildenden Bereich gibt, ist die Inklusion von Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen der beruflichen Bildung deutlich von derjenigen in allgemeinbildenden Schulen abzugrenzen. Berufsbildende Schulen sind erstens in verschiedene Schularten aufgegliedert, die sich dann wiederum in ihren Strukturmerkmalen, wie in den Voraussetzungen zum Zugang, der Dauer und den erreichbaren Abschlüssen unterscheiden. Zweitens sind die ausbildungsrelevanten Ordnungen, Verordnungen und Lehrpläne teilweise bundeseinheitlich oder landesspezifisch geregelt und geben den jeweiligen und oftmals unterschiedlichen Gestaltungsrahmen vor.[9] Insbesondere ist die stark heterogene Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler in Berufsschulen zu berücksichtigen, die lernzielhomogen zu unterrichten sind – Ansatzpunkt, um z. B. auch lernbeeinträchtigten Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden, ist ein binnendifferenzierter Unterricht, der individualisiertes Lernen und Selbstlernphasen beinhaltet.[10]

Nach Josef Rützel stellt inklusive Bildung "die individuellen Bedürfnisse und Voraussetzungen der Lernenden in den Mittelpunkt und passt das (Berufs-)Bildungssystem an die Bedürfnisse der Lernenden an"[11], dabei sind Barrierefreiheit und Universelles Design Orientierungspunkte für alle Ebenen des Bildungssystems. Barrierefreiheit bezieht er dabei u. a. auf die Struktur des Bildungssystems, die regionale Angebotsstruktur, die Organisation, Zugänglichkeit und Ausstattung der Bildungseinrichtung sowie auf die Curricula und die Lehr- und Lernformen, -materialien sowie -angebote.[12] Euler und Severing führen zur Gestaltung von Curricula aus, dass Ausbildungen idealerweise so strukturiert sind, dass auch beim Nichterreichen eines vollständigen Ausbildungsabschlusses absolvierte Teile geprüft, zertifiziert und dokumentiert werden.[13] Sie gehen davon aus, dass so mehr Jugendliche mit Behinderungen im Regelsystem eine Berufsausbildung absolvieren können.

Neben Barrierefreiheit in allen notwendigen Bereichen der beruflichen Bildung ist die Ausbildung der Lehrenden zu berücksichtigen. Andrea Zoyke skizziert in einem ersten Schritt verschiedene Handlungsfelder von Lehrkräften an beruflichen Schulen zur inklusiven Bildung (vgl. Abbildung 1: "Handlungsfelder von Lehrkräften an beruflichen Schulen zur inklusiven Bildung", Zoyke [2016[, S. 217).

Die Handlungsfelder sind nach Bildungsgang und anhand der Lernenden sowie anderer regional-spezifischer Bedingungen zu interpretieren und anzupassen.[14] Insgesamt kann nach Zoyke zusammenfasst werden, dass die Themen Inklusion bzw. inklusive Berufsbildung "in allen Phasen der Lehrerbildung sowie in allen Bundesländern diesbezügliche Regularien und Angebote vorliegen und in den meisten Ländern Reformen angestoßen wurden."[15] Dennoch bestehe an vielen Stellen ein weiterer Reform- und Entwicklungsbedarf, insbesondere in der Aus- und Weiterbildung Lehrender.[16] Die Deutsche UNESCO-Kommission formuliert hierzu kritischer, dass "Programme zur Ausbildung von Lehrkräften (sowohl innerhalb der Ausbildung als auch berufsbegleitend) neu konzipiert und in Einklang mit inklusiven Ansätzen gebracht werden sollten, um Lehrkräften die notwendigen pädagogischen Kompetenzen zu vermitteln, damit Vielfalt im Klassenzimmer als Chance begriffen werden kann."[17]

Abbildung 1: "Handlungsfelder von Lehrkräften an beruflichen Schulen zur inklusiven Bildung", vgl. Zoyke (2016), S. 217.

 

Zentraler Lösungsansatz zu einer inklusiven Berufsausbildung ist laut der Deutschen UNESCO-Kommission "die Vernetzung und enge Zusammenarbeit von Unternehmen und Betrieben, der allgemeinbildenden und beruflichen Schulen, der Kammern und Innungen, der Träger der beruflichen Rehabilitation, der Integrationsämter sowie der Bundesagentur für Arbeit in lokalen und regionalen Ausbildungsverbünden".[18]

Zusammenzufassen ist, dass es heute bereits eine Vielzahl von theoretischen Ansätzen und Abhandlungen zur Verbesserung der Inklusion in (Berufs-)Schulen gibt, wie z. B. derjenigen in der Veröffentlichung von Kersten Reich zu Inklusion und Bildungsgerechtigkeit (2012). Es gibt aber keine detaillierten Studien, die zum Stand an beruflichen Schulen greifbare Aussagen machen.[19] Zur konkreten Umsetzung sollten in einem ersten Schritt in den Bundesländern die bereits bestehenden gesetzlichen Rahmenbedingungen angewendet sowie spezifische und auf Langfristigkeit angelegte Konzepte entwickelt werden, die idealerwiese bundeslandübergreifend wirken können und den Zugang Behinderter in berufliche Schulen erleichtern und dabei umfassende Barrierefreiheit, wie Rützel sie beschreibt, berücksichtigen. Im Ganzen sind die spezifischen Bedingungen beruflicher Schulen in Abgrenzung zu Schulen der Allgemeinbildung zu berücksichtigen. Die Deutsche UNESCO-Kommission geht davon aus, dass es in Berufsschulen bisher weitgehend an einer gesetzlichen Verankerung von inklusiver Bildung fehlt.[20] Der Aussage steht jedoch gegenüber, dass in Mecklenburg-Vorpommern und anderen Bundesländern jedenfalls bereits einschlägige Regelungen gelten. Das Schulgesetz von Mecklenburg-Vorpommern (SchulG M-V) bestimmt beispielsweise in § 1 Abs. 2 SchulG M-V, dass jeder nach seiner Begabung das Recht auf freien Zugang zu allen öffentlichen Bildungseinrichtungen hat und die Schule in diesem Zusammenhang darauf hinwirkt, dass Benachteiligungen von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen, die aus individuellen Beeinträchtigungen durch die Behinderung resultieren, möglichst weitgehend ausgeglichen werden. Im Weiteren enthält § 34 Abs. 3 SchulG M-V die Bestimmungen, dass die allgemeinbildenden Schulen sowie die beruflichen Schulen den gemeinsamen Auftrag haben, bei der Eingliederung der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in die Gesellschaft mitzuwirken. Das SchulG M-V richtet sich sowohl an allgemeinbildende als auch an berufliche Schulen. Die Inklusionsnormen der Schulgesetze und die Barrierefreiheitsvorgaben der Landesbehindertengleichstellungsgesetze gelten auch für die Berufsschulen.[21] Entgegen der Aussage der Deutschen UNESCO-Kommission mangelt es bisher nicht weitgehend an einer gesetzlichen Verankerung von inklusiver Bildung, sondern an deren konsequenter Umsetzung. Im Weiteren ist die Rolle der Rehabilitationsträger zur Unterstützung der Ausbildung an beruflichen Schulen kritisch zu hinterfragen.[22]

Literatur

Deutsche UNESCO-Kommission: Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik, Bonn, 2014.

Euler, D.; Severing, E.: Impulspapier für die Diskussion: Inklusion in der beruflichen Bildung, Bertelsmann Stiftung: Gütersloh, 2013.

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft: Berufsbildende Schulen auf dem Weg zur Inklusion – GEW Positionen zu einer inklusiven beruflichen Bildung, Beschluss des Hauptvorstands der GEW vom 26.06.2015, Frankfurt am Main, 2015.

Kultusministerkonferenz: Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 20.10.2011, 2011.

Rützel, J.: Inklusion als Herausforderung für die beruflichen Schulen In: Haushalt in Bildung & Forschung 1/2014, S. 61–74.

Universität Trier: Auf dem Weg zur inklusiven Schule: Handreichung zur Umsetzung und Weiterentwicklung, URL: https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb1/prof/PAD/BWI/Inklusion_Handreichung_-_auf_dem_Weg_zur_inklusiven_Schule.pdf.

Zoyke, A.: Inklusive Berufsbildung in der Lehrerbildung für berufliche Schulen. Impressionen und Denkanstöße zur inhaltlichen und strukturellen Verankerung In: Zoyke, A.; Vollmer, K. (Hrsg.): Inklusion in der Berufsbildung: Befunde – Konzepte – Diskussionen, W. Bertelsmann Verlag: Bielefeld, 2016.

Beitrag von Dr. Diana Ramm, Universität Kassel



Fußnoten:

[1] Vgl. Ramm: Wege in die berufliche Bildung für Jugendliche mit Behinderung – Teil 1: Das Recht auf Bildung; Beitrag D20-2017 unter www.reha-recht.de; 31.05.2017.

[2] Vgl. Ramm: Wege in die berufliche Bildung für Jugendliche mit Behinderung – Teil 4: Statistischer Hintergrund zur beruflichen Bildung von Jugendlichen mit Behinderung; Beitrag D27-2017 unter www.reha-recht.de; 28.06.2017.

[3] Vgl. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (2015), S. 1.

[4] Euler/Severing (2013), S. 3.

[6] Vgl. Kultusministerkonferenz (2011), S. 17 ff.

[7] Vgl. z. B. Nordrhein-Westfalen: "Auf dem Weg zur schulischen Inklusion in Nordrhein-Westfalen. Empfehlungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bereich der allgemeinen Schulen"; Mecklenburg-Vorpommern: "Inklusionsstrategie der Landesregierung im Bildungssystem bis 2023".

[8] Vgl. bspw. Landtag von Sachsen-Anhalt vom 21. Juli 2016, Drucksache 7/183 (Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung "Inklusion im Übergang von der Schule in den Beruf"); Landtag Rheinland-Pfalz vom 12. März 2015 (Drucksache 16/4738; Antrag der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN "Gesellschaftliche Teilhabe durch berufliche Bildung stärken – berufsbildende Schulen auf dem Weg zur Inklusion unterstützen").

[9] Vgl. dazu auch Universität Trier (o. J.), S. 25.

[10]Ebd.

[11]Rützel (2014), S. 69.

[12]Vgl. ebd.

[13]Euler/Severing (2013), S. 6; vgl. auch Deutsche UNESCO-Kommission (2014), S. 27.

[14]Vgl. Zoyke (2016), S. 216.

[15]Zoyke (2016), S. 227.

[16]Vgl. ebd.

[17]Deutsche UNESCO-Kommission (2014), S. 24.

[18]Deutsche UNESCO-Kommission (2014), S. 31.

[19]Vgl. Euler (2016), S. 31.

[20]Deutsche UNESCO-Kommission (2014), S. 16.

[21]Vgl. auch Ramm: Wege in die berufliche Bildung für Jugendliche mit Behinderung – Teil 1: Das Recht auf Bildung; Beitrag D20-2017 unter www.reha-recht.de; 31.05.2017.

[22]Vgl. dazu Wendt, Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit für die Kosten eines Gebärdensprachdolmetschers für den Berufsschulunterricht – Anmerkung zu BSG, Urt. v. 04.06.2013 – B 11 AL 8/12 R, Beitrag A27-2013 unter www.reha-recht.de; Gross, Bundes­agentur für Arbeit muss Kosten für eine den Berufsschulunterricht ersetzende Einzelunterrichtung eines Auszubildenden tragen, Beitrag A24-2013 unter www.reha-recht.de; Ulrich, Übernahme der Kosten eines Gebärdensprachdolmetschers bei der Berufsschulausbildung – Anmerkung zu OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 27.10.2011 – 7 A 10405/11, Beitrag A9-2012 unter www.reha-recht.de.


Stichwörter:

Behinderung, Berufsbildung, Berufsausbildung benachteiligter junger Menschen, Schule und Bildung, Berufsschule, Inklusion, Inklusive Bildung


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