30.11.2021 D: Konzepte und Politik Beyerlein, Jahn, Westphal: Beitrag D35-2021

Besserer Zugang zum Recht für Menschen mit Behinderungen durch Legal Tech? – Bericht von der Fachveranstaltung der Aktion Mensch am 29. September 2021

Im vorliegenden Beitrag berichten Michael Beyerlein, Philipp Jahn und Kirsten Westphal über die wesentlichen Inhalte der Fachveranstaltung „Recht und Digitalisierung“ der Aktion Mensch am 29. September 2021. Die Frage, inwiefern „Legal Tech“ Menschen mit Behinderungen das Recht zugänglicher machen kann, stand auf der Tagung im Mittelpunkt der Vorträge und Diskussionen.

Der Beitrag berichtet zunächst über Vorgaben und Implikationen des Völker- und Europarechts, dann über aktuelle, bereits vorhandene Ansätze und Forschungsergebnisse zu Legal Tech-Angeboten. Nach der Darstellung der abschließenden Diskussionsrunde ziehen die Autorin und Autoren ein Fazit zu Chancen und Risiken von Legal Tech-Angeboten im Sozialrecht und im Rehabilitations- und Teilhaberecht. 

(Zitiervorschlag: Beyerlein, Jahn, Westphal: Besserer Zugang zum Recht für Menschen mit Behinderungen durch Legal Tech? – Bericht von der Fachveranstaltung der Aktion Mensch am 29. September 2021; Beitrag D35-2021 unter www.reha-recht.de; 30.11.2021)

I. Einleitung

Legal Tech bezeichnet als Sammelbegriff im weitesten Sinne Informationstechnik (IT), die im juristischen Bereich zum Einsatz gelangt.[1] Dahinter verbirgt sich häufig die Idee der Einführung einer Ablaufverwaltung in Form einer algorithmischen Fertigungsstraße,[2] also die Automatisierung juristischer Tätigkeiten mit Hilfe von IT.

Die Aktion Mensch richtete am 29. September 2021 eine Fachtagung zu der Frage aus, inwiefern digitale Technologien den Zugang zum Recht für Menschen mit Behinderungen verbessern können.[3] Dieser Beitrag stellt deren wesentliche Inhalte vor. Zunächst wird über Vorgaben und Implikationen des Völker- und Europarechts berichtet, dann über aktuelle, bereits vorhandene Ansätze und Forschungsergebnisse zu Legal Tech-Angeboten. Nach der Darstellung der abschließenden Diskussionsrunde ziehen die Autorin und Autoren ein Fazit zu Chancen und Risiken von Legal Tech-Angeboten im Sozialrecht und im Rehabilitations- und Teilhaberecht. 

II. Vorgaben und Implikationen des Völker- und Europarechts

Zunächst beleuchtete Dr. Leander Palleit (Deutsches Institut für Menschenrechte) Anknüpfungspunkte der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu Informations- und Kommunikationstechnologien sowie den Zugang zum Recht. Er führte aus, dass die UN-BRK bereits in der Präambel (Buchstabe v) den Zugang zu Information und Kommunikation als wichtig für die Verwirklichung von Menschenrechten und Grundfreiheiten bezeichne. Zudem schließe die Begriffsbestimmung in Art. 2 zu Kommunikation eine leicht zugängliche Informationstechnologie mit ein. Weiterhin seien Vertragsstaaten nach Art. 4 Abs. 1 lit. g UN-BRK verpflichtet, Forschung und Entwicklung für neue Technologien, die für Menschen mit Behinderungen geeignet sind, sowie ihre Verfügbarkeit und Nutzung, zu fördern. Das beinhalte Informations- und Kommunikationstechnologien. Auch die Verpflichtung aus Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2 lit. g UN-BRK zur Zugänglichkeit schließe die Schaffung barrierefreier Informations- und Kommunikationsdienste ein. Art. 26 Abs. 3 UN-BRK schließlich verpflichte die Vertragsstaaten, die Verfügbarkeit, die Kenntnis und die Verwendung unterstützender Geräte und Technologien, die für Menschen mit Behinderungen bestimmt sind, für die Zwecke der Habilitation und Rehabilitation zu fördern. Als weitere Anknüpfungspunkte stellte er den Grundsatz des universellen Designs[4] und die Regelungen in Art. 12 und 13 UN-BRK zu gleicher Anerkennung vor dem Recht und Zugang zur Justiz vor. Als eine Konkretisierung dieser Vorgaben verwies er zudem auf die internationalen Grundsätze und Leitlinien zum Zugang zur Justiz für Menschen mit Behinderungen, die von den Vereinten Nationen im August 2020 herausgegeben wurden.[5]

Abschließend unterstrich er, dass staatliche Stellen grundsätzlich verpflichtet seien, darauf hinzuwirken, dass neu angeschaffte Technologien die Kriterien an Barrierefreiheit erfüllen. Die Privatwirtschaft sei dagegen weder durch die UN-BRK noch das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) dazu verpflichtet. Sie sollte es aber als ihre Aufgabe begreifen, spezielle Lösungen nach den Grundsätzen des universellen Designs zu entwickeln. Denn wenn neu entstehende Legal Tech-Produkte nicht nach diesen Grundsätzen designt werden, könne das zu mehr Barrieren für Menschen mit Behinderungen führen.

In engem Zusammenhang steht Legal Tech mit Systemen der Künstlichen Intelligenz (KI-Systeme). Der Einsatz von KI-Systemen zur Verbesserung von Abläufen und Ressourcenzuweisung sowie zur Personalisierung der Diensterbringung kann für die Gesellschaft und die Umwelt von Nutzen sein, aber auch erhebliche Nachteile, wie z. B. Diskriminierung oder Verletzungen der Grundrechte, mit sich bringen. Dr. Erik Weiss von der Universität zu Köln stellte vor diesem Hintergrund die Überlegungen der Europäischen Kommission zum Schutz der Gesellschaft und zur Stärkung des Vertrauens in KI-Systeme vor, die sich in einem KI-Verordnungs-Entwurf vom 21. April 2021 niederschlagen. Am Konsultationsprozess zur Entwicklung der EU-Verordnung, die voraussichtlich ab 2025 verbindlich wird, konnten sich auch Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände beteiligen. Zum Schutz der Grundrechte gemäß der EU-Grundrechtecharta und als Herzstück der neuen EU-Verordnung sollen zukünftig alle KI-Systeme einer Risikoanalyse und -abschätzung unterzogen werden. KI-Systeme mit einem unannehmbaren Risiko seien verboten. Von einem unannehmbaren Risiko sei zumeist auszugehen, wenn durch das KI-System die Rechte der Bürger, ihre Sicherheit, Gesundheit oder Lebensgrundlagen zu Schaden kommen, bspw. bei Verhaltens­manipulation. In den drei weiteren Kategorien (hohes, mittleres und niedriges Risiko) sei der Einsatz von KI-Systemen grundsätzlich erlaubt und an unterschiedlich starke Voraussetzungen geknüpft. Zu den KI-Systemen mit einem hohen Risiko seien z. B. Medizinprodukte, die auf einem KI-System basieren, oder KI-Systeme, die die Rechtsanwendung unterstützen sollen, zu zählen, während KI-Systeme zur Interaktion mit natürlichen Personen einem mittleren Risiko unterliegen. Die EU wirke darauf hin, dass KI-Systeme und Informationen dazu möglichst barrierefrei zur Verfügung gestellt werden.

III. Zugang zum Recht durch Legal Tech – Aktuelle Ansätze

Mehrere Referentinnen und Referenten stellten konkrete Ansätze vor, mit denen der Zugang zum Recht durch Legal Tech erleichtert werden kann. Diese reichten von Legal Tech im engeren Sinn bis hin zu Beratungs- und Informationsangeboten.

Richard Stefani vom Unternehmen „refundrebel“ stellte seine Legal-Tech-Plattform zur schnelleren und erfolgreichen Abwicklung von Entschädigungsansprüchen gegen die Deutsche Bahn vor. Neben der Möglichkeit, Entschädigungen für Zugverspätungen durchzusetzen, werden nun auch Menschen mit Behinderungen bei ihren Entschädigungsansprüchen wegen Barrieren z. B. in Zügen unterstützt. Basis für die standardisierten Prozesse der Plattform sei eine eindeutige Rechtslage. Individuelle Ansprüche aus Gesetzen, verbunden mit einer klaren Rechtspflicht der Bahn, seien jedoch nicht vorhanden. Eine Rechtsprechung zur Barrierefreiheit und Entschädigung bei ihrer Verletzung sei im Grunde nicht existent. Umso wichtiger sei es, dass die Bedeutung von Barrierefreiheit hervorgehoben und ihr Nutzen sichtbar gemacht werde, um ein Umdenken der Unternehmen zu erreichen.

Anja Kurth (Deutscher Caritasverband e. V.) stellte die Online-Beratungsplattform der Caritas[6] vor. Mithilfe dieser digitalen Zugangsmöglichkeit will der Deutsche Caritasverband e. V.[7] Sozialberatung auch in hybrider Form bereitstellen und somit mehr Menschen in Notlagen erreichen. Die Referentin betonte, dass der Zugang zur Beratung so niederschwellig wie möglich gehalten sei. Konkret in Aussicht gestellt wurde in naher Zukunft zudem ein Videochat sowie das Angebot der Übersetzung in Leichte Sprache. Darüber hinaus sei die Beratungsplattform open source basiert.[8] Die Grundidee dahinter sei, dass die Software dadurch zum Standard für digitale Beratung im gemeinnützigen Bereich werden könne und der Weiterentwicklungsaufwand von mehreren verschiedenen Akteuren getragen werden könne.

Alisha Andert (This is Legal Design) referierte in ihrem Vortrag über „legal design“ – eine Methode zur nutzerorientierten Gestaltung digitaler Technologien im Bereich des Rechts. Dabei reflektierte sie die Möglichkeiten, die der legal design Ansatz für die Entwicklung innovativer Anwendungen, u. a. auch im Sozialrecht, bietet. Zwar stießen Legal Tech Portale in eine bestehende Lücke, wenn es darum ginge, Verbraucherinnen und Verbraucher den Zugang zum Recht zu erleichtern; allerdings zeige sich auch, dass der Einsatz von Technologien an sich noch keine nachhaltige Verbesserung bestehender Angebote bewirke. Dafür ermögliche die legal design Methode aber die Gestaltung digitaler Prozesse auf der Basis von identifizierten Nutzerbedürfnissen.

Dr. Philipp Hammerich (rightmart) legte in seinem Beitrag die rechtlichen Rahmenbedingungen des legal tech Marktes dar. Die Online-Rechtsberatung seiner Kanzlei biete eine niedrigschwellige und kostenlose Möglichkeit herauszufinden, ob es überhaupt notwendig sei, einen Rechtsbeistand einzuschalten. Auf Wunsch erfolge im Anschluss eine Erstberatung oder auch eine rechtliche Vertretung im gesamten Verfahren. Insbesondere die Mandatsabwicklung, aber auch das Einlegen von Widersprüchen im SGB II Bereich ließen sich automatisieren. Jedoch funktioniere das sonst für Legal Tech-Anbieter übliche Prozessfinanzierungsmodell im Sozialrecht nicht.

Andrea Kurtenacker (Institut der Deutschen Wirtschaft, Köln) stellte in ihrem Vortrag das Portal rehadat.de vor. Das Portal unterstützt den Zugang zum Recht insbesondere durch die Sammlung von Literatur, Urteilen und Gesetzestexten. Auch haben Nutzer die Möglichkeit, sich über Fördermöglichkeiten und die Beantragung von Hilfsmitteln zu informieren. Verschiedene Texte finden sich auf dem Portal auch in Leichte Sprache übersetzt.

IV. Empirische Befunde

Einen Beitrag zu aktueller Forschung über Legal Tech und Rechtsmobilisierung lieferte Prof. Dr. Britta Rehder (Ruhr-Universität Bochum). Sie stellte Ergebnisse des Projekts „Digitale Rechtsmobilisierung. Eine Provokation für die Sozialverwaltung?“ dar. Das Projekt untersucht die Veränderungen in sozialpolitischen Akteurskonstellationen sowie die sich verändernden Zugangsmöglichkeiten zum Rechtssystem, die durch digitale Angebote der Rechtsmobilisierung entstehen.[9] Dafür wurden Anbieter und Geschäftsmodelle von Legal Tech betrachtet.

Legal Tech biete die Möglichkeit, einen niedrigschwelligen Zugang zum Recht zu schaffen, Rechte kostengünstig durchzusetzen und auch vorhandene Machtasymmetrien aufzuheben. Dabei habe Legal Tech vor allem im Verbraucherschutz[10] ein „Heimspiel“.

Die Untersuchungen zeigten, dass sich bereits bestehende Legal Tech-Angebote auf spezifische Teilrechtsgebiete wie SGB II (sog. Hartz IV), Mietrecht, sowie Hilfs- und Heilmittel und Arzthaftungsrecht fokussieren. In der Hälfte der untersuchten Fälle wurden Informationstechnologien genutzt, um Kunden zu generieren. Die andere Hälfte nutzt die Technologie entsprechend, um rechtliche Prozesse zu automatisieren. Das Sozialrecht spiele dabei zahlenmäßig jedoch eher eine Nebenrolle. Das liege u. a. daran, dass sozialrechtliche Klientinnen und Klienten aufgrund ihres häufig geringen Einkommens für Kanzleien wenig attraktiv seien. Auch sei gerade im Sozialrecht die Grenze zwischen Sozial- und Rechtsberatung oft unscharf.[11]

Die Frage, ob Menschen mit Behinderungen eine gute Zielgruppe für Legal Tech sein können, könne nicht so einfach beantwortet werden. Einerseits gebe es eine große und heterogene Zahl an potenziellen Klientinnen und Klienten, die Kanzleien über verschiedene Rechtsgebiete begleiten könnten. Auch andere Akteure in dem Feld wie Sanitätshäuser oder Leistungserbringer wären potenzielle Koalitionspartner mit ähnlichen Interessen.[12] Andererseits gebe es gerade in diesem Bereich komplexe Konstellationen, die einer Automatisierung nicht ohne Weiteres zugänglich seien und die auch die Grenze zur Sozialberatung tangieren oder überschreiten. Ebenso seien Konflikte mit etablierten Akteuren des Felds wie Sozialverbänden und Gewerkschaften zu erwarten.

V. Diskussionsrunde

In der abschließenden Diskussionsrunde diskutierten die Referentinnen und Referenten der Tagung und Ottmar Miles-Paul (Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V.), ob Legal Tech die Chancen für einen gleichwertigen Zugang zum Recht für Menschen mit Behinderungen verbessern kann.

Miles-Paul verwies eingangs auf Regelungslücken im deutschen Recht, die den Zugang zum Recht und die Rechtsdurchsetzung behindern würden. So binde das BGG nur die Träger öffentlicher Gewalt.[13] Es sei jedoch nötig, die Voraussetzungen zu schaffen, auch private Unternehmen (wie in den USA) wegen fehlender Barrierefreiheit rechtlich belangen zu können. Da neben einer kompetenten Rechtsberatung für Menschen mit Behinderungen aber vielfach auch eine soziale Beratung nötig sei, spiele die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) nach § 32 SGB IX eine wichtige Rolle.

Das wurde in der weiteren Diskussion aufgegriffen. Während Philipp Hammerich noch Vorbehalte von Sozialverbänden und vergleichbaren Akteuren sah, berichtete Richard Stefani, dass aktuell schon Kooperationen zwischen refundrebel und einzelnen Verbänden bestünden. Dagmar Küster von der EUTB Wuppertal merkte an, dass Kooperationen mit Legal Tech-Anbietern grundsätzlich zu begrüßen seien, aber so ausgestaltet werden müssten, dass die gesetzlich geforderte Unabhängigkeit der EUTB sichergestellt sei.

Weiter wurde diskutiert, inwiefern Legal Tech auch bei Sachverhalten angewendet werden kann, bei denen der Verwaltung Ermessen eingeräumt ist. Es sei schwierig, aber nicht unmöglich, auch in solchen Fällen automatisierte Dienstleistungen anzubieten. Durch gerichtliche Rechtsfortbildung könnten Wertungsbegriffe zudem definierbarer werden. Leander Palleit ergänzte jedoch kritisch, dass die für Legal Tech benötigte Standardisierung in vielen Fällen wohl nicht mit dem Individualisierungsgebot der UN-BRK vereinbar sei.

Thematisiert wurde auch, ob Legal Tech helfen könne, Recht verständlicher zu machen. Hier wurde von Miles-Paul einerseits die Möglichkeit gesehen, die Ansprüche des Leistungsrechts durch die Aufbereitung und Vereinfachung von Legal Tech-Anbietern sichtbarer zu machen und so am Ende ein besseres Verständnis zu schaffen. Britta Rehder wandte jedoch ein, dass Legal Tech zwar niedrigschwellig und demokratisierend sei, aber nicht automatisch dazu führe, dass Recht an sich und die Prozesse seiner Durchsetzung besser verstanden würden.

Abschließend plädierten Ottmar Miles Paul und Erik Weiss dafür, Legal Tech-Angebote so zu konzipieren, dass sie einen Beitrag zur Rechtsdurchsetzung für Menschen mit Behinderungen leisten können. Dieser könne in einer Vereinfachung von Kommunikationsprozessen und einer verständlichen Aufbereitung von Anspruchs­voraussetzungen liegen.

VI. Fazit

Die Frage der Fachtagung, ob Legal Tech einen besseren Zugang für Menschen mit Behinderungen zum Recht schaffen kann, kann insbesondere im Hinblick auf die Durchsetzung sozialrechtlicher Ansprüche mit „vielleicht“ beantwortet werden.

Einerseits zeigen die Beiträge, dass die Standardisierung von Mandatsprozessen potenziell ein größeres Angebot an sozialrechtlichen Prozessvertretungen schaffen könnte. Das sonst für Kanzleien wenig lukrative Feld Sozialrecht würde so einträglicher, der Markt für Menschen mit Behinderungen, die ihre Rechte durchsetzen wollen, größer. Der Prozess, in dem z. B. Bescheide von Grundsicherungsträgern mit wenigen, gezielt aus der Rechtsmaterie herauskristallisierten Fragefeldern überprüft werden können, hat zudem das Potenzial, einen niedrigschwelligen Zugang zum Recht zu schaffen, was zu begrüßen ist.

Die Beiträge der Tagung zeigen aber auch, dass Legal Tech-Anwendungen dann am besten funktionieren, wenn Voraussetzungen und Rechtsfolgen klar definiert sind und wenig Wertungsspielraum enthalten.

Standardisierung und Automatisierung stehen im Konflikt mit dem Grundsatz der Individualisierung des Teilhaberechts.[14] Diese Individualisierung wird ohne persönlichen Austausch und Beratung bei der Leistungsauswahl und der Durchsetzung von Rechtsansprüchen wohl nicht zu erreichen sein. Zu dem Schluss kommt auch der Bundesgerichtshof (BGH), der formuliert, dass eine umfassende Beratung von Leistungsberechtigten die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems ist.[15] Damit Menschen mit Behinderungen in einem komplexen Leistungssystem den Zugang zum Recht finden, wird es in vielen Fällen eine Übersetzungsleistung brauchen. Beratungseinrichtungen haben dementsprechend eine Scharnierfunktion.[16] Auf der Tagung wurden EUTB-Stellen nach § 32 SGB IX als solche „Scharniere“ angeführt. Sie könnten zusammen mit den nachfragenden Menschen den rechtlichen Kern ihrer aktuellen Problemlage herausarbeiten und die Ratsuchenden auf Möglichkeiten hinweisen, ihre Ansprüche geltend zu machen.[17] Wenn der Weg dann zu einem niedrigschwelligen und barrierearmen Legal Tech-Angebot führt, kann diese Technik ihren Beitrag zum Zugang zum Recht für Menschen mit Behinderungen leisten.

Literaturverzeichnis

Kohte, Wolfhard, § 32 SGB IX. In: Werner Feldes, Wolfhard Kohte und Eckart Stevens-Bartol: SGB IX. Sozialgesetzbuch Neuntes Buch: Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, 4. Auflage, Frankfurt am Main 2018.

Timmermann, Daniel, Legal Tech-Anwendungen, Rechtswissenschaftliche Analyse und Entwicklung des Begriffs der algorithmischen Rechtsdienstleistung, Recht und Digitalisierung | Digitization and the Law, Band 3, Baden-Baden 2020.

Wagner, Jens, Legal Tech und Legal Robots, Wiesbaden 2020.

Weyrich, Katharina, „Eine umfassende Beratung ist die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems“, Beitrag D17-2019 unter www.reha-recht.de; 11.10.2019.

Beitrag von Michael Beyerlein, Universität Kassel; Philipp Jahn, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Kirsten Westphal, Deutsche Vereinigung für Rehabilitation e. V.

Fußnoten

[1] Wagner, Legal Tech und Legal Robots 2020, S. 2.

[2] Timmermann, Legal Tech-Anwendungen 2020, S. 36.

[3] Der Titel lautete: „Recht und Digitalisierung: Bessere Chancen für einen gleichwertigen Zugang zum Recht für Menschen mit Behinderung durch Legal Tech?“.

[4] Wonach z. B. Programme und Apps so zu gestalten sind, dass sie auch von Menschen mit Behinderungen ohne Anpassungen genutzt werden können.

[5] Das Dokument ist hier in verschiedenen Sprachen (leider nicht in Deutsch) abrufbar: https://www.ohchr.org/EN/Issues/Disability/SRDisabilities/Pages/GoodPracticesEffectiveAccessJusticePersonsDisabilities.aspx, zuletzt abgerufen am 30.11.2021.

[6] Siehe https://www.caritas.de/hilfeundberatung/onlineberatung/onlineberatung, zuletzt abgerufen am 30.11.2021.

[7] Als Zusammenschluss von rund 6.200 rechtlich unabhängigen Trägern organisiert der Deutsche Caritasverband e. V. die soziale Arbeit der katholischen Kirche.

[8] Das bedeutet, dass der Quelltext der Software öffentlich zur Verfügung steht und von Dritten eingesehen, geändert und genutzt werden kann.

[9] Vgl. https://www.fis-netzwerk.de/foerderung/gefoerderte-projekte/forschungsprojekte/digitale-rechtsmobilisierung-eine-provokation-fuer-die-sozialverwaltung-legaltech, zuletzt abgerufen am 30.11.2021.

[10]  Wo Anspruchsvoraussetzungen und Rechtsfolgen wie in der Flugastrechteverordnung (Verordnung (EG) Nr. 261/2004) sehr deutlich festgelegt sind.

[11] Vgl. dazu Weyrich, „Eine umfassende Beratung ist die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems“; Beitrag D17-2019 unter www.reha-recht.de; 11.10.2019.

[12] Anm.: In der Regel wohl die Bewilligung von Hilfsmitteln oder Leistungen durch Sozialleistungsträger.

[13] Dienststellen und sonstige Einrichtungen der Bundesverwaltung sowie weitere Einrichtungen. Siehe § 1 Abs. 1a BGG.

[14] Art. 26 Abs. 1 lit. a UN-BRK, § 8 Abs. 1 S. 2 SGB IX.

[15] BGH, Urteil vom 02.08.2018 – III ZR 466/16 –, Rn. 15, juris.

[16] Weyrich, „Eine umfassende Beratung ist die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems“; Beitrag D17-2019 unter www.reha-recht.de; 11.10.2019, S. 3.

[17] Eine Vertretung der Berechtigten im Widerspruchs- und Klageverfahren durch die EUTB ist gesetzlich nicht vorgesehen. Das ist weiterhin ein wichtiges Handlungsfeld von Betroffenen- und Sozialverbänden, Gewerkschaften oder der Anwaltschaft. Vgl. Kohte, § 32, Rn. 11 in: Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX.


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