21.11.2016 D: Konzepte und Politik Goldbach/Ramm/Schimank: Beitrag D49-2016

Tagungsbericht 10. Deutscher REHA-Rechtstag; Teil 1: Bundesteilhabegesetz

Christiane Goldbach, Diana Ramm und Cindy Schimank berichten vom 10. Deutschen REHA-Rechtstag, der am 5. Oktober 2016 in Berlin stattfand und von der Deutschen Gesellschaft für medizinische Rehabilitation (DEGEMED), der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) und der DeutscheAnwaltAkademie veranstaltet wurde.

Themen der Vorträge waren u. a. die Einkommens- und Vermögensanrechnung in der Rehabilitation, die Vergütung und Belegung in Rehabilitationseinrichtungen durch die gesetzlichen Krankenkassen sowie das Gesetz zur Korruptionsbekämpfung im Gesundheitswesen. In zwei Arbeitsgruppen wurde zum Entwurf des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) und zur Beschaffung von Rehabilitationsleistungen nach dem Vergaberechtsmodernisierungsgesetz diskutiert.

Im vorliegenden ersten Teil liegt der Fokus auf den Tagungsinhalten, die sich mit dem BTHG befassten. In zwei Vorträgen und einer Stellungnahme erfolgte eine Auseinandersetzung mit dem Entwurf des BTHG sowie der Einkommens- und Vermögensanrechnung in der Rehabilitation. Zudem berichten die Autorinnen aus der Arbeitsgruppe zum BTHG-Entwurf, in der u. a. die neuen Regelungen zum Leistungszugang, die Koordinierung von Leistungen sowie die Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe und Pflege diskutiert wurden.

(Zitiervorschlag: Goldbach/Ramm/Schimank: Tagungsbericht 10. Deutscher REHA-Rechtstag; Teil 1: Bundesteilhabegesetz; Beitrag D49-2016 unter www.reha-recht.de; 21.11.2016.)


 

I. Hintergrund

Am 5. Oktober 2016 fand in Berlin der 10. Deutsche REHA-Rechtstag statt. Der REHA-Rechtstag wurde veranstaltet von der Deutschen Gesellschaft für medizinische Rehabilitation (DEGEMED), der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) und der DeutscheAnwaltAkademie.

Themen der Vorträge waren u. a. die Einkommens- und Vermögensanrechnung in der Rehabilitation, die Vergütung und Belegung in Rehabilitationseinrichtungen durch die gesetzlichen Krankenkassen und das Gesetz zur Korruptionsbekämpfung im Gesundheitswesen. In zwei Arbeitsgruppen wurde zum Entwurf des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) und zur Beschaffung von Rehabilitationsleistungen nach dem Vergaberechtsmodernisierungsgesetz diskutiert.

In diesem Teil werden die Beiträge zum Bundesteilhabegesetz dargestellt.

II. Vorträge am Vormittag

1. Der Entwurf des Bundesteilhabegesetzes

Nach der Begrüßung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer referierte Wolfgang Rombach (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Berlin) zum Entwurf des Bundesteilhabegesetzes. Eingangs benannte er als Ziele des BTHG erstens die Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und zweitens die Vermeidung einer neuen Ausgabendynamik in der Eingliederungshilfe. Mit dem BTHG erfolgt eine Neufassung des Sozialgesetzbuchs (SGB) IX in drei Teilen. Im ersten Teil ist das allgemeine Rehabilitations- und Teilhaberecht gefasst. Das Eingliederungshilferecht wird aus dem bisherigen SGB XII (Kapitel 6) gelöst und in Teil 2 neu verortet, womit das SGB IX insoweit zu einem Leistungsgesetz wird. Die Bestimmungen zum Schwerbehindertenrecht finden sich dann in Teil 3 des SGB IX.

Rombach zeigte exemplarisch an verschiedenen Regelungen die geplanten Veränderungen auf. So führte er z. B. zum Behinderungsbegriff[1] aus, dass die Neuformulierung mit dem Ziel verbunden sei, Rechtsklarheit herzustellen und das Bewusstsein für ein zeitgemäßes Verständnis von Behinderung im Sinne der UN-BRK zu schärfen.[2] Zum Teilhabeplanverfahren[3] sagte er, dass dieses verbindlich und abweichungsfest mit dem Ziel klarer Zuständigkeiten und der Sicherstellung der Leistungsgewährung „wie aus einer Hand“ gestaltet werden solle. So werde die Leistungsverantwortung verbindlich geklärt und die Bedarfsermittlung nach einheitlichen Maßstäben ausgestaltet.

Mit der geplanten unabhängigen Teilhabeberatung[4] solle die Position der Leistungsberechtigten gegenüber den Rehabilitationsträgern und Leistungserbringern im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis gestärkt werden. Vor Auslaufen der befristeten Mittel werde es einen Bericht dazu geben, ob sich das Instrument bewährt hat. Auf dieser Grundlage solle dann über eine weitere finanzielle Förderung beraten werden.[5]

Zur Anrechnung von Einkommen und Vermögen[6] führte er aus, dass sich im ersten Reformschritt der Einkommensfreibetrag für Erwerbstätige faktisch um bis zu 260 Euro pro Monat erhöhe; der Vermögensfreibetrag solle auf 25.000 Euro angehoben werden. Bei der Anrechnung von Partnereinkommen komme es im ersten Reformschritt noch zu keiner Veränderung. Ab 2020 sollen Partnereinkommen und -vermögen jedoch vollständig freigestellt werden und der Vermögensfreibetrag 50.000 Euro betragen.

Zu Änderungen im Schwerbehindertenrecht[7] führte Rombach beispielsweise aus, dass eine Präzisierung und eine Stärkung der Rechte von Schwerbehinderten angestrebt werden. Schwerbehindertenvertretungen sollen u. a. durch eine Absenkung der Schwellenwerte für Freistellungen gestärkt werden und es ist die Wahl von Frauenbeauftragten in Werkstätten für behinderte Menschen vorgesehen.[8]

Eine Bewertung der Ausführungen von Rombach nahm Claudia Tietz (SoVD, Berlin) vor. Sie stellte die „7-Punkte-Kritik“[9] des SoVD zum Teilhabegesetz vor. Insgesamt kommt der SoVD zu der Einschätzung, dass der Gesetzentwurf das erklärte Ziel, die Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu verbessern, bislang nicht erreicht.

Zur Einkommens- und Vermögensunabhängigkeit der Eingliederungshilfe führte sie aus, dass diese durch das BTHG nicht erreicht und auch nicht schrittweise angestrebt werde. Positiv hob sie hervor, dass Partnereinkommen nicht mehr herangezogen und die Vermögensfreigrenzen deutlich angehoben werden sollen. Sie kritisierte hingegen, dass die Mehrheit der Betroffenen neben der Eingliederungshilfe weiter auf existenzsichernde Leistungen angewiesen bleibe. Damit Verbesserungen auch bei diesen Personen greifen, müssten die Vermögensfreigrenzen der Grundsicherung (SGB XII) angehoben werden.

Im Weiteren werden aus Sicht der Referentin die Selbstbestimmungsrechte behinderter Menschen nicht gestärkt. So sei die gemeinschaftliche Inanspruchnahme durch mehrere Leistungsberechtigte („Poolen“ von Leistungen) nicht von der Zustimmung der Betroffenen abhängig. Damit werde das Recht auf Selbstbestimmung und individuelle Unterstützungsangebote eingeschränkt und stationäre Settings gefördert. Es wird befürchtet, dass Betroffene künftig aufgrund der Vielzahl von Leistungsträgern mit unterschiedlichen Rechtssystemen und Leistungs- sowie Anrechnungsregelungen sowie aufgrund der verschiedenen Leistungsanbieter das System nicht vollständig erfassen können. So brauche es ein mehr an Koordination der Akteure im Leistungs- und Leistungserbringungsrecht. Eine Kompensation durch die unabhängigen Beratungsangebote wird an dieser Stelle nicht für möglich gehalten.

Verschlechterungen drohen aus Sicht des SoVD insbesondere im Verhältnis zum Bereich Pflege. Es wird befürchtet, dass beim ambulanten Wohnen der Zugang zur Eingliederungshilfe beschränkt wird und eine Abkehr vom Grundsatz „Reha vor und bei Pflege“ erfolge. Die Eingliederungshilfe als Rehabilitationsleistung mit ihrem Befähigungsansatz trete hinter Pflegeleistungen zurück. Nach der Kritik des SoVD ist die Ausnahme, wonach der Vorrang der Pflege vor Eingliederungshilfe nicht gilt, wenn die Person Erwerbseinkommen hat, abzulehnen, denn Rehabilitations- und Teilhabeleistungen benötige eine Person unabhängig von ihrem Erwerbsstatus. Der SoVD fordere daher, Leistungen der Eingliederungshilfe gegenüber den Leistungen der Pflegeversicherung nicht nachrangig zu behandeln. Eine nach Lebensalter differenzierende Regelung zwischen Eingliederungshilfe und Pflege, wie sie vom Bundesrat vorgeschlagen wurde, wird als Diskriminierung aufgrund des Alters abgelehnt.

Insgesamt wird vor einer föderalen Zersplitterung des Rechts der Eingliederungshilfe gewarnt[10], denn damit würden ein bundesweit einheitliches Teilhaberecht und gleichwertige Lebensverhältnisse der Menschen mit Behinderungen in Deutschland gefährdet.

2. Einkommens- und Vermögensanrechnung in der Rehabilitation

Dr. Oliver Tolmein (Kanzlei Menschen und Rechte, Hamburg) ging in seinem Vortrag zunächst auf den Behinderungsbegriff im derzeitigen Sozialrecht ein. Dieser beschreibe die Teilhabeeinschränkung als Folge der Funktionsbeeinträchtigung und stehe damit im Widerspruch zur UN-BRK, die von einem Wechselverhältnis mit der Umwelt ausgehe. Ebenfalls im Gegensatz zur UN-BRK, die ihrem Wortlaut nach die „volle und wirksame Teilhabe“ in allen Lebensbereichen (vgl. u. a. Art. 26 Abs. 1, 29, 30 UN-BRK) fordert, liege dem deutschen Sozialrecht ein reduziertes Teilhabeverständnis zugrunde[11] bzw. zeige sich, dass eine „Nicht-Teilhabe“ akzeptiert wird[12]. Hinzu trete, als Resultat des Nachrangigkeitsgrundsatzes der Sozialhilfe, dass zwischen einzelnen Teilhabeleistungen differenziert werde. So erfolge keine Anrechnung bei Arbeitsassistenzleistungen; bei Assistenzleistungen in den Bereichen Kultur und Freizeit hingegen, haben Leistungsberechtigte ihr Einkommen und Vermögen einzusetzen. Auch die Vorschriften zur Privilegierung zur Aufbringung der Mittel nur für die Kosten des Lebensunterhalts in § 92 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 SGB XII stellten eine „Privilegierung am unteren Ende“ dar. So blieben Leistungen in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM), deren Teilhabecharakter grundsätzlich umstritten sei, anrechnungsfrei. Im Ergebnis bewirkten die Anrechnungsvorschriften, dass das Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe, um den Preis der wirtschaftlichen Schlechterstellung, zum Problem der einzelnen Person wird. So müsse bspw. ein gehörloser Studierender zur Finanzierung eines Gebärdensprachdolmetschers sein Vermögen einsetzen, obwohl er keine Möglichkeit habe, an deutschen Hochschulen in Gebärdensprache zu studieren. Bei konventionskonformer Rechtsanwendung sei dies jedoch eine gesellschaftliche Barriere, die Teilhabe verhindere und der man mit angemessenen Vorkehrungen entgegenwirken müsse.[13]

Abschließend ging der Referent auf die geplanten Änderungen im BTHG ein, mit denen die geforderte völlige Freistellung von der Einkommens- und Vermögensanrechnung nicht erreicht werde. Vielmehr sei eine Reihe von Fallkonstellationen denkbar, in denen sogar Verschlechterungen eintreten werden.[14] Aber auch Fälle, in denen es faktisch zu einer Verbesserung der Situation komme, seien kritisch zu betrachten. Der Maßstab für Verbesserungen dürfe nicht der Vergleich zwischen geplanter und jetziger Rechtslage sein, sondern die Diskriminierungsfreiheit im Vergleich zur gesamten Gesellschaft. Ein wesentliches Problem sei zudem, dass bei Grundsicherungsleistungen die alten Regelungen bestehen bleiben. Letztlich werde der neue Behinderungsbegriff, der das Konzept der Wechselwirkung zwar im Wortlaut aufgreife, durch den Entwurf des BTHG in seiner Dimension jedoch nicht wahrgenommen und nicht umgesetzt.

III. Arbeitsgruppen

1. Bundesteilhabegesetz: Diskussion des Entwurfs

In der von Prof. Dr. Felix Welti (Universität Kassel) geleiteten Arbeitsgruppe befassten sich die Teilnehmenden mit verschiedenen Aspekten des Regierungsentwurfs des Bundesteilhabegesetzes. Als Diskussionsgrundlage dienten die Vorträge des Vormittags. Als Experte und Expertin waren Marc Nellen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Berlin) und Claudia Tietz vertreten.

Einen Hauptdiskussionspunkt stellte die Zugangsregelung in § 99 SGB IX-E dar.[15] Mehrere Teilnehmende hinterfragten den Ursprung der Regelung und kritisierten, dass weder die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) noch die UN-BRK die Vorschrift stützten. Es wurde vermutet, der Ursprung liege in den früheren Diskussionen um ein Teilhabegeld. Für eine solche Leistung ohne weitere Prüfung des Bedarfs bedürfe es eines abstrakten Zugangskriteriums, nicht jedoch für eine ohnehin am Kriterium der Erheblichkeit und des individuellen Bedarfs geprüfte Leistung.

Nellen meinte, dass wegen des neu gefassten Behinderungsbegriffs auch der Leistungszugang neu definiert werden müsse. Die erhebliche Kritik werde ernst genommen. Dazu, ob man die Begrifflichkeiten im Wortlaut ändern wird, äußerte sich Nellen zunächst skeptisch. An späterer Stelle erklärte er jedoch, dass es Überlegungen gebe, die Regelungen zu den Ermessensleistungen zu verschärfen und dass es im parlamentarischen Rahmen z. T. Diskussionen gebe auf § 99 SGB IX-E zu verzichten. Eine Grenze hielt er dennoch für nötig, um den Personenkreis nicht auszuweiten. Eine große Rolle komme dabei der Evaluation zu. Geplant sei in bundesweiten Modellregionen Leistungsträger auszuwählen, die virtuell Fälle bearbeiten. Tietz forderte, ähnlich wie bei der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs[16], eine Evaluation vor der Gesetzesänderung. Diese sei, erwiderte Nellen, aufgrund des engen Zeitfensters nicht möglich. Erfragt wurde zudem, ob das sog. „untere Auffangnetz“ wegfällt, wenn Menschen die Voraussetzungen des § 99 SGB IX-E nicht erfüllen, das auch benötigt wird, um das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum sicherzustellen. Nellen verwies diesbezüglich auf das SGB XII, das weiterhin „Hilfen in anderen Lebenslagen“ vorsehe.

Thematisiert wurde auch die Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs in Teil 1 und Teil 2 des SGB IX (§§ 13, 14 sowie §§ 117 ff. SGB IX-E). Die fehlende Verknüpfung von Teil 1 mit der ICF sowie die uneinheitliche Verwendung von Begrifflichkeiten (Beeinträchtigung/Behinderung) wurden dabei kritisiert. Die fehlende ICF-Orientierung in Teil 1 sei die Antwort auf das gegliederte Sozialleistungssystem und die verschiedenen Bedarfsermittlungsmethoden, so Nellen. Eine Anpassung und Vereinheitlichung der Begrifflichkeiten würden im Rahmen eines Bereinigungsgesetzes erfolgen.

Die Koordinierung der Leistungen (§§ 14 ff. SGB IX-E) betreffend, wurde die Befürchtung geäußert, dass § 14 SGB IX-E so gelesen werden könnte, dass Drittweiterleitungen (§ 14 Abs. 3 SGB IX-E) häufiger werden. Nellen verwies auf die Umsetzungsprobleme der heutigen Verfahrensvorschriften und erklärte, dass er die Neuerungen, insbesondere die Erstattungsregelungen (§ 16 SGB IX-E), für geeignet halte die Verfahren zu beschleunigen. Tietz hingegen bewertete die Vorschriften als äußerst kompliziert. Daran anknüpfend wurde gefragt, ob die Verwaltung ausreichend geschult sei, um die Vorschriften sachgemäß umzusetzen. Nellen bestätigte den hohen Schulungsbedarf und erklärte, dass Kosten hierfür im Gesamtpaket, über die Ausweitung der Beteiligung des Bundes an den Kosten der Grundsicherung, einkalkuliert seien. Darüber hinaus wurde die Verankerung eines Rechtsanspruchs auf eine Teilhabekonferenz für Leistungsberechtigte in § 20 SGB IX-E seitens der Teilnehmenden gefordert. Laut Nellen, sei ein solcher Anspruch mit hohen Kosten verbunden und daher unwahrscheinlich.

Gegenstand vertiefter Diskussionen waren zudem die Schnittstelle Eingliederungshilfe und Pflege, die Regelung des § 43a SGB XI und der Vorschlag aus Nordrhein-Westfalen (NRW) eines sogenannten „Lebenslagenmodells“, das eine Altersgrenze als Abgrenzungskriterium vorsieht. Nellen beschrieb die „Vorrang-Nachrangregelung“ als Reaktion auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, der Teilhabeelemente beinhalte. Die Beibehaltung des Gleichrangverhältnisses lehnte er ab, der Vorschlag aus NRW hingegen werde intensiv geprüft.[17] Der verfassungsrechtlichen Bedenken sei man sich bewusst. Den § 43a SGB XI beschrieb er als Kostendeckelungsvorschrift für die gesetzliche Pflegeversicherung, auf deren Beibehaltung das Bundesministerium für Gesundheit bestehe.[18]

Darüber hinaus forderte Tietz, den Grundsatz „ambulant vor stationär“ ausdrücklich in § 104 SGB IX-E zu verankern (vormals § 13 Abs. 1 S. 2 SGB XII) und „besondere Wohnformen“ aufzunehmen, so wie es auch Art. 19 UN-BRK vorsehe. Allein der Hinweis, dass die Unterscheidung zwischen ambulant und stationär rechtlich wegfällt, reiche nicht aus, da er praktisch dennoch weiter existiere.

Es wurde weiter kritisch hinterfragt, weshalb das Kriterium des „alterstypischen Zustandes“ im Behinderungsbegriff beibehalten werde – die UN-BRK liefere hierfür keine Rechtfertigung. Nellen erklärte hierzu, der Begriff definiere auch Leistungen anderer Bücher des SGB und solle nicht so weit ausstrahlen. Zudem stehe nirgendwo geschrieben, dass mit dem BTHG die UN-BRK umgesetzt werden solle. Unter Verweis auf den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK (NAP), der das BTHG mehrfach als Maßnahme nennt, kritisierte Tietz diese Aussage scharf.

Zu den weiteren Themen zählten die Einkommens- und Vermögensanrechnung und die Problematik, dass Menschen, die gleichzeitig Grundsicherung und Eingliederungshilfe beziehen, nicht von den Veränderungen profitieren. Nellen erklärte hierzu, dass das Ziel des BTHG eine Reform der EGH sei und nicht der Grundsicherung. In der politischen Diskussion stehe jedoch eine Erhöhung der Vermögensfreibeträge. In einem weiteren Redebeitrag wurde aus der Anwaltschaft die Befürchtung geäußert, dass die Einrichtung unabhängiger Beratungsstellen (§ 32 SGB IX-E) Beratungsangebote von Rechtsanwälten obsolet machen könnte. Welti verwies hierzu auf die Fachtagung „Partizipation und Beratung im Teilhaberecht“[19], auf der deutlich herausgearbeitet worden sei, dass der Hauptschwerpunkt dieser Beratungsstellen nicht die Rechtsberatung sein werde. Zu den weiteren Inhalten der Arbeitsgruppe zählten die Regelungen zu den Investitionskosten sowie zum Sozialdatenschutz.

Beitrag von Christiane Goldbach, LL.M., und Diana Ramm, M. A., beide Universität Kassel; Cindy Schimank, LL.M., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Fußnoten:

[1] Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung zum BTHG, BT-Drs. 18/9522 Punkt II.1.1; § 2.

[2] Frehe: Kritik am Behinderungsbegriff des Bundesteilhabegesetzentwurfes; Beitrag D27-2016 unter www.reha-recht.de; 18.07.2016.

[3] Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung zum BTHG, BT-Drs. 18/9522 Punkt II.1.2; § 14.

[4] Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung zum BTHG, BT-Drs. 18/9522 Punkt II.1.3; § 32.

[5] Vertiefend zur unabhängigen Teilhabeberatung siehe: Giese et al.: Tagungsbericht Fachtagung Partizipation und Beratung im Teilhaberecht am 09.09.2016 in Kassel; Beitrag D42-2016 unter www.reha-recht.de; 20.10.2016; Welti: Beratung im Recht – am Beispiel der Beratung für und durch behinderte Menschen; Beitrag D41-2016 unter www.reha-recht.de; 18.10.2016 sowie Jordan/Wansing: Peer Counseling: Eine unabhängige Beratungsform von und für Menschen mit Beeinträchtigungen – Teil 1: Konzept und Umsetzung; Beitrag D32-2016 unter www.reha-recht.de; 11.08.2016.

[6] Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung zum BTHG, BT-Drs. 18/9522 Punkt II.2.3.

[7] Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung zum BTHG, BT-Drs. 18/9522Punkt II.4.

[8] Zur Kritik an den geplanten Neuerungen des Schwerbehindertenrechts siehe Kohte, Gutachten mit Vorschlägen für verbessertes Informations- und Anhörungsrecht der Schwerbehindertenvertretung in der Infothek des Diskussionsforums Rehabilitations- und Teilhaberecht sowie die dazugehörigen Kommentare, abrufbar unter www.reha-recht.de/infothek/beitrag/artikel/gutachten-mit-vorschlaegen-fuer-verbessertes-informations-und-anhoerungsrecht-der-schwerbehindertenver/.

[9] Abrufbar unter www.sovd.de/fileadmin//downloads/sozpol-dok/pdf/2016_09_14_7._Kritikpunkte_SoVD_BTHG.pdf.

[10] Vgl. dazu Fuchs: Anmerkungen zu dem die Behindertenpolitik betreffenden Beschluss der Konferenz der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 3. Dezember 2015; Beitrag D3-2016 unter www.reha-recht.de; 26.01.2016.

[11] Beispielhaft benannt wurde hier die Zielorientierung in § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII „[...] Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, die erforderlich und geeignet sind, behinderten Menschen die für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen [...]“.

[12] § 53 Abs. 1 SGB XII: Personen, […] erhalten Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. […].

[13] Zum Konzept der angemessenen Vorkehrungen: Welti: Das Diskriminierungsverbot und die „angemessenen Vorkehrungen“ in der BRK – Stellenwert für die staatliche Verpflichtung zur Umsetzung der in der BRK geregelten Rechte; Forum D, Beitrag D9-2012 unter www.reha-recht.de; 31.05.2012.

[14] Siehe hierzu die Modellrechnungen von NITSA: nitsa-ev.de/bewusstseinsbildung/bundesteilhabegesetz/faktencheck-bthg-refe/3/ sowie nitsa-ev.de/bewusstseinsbildung/bundesteilhabegesetz/faktencheck-bthg-refe/4/.

[15] Die Vorschrift besagt, dass Menschen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe (EGH) haben, wenn sie in 5 von 9 bzw. 3 von 9 Lebensbereichen eingeschränkt sind. Menschen mit Einschränkungen in weniger Lebensbereichen kann EGH als Ermessensleistung gewährt werden; Nach erheblicher Kritik am Referentenentwurf des BMAS wurde die Ermessensleitung für diejenigen, die in weniger als 5 Lebensbereichen eingeschränkt sind im Regierungsentwurf aufgenommen.

[16] Vertiefend zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und zur Pflegereform: RP-Reha, Zeitschrift für Rehabilitations-, Teilhabe- und Schwerbehindertenrecht, Heft 3/2016 zum Schwerpunkt „Pflegestärkungsgesetz – Rechtliche und praktische Folgen“.

[17] Siehe hierzu die Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates vom 23. September 2016, Kabinettsbeschluss v. 12.10.2016, abrufbar unter www.gemeinsam-einfach-machen.de/GEM/DE/AS/Bundesteilhabegesetz/Gesetzentwurf_BTHG/Gesetzentwurf_node.html.

[18] Siehe auch: Welti: Sonderregelung für pflegebedürftige behinderte Menschen in Behinderteneinrichtungen § 43a SGB XI verstößt gegen Grundgesetz und UN-BRK; Beitrag D36-2016 unter www.reha-recht.de; 27.09.2016.

[19] Vgl. Fn. 5.


Stichwörter:

Entwurf Teilhabegesetz, Bundesteilhabegesetz (BTHG), Einkommens- und Vermögensanrechnung, Behinderungsbegriff, Eingliederungshilfe


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