16.03.2018 D: Konzepte und Politik Bendel, Richter: Beitrag D8-2018
Persönlichkeitsförderung in WfbM durch qualifikationsgerechte Entlohnung?
Die aus dem Tripelmandat von Inklusion, Rehabilitation und Wirtschaftlichkeit der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) entstehenden Spannungsverhältnisse für eine gerechte Entgeltgestaltung erfordern eine hohe Professionalisierung und Expertise derjenigen, die die individuelle Arbeitsleistung nach Arbeitsmenge und Arbeitsgüte einschätzen.
Im vorliegenden Beitrag diskutieren Alexander Bendel und Dr. Caroline Richter, vor welcher Gerechtigkeitsdimension individuelle Steigerungsbeträge in WfbM transparent ermittelt werden können. Unter dem Gesichtspunkt einer solchen Einschätzung stellen sie sechs Gerechtigkeitsdimensionen vor. Dabei unterziehen sie in der Praxis wiederzufindende Anforderungs-, Leistungs- und Verhaltensgerechtigkeit einer kritischen Reflexion und benennen Probleme hinsichtlich der Bewertungskompetenzen der Fachkräfte für Arbeits- und Berufsförderung sowie der Objektivierbarkeit der Anforderungskriterien.
Des Weiteren zeigen die Autorin und der Autor bestehende Probleme hinsichtlich des Maßstabes auf, der bei erbrachten Leistungen unter der Dimension der Leistungsgerechtigkeit angelegt werden soll. Eine Orientierung an sogenannten „Normalleistungen“ betrachten sie als schwierig, da diese Schwankungen unterliegen, kein objektives Maß darstellen und darüber hinaus insbesondere in WfbM als Maßstab kritisch seien. Die Verfasserin und der Verfasser plädieren für eine Orientierung an der Qualifikationsgerechtigkeit zur Umsetzung der Leistungsbemessung. Diese schaffe im Gegensatz zu vorherrschenden Dimensionen zur Erfassung von Leistung, einen Anreiz für Werkstattbeschäftigte Angebote zur Weiterqualifizierung wahrzunehmen und wirke darauf hin, dass WfbM ihrer eigentlichen Aufgabe gerecht werden; nämlich die „Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit [der Beschäftigten] zu erhalten, zu entwickeln, zu erhöhen oder wiederzugewinnen und dabei ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln“ (§ 219 Abs.1 Nr. 2 SGB IX).
(Zitiervorschlag: Bendel, Richter: Persönlichkeitsförderung in WfbM durch qualifikationsgerechte Entlohnung?; Beitrag D8-2018 unter www.reha-recht.de; 16.03.2018)
I. Einleitung
Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM) sind seit den 1970er-Jahren im deutschen Rehabilitationssystem verankert. Sie bieten berufliche Qualifizierung und Teilhabe für Erwachsene, die aufgrund einer Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig werden können und daher einen Rechtsanspruch auf die Beschäftigung in einer WfbM haben. Im sogenannten Arbeitsbereich sollen WfbM ein vielfältiges Angebotsspektrum an Tätigkeiten und möglichst reale Arbeiten anbieten. Um die Anforderung von Vielfalt und Echtheit zu realisieren, kooperieren sie mit privaten und öffentlichen Auftraggebern.
Im Zuge dieser Entwicklung fungieren WfbM nicht mehr vorrangig als Rehabilitationseinrichtungen, sondern agieren auf dem Markt ebenso als wirtschaftliche Unternehmen. Sie sollen im Zuge von Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Sozialbranche (z. B. im Zuge der UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK) nicht mehr nur auf die Beschäftigung einer nicht erwerbsfähigen und „arbeitnehmerähnlichen“[1] Zielgruppe abzielen, sondern vielmehr mit Nachdruck den (Wieder-)Einstieg in den allgemeinen Arbeitsmarkt fördern. Aufgabe ist die Vermittlung in weiterhin geschützte Außenarbeitsplätze und Integrationsunternehmen, vor allem aber die Vermittlung zu privaten und öffentlichen Arbeitgebern auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Diese Zielstellung wurde als Auftrag auch durch den Wortlaut der UN-BRK und die damit zum Ausdruck gebrachten menschenrechtlichen Bedenken gegenüber WfbM untermauert. Darin spiegeln sich einerseits das der UN-BRK zugrundeliegende Inklusionsideal der Vermeidung von spezifizierten und dadurch (vermeintlich) segregierenden Orten und andererseits ein Paradigmenwechsel: weg von Fürsorge hin zu Leistungs- und Ressourcenorientierung, die sowohl in der Persönlichkeitsentwicklung als auch durch Personalentwicklung realisiert wird. Das aus dem Tripelmandant eines Rehabilitations-, Inklusions- und Wirtschaftlichkeitsauftrags resultierende Spannungsverhältnis zeigt sich beispielhaft in der Entgeltgestaltung.
Der Aufsatz stellt zunächst die Problematik des individuellen Steigerungsbetrags dar, reflektiert dann Entgelte vor dem Hintergrund von Gerechtigkeitsdimensionen und schlägt schließlich Qualifizierungsgerechtigkeit durch Bildung und lernförderliche Arbeitsgestaltung als entgeltlichen Anreiz vor.
II. Individueller Steigerungsbetrag in WfbM
Für ihre Arbeit erhalten die in WfbM beschäftigten Menschen mit Behinderungen ein monatliches Entgelt, das sich aus drei Elementen zusammensetzt: Erstens dem Grundbetrag (§ 125 SGB III i. V. m. § 221 Abs. 2 SGB IX), der aus dem Gewinn der Werkstatt bezahlt wird. Alle Beschäftigten im Arbeitsbereich erhalten den gleichen Grundbetrag. Die Höhe des Grundbetrages entspricht dem Ausbildungsgeld, das die Bundesagentur für Arbeit den Menschen mit Behinderungen im Berufsbildungsbereich der WfbM im zweiten Jahr zahlt. Zweitens dem Arbeitsförderungsgeld (§ 59 SGB IX), das vom Rehabilitationsträger an alle Beschäftigten in Höhe von bis zu 52 Euro unabhängig von den Arbeitsleistungen bezahlt wird.[2] Drittens dem leistungsangemessenen Steigerungsbetrag (§ 221 Abs. 2 SGB IX), der sich – so sieht es das Gesetz vor – nach der individuellen Arbeitsleistung, genauer: nach Arbeitsmenge und Arbeitsgüte zu richten hat.
In der Regel sollen WfbM mindestens 70 Prozent ihres erwirtschafteten Arbeitsergebnisses als Arbeitsentgelte an die beschäftigten Menschen mit Behinderung auszahlen (§ 12 Abs. 5 S. 1 WVO).[3] Das „Ob“ der leistungsgerechten Entgeltgestaltung ist somit gesetzlich vorgegeben (§ 221 Abs. 2 SGB IX), die Gestaltung des „Wie“ obliegt hingegen der WfbM. Vor allem die Ermittlung und Festlegung des individuellen Steigerungsbetrags stellt dabei eine große Herausforderung dar. In der Praxis wird daher nach neuen Ansätzen und Orientierungspunkten bei der Bemessung individueller Arbeitsleistung und für den individualisierten Umgang mit Steigerungsbeträgen gesucht.
Alle WfbM müssen eine Entgeltordnung vorhalten, um möglichst objektiv und überprüfbar die Merkmale der individuellen Arbeitsmenge und -güte zu bemessen. Je nach Entgeltsystem können Werkstätten neben quantitativen und qualitativen Aspekten der Arbeitsleistung z. B. die Komplexität der Arbeitsanforderungen, das Sozialverhalten, Witterungs-, Schmutz- oder Lärmzulagen, das Lebensalter und die Dauer der Werkstattzugehörigkeit berücksichtigen. Doch was im Lichte von Leistungsorientierung und Personalentwicklung als Anreiz und Rückmeldung dient, kann auch zum Sanktionsinstrument werden. Diese Möglichkeit ist gerade für die neuen Zielgruppen von leistungsgeminderten, eben nicht erwerbsfähigen Menschen in WfbM zu berücksichtigen. Von diesen weist eine zunehmende Anzahl psychische und seelische Beeinträchtigungen und Erkrankungen auf[4], die nicht selten erst nach langjähriger Berufstätigkeit im Zusammenhang mit den Anforderungen und Leistungsprinzipien der Arbeitswelt erworben wurden.
Zur konkreten Ausgestaltung von Entgeltordnungen und Berechnungsmaßstäben für die leistungsangemessenen Steigerungsbeträge gibt es keine näheren Vorgaben oder Empfehlungen. Idealerweise müsste eine Entgeltordnung, mit deren Hilfe der leistungsangemessene Steigerungsbetrag individuell berechnet wird, folgende Kriterien erfüllen: Sie müsste erstens für alle Beteiligten transparent, einfach und gut nachvollziehbar sein (z. B. durch Erläuterung in leichter Sprache), sie müsste zweitens praktikabel sein für den Einsatz zwischen marktwirtschaftlicher Auftragserfüllung, rehabilitativer Förderung und Orientierung an Teilhabe am ersten Arbeitsmarkt von und in Werkstätten und sie müsste drittens gerecht sein und gute Leistungen von Beschäftigten honorieren. Diese Anforderungen sind nicht umstandslos zu erfüllen, weil sie zum Teil widersprüchlich sind: „einfach“ und „gerecht“ sind zum Beispiel Merkmale, die sich nur schwer vereinbaren lassen (vgl. Richter/Bendel, 2014; Bendel/Richter /Richter, 2015).
III. Entgelte und ihre Gerechtigkeitsdimensionen
1. Gerechtigkeitsdimensionen: Eine Sondierung
Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass der Wunsch nach einer einfachen und gerechten Entgeltordnung zwar artikuliert wird, die Realisierung aber mit erheblichen Herausforderungen verbunden ist.
Denn
„[e]rleichtert durch den hohen Allgemeinheitsgrad des Wertes [Gerechtigkeit], der einen großen Interpretationsspielraum offenhält, sind die Auffassungen hinsichtlich dessen, was gerecht ist oder sein soll, in Abhängigkeit von unterschiedlichen weltanschaulichen Orientierungen, sozialen Standortgebundenheiten und persönlichen Interessen sehr mannigfaltig und z.T. antagonistisch.“ (Hillmann, 2007, S. 278)
Dementsprechend lassen sich zahlreiche Gerechtigkeitskonzepte unterscheiden, die bei der Gestaltung von Entgelten im Allgemeinen und von Steigerungsbeträgen in WfbM im Besonderen herangezogen werden können. So nennt etwa Reichmann (2004, S. 1114-1120) folgende Gerechtigkeitskonzepte:
- Anforderungsgerechtigkeit,
- Leistungsgerechtigkeit,
- Verhaltensgerechtigkeit,
- Sozialgerechtigkeit,
- Marktgerechtigkeit sowie
- Qualifikationsgerechtigkeit.
Bei anforderungsgerechten Entgelten sind nach Reichmann die Schwierigkeitsgrade, die mit der Ausführung einer bestimmten Tätigkeit einhergehen, als Maßstab zu berücksichtigen. Vergütet wird hier also einzig und allein die Anforderung, die an das ausführende Personal gestellt wird. Das konkrete Arbeitsergebnis spielt hingegen keine Rolle.
Das Arbeitsergebnis wird allerdings sehr wohl bei der Konzipierung von leistungsgerechten Entgelten berücksichtigt. Je höher die erbrachte Leistung ist, desto höher fällt das jeweilige Entgelt aus – und zwar unabhängig davon, mit welchen Anforderungen die zu erbringende Leistung verbunden war.
Bei der Verhaltensgerechtigkeit steht wiederum das jeweilige Maß der Anstrengung im Fokus. Ergebnisunabhängig entlohnt man hier die Mühe, die sich das Personal gemacht hat, um die an es gestellte Aufgabe zu erfüllen.
Im Unterschied dazu orientieren sich sozialgerechte Entgelte an dem jeweiligen Bedarf der Beschäftigten zum Lebensunterhalt. Hierbei können Kriterien wie das Lebensalter oder der Familienstand berücksichtigt werden.
Marktgerechte Löhne entstehen ausschließlich aufgrund des Angebotes und der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Die Entgeltsysteme entsprechen in diesem Sinne der Bemessung von Marktlöhnen.
Bei der Qualifikationsgerechtigkeit gilt schließlich der Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Befähigung“ (Reichmann, 2004, S. 1118). Entlohnt wird das Potenzial der Beschäftigten, nicht ausschließlich die gegenwärtigen Anstrengungen bzw. erbrachten Leistungen.
2. Gerechtigkeitsdimensionen in der Praxis: Eine kritische Reflexion
In der Praxis findet die Berechnung der individuellen Steigerungsbeträge in WfbM mutmaßlich vorrangig auf Grundlage von Anforderungs-, Leistungs- und/oder Verhaltensgerechtigkeit statt (vgl. Bendel/Richter/Richter, 2015). Hierbei treten Schwierigkeiten, wie beispielsweise die Frage nach den Bewertungskompetenzen derjenigen, die die Höhe des konkreten Entgeltes für Beschäftigte auf der Basis von Anforderungen festzulegen haben, zutage. Dabei scheint es sich vielfach um die Anleitenden bzw. die Fachkräfte für Arbeits- und Berufsförderung (FAB) zu handeln. Sie besitzen zwar in den meisten Fällen eine (obligatorische) pädagogische Ausbildung, diese vermittelt aber eher rudimentär Kenntnisse in der Personalbeurteilung. Angesichts der Komplexität derartiger Beurteilungsprozesse scheint dies jedoch unzureichend zu sein. Neben der entsprechenden Ausbildung bedarf es zudem interindividuell validierbarem Erfahrungswissen, um etwa realistisch beurteilen zu können, mit welchen Anforderungen die Ausführung einer Tätigkeit tatsächlich einhergegangen ist. Selbst wenn den Verantwortlichen vermeintlich klare Anforderungskriterien vorgegeben werden, müssen sie immer noch enorme Interpretationsleistungen erbringen, um die tatsächlich erbrachte Leistung näherungsweise abzubilden und dies transparent, vergleichbar und gerecht begründen zu können. Ähnlich ist die Problematik in Bezug auf die Bemessung (anhand) von Leis-tungsgerechtigkeit einzuordnen. Hier stellt sich vor allem die schwierige Frage, welcher Maßstab angelegt wird, um eine erbrachte Leistung zu erfassen. Wann also wurde zum Beispiel eine voll zufriedenstellende und hundertprozentige Leistung erbracht? Zum Teil spielt hierbei ebenfalls die/der Gruppenleiter/in bzw. FAB eine entscheidende Rolle, deren/dessen Leistung in der Praxis teilweise als Bewertungsmaßstab für die Leistung der Menschen mit Behinderungen zugrunde gelegt wird: Produziert die/der Gruppenleiter/in beispielsweise 100 Teile innerhalb von einer Stunde, so muss die/der Beschäftige ebenfalls eine solche Leistung erbringen, um den Entgelthöchstsatz zu erhalten. Dieser Praxis ist entgegenzuhalten, dass in Einrichtungen mit dem Auftrag der Rehabilitation von Personen, die behinderungsbedingt nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem all-gemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können, die Orientierung an nicht-behinderten Arbeitskräften des allgemeinen Arbeitsmarktes als Beurteilungsmaßstab mindestens reflexionsbedürftig ist. Menschen mit Behinderungen suchen eine WfbM ja gerade deshalb auf, weil ihre Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist. Zudem handelt es sich bei der „Normalleistung“ von Gruppenleitungen mitnichten um ein objektives Kriterium: Auch diese Personen unterliegen täglichen Leistungsschwankungen und unterscheiden sich im Hinblick auf ihr Leistungsvermögen untereinander.
Vor noch größere Schwierigkeiten hinsichtlich der Objektivität werden Verantwortliche gestellt, wenn sie das Verhalten von Beschäftigten beurteilen und zur Grundlage der Entgeltfindung machen sollen. Bei der Bewertung des an den Tag gelegten Engagements einer/s Beschäftigten etwa handelt es sich um einen höchst subjektiven Interpretationsprozess – die Varianz zwischen verschiedenen Wertungen ein und desselben Verhaltens ist also entsprechend hoch. Da die Verantwortlichen tagtäglich mit Beschäftigten, deren Verhalten sie zu bewerten haben, interagieren, kann dieser Interpretationsprozess überdies erheblich durch gelungene bzw. nicht gelungene Beziehungsinteraktionen beeinflusst werden: Es ist der Objektivität zumindest nicht zuträglich, wenn man das Verhalten eines Menschen beurteilen soll, mit dem man am Tag zuvor zum Beispiel noch ernste Meinungsverschiedenheiten hatte.
Insgesamt ist die Orientierung an Konzepten wie der Anforderungs-, der Leistungs- und/oder der Verhaltensgerechtigkeit kritikwürdig, weil auf der Grundlage solcher Kriterien berechnete und ausgezahlte Entgelte keine Anreize setzen, um der eigentlichen Aufgabe der WfbM gerecht zu werden, nämlich die
„Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit [der Beschäftigten] zu erhalten, zu entwickeln, zu erhöhen oder wiederzugewinnen und dabei ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln.“ (§ 219 Abs.1 Nr. 2 SGB IX)
Aus Sicht der Verfassenden scheint es diesbezüglich vielversprechender, unter Berücksichtigung der Qualifizierungsgerechtigkeit, Beschäftigte dann besonders entgeltlich zu honorieren, wenn sie im Rahmen ihrer Beschäftigung in WfbM Lernmöglichkeiten wahrgenommen und damit persönlichkeitsförderliche Maßnahmen ergriffen haben.
IV. Bildung, Lernen und lernförderliche Arbeitsgestaltung
1. Formale und nicht-formale Bildung
In der Literatur und Praxis werden vielfach drei Konzepte des Lernens differenziert: das formale Lernen, das nicht-formale Lernen und das informelle Lernen.
Nach der Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2000, S. 9) findet
„[f]ormales Lernen [Hervorh. im Orig.] […] in Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen statt und führt zu anerkannten Abschlüssen und Qualifikationen.“
Das formale Lernen ist gekennzeichnet durch handlungsleitende Lernziele und feste Lernzeiten. Diese Form des ergebnisorientierten Lernens findet vor dem Hintergrund eines definierten Curriculums statt und wird von den Akteur*innen intentional betrieben.
Nicht-formales Lernen wird im Unterschied dazu wie folgt definiert (ebd.):
„[Es] findet außerhalb der Hauptsysteme der allgemeinen und beruflichen Bildung statt und führt nicht unbedingt zum Erwerb eines formalen Abschlusses. Nicht-formales Lernen kann am Arbeitsplatz und im Rahmen von Aktivitäten der Organisationen und Gruppierungen der Zivilgesellschaft (wie Jugendorganisationen, Gewerkschaften und politischen Parteien) stattfinden. Auch Organisationen oder Dienste, die zur Ergänzung der formalen Systeme eingerichtet wurden, können als Ort nicht-formalen Lernens fungieren (z. B. Kunst-, Musik- und Sportkurse oder private Betreuung durch Tutoren zur Prüfungsvorbereitung).“
Im Vergleich zum formalen Lernen unterscheidet sich hier nicht der Modus des Lernens, sondern der Formalisierungsgrad des Kontextes, in dem gelernt wird. Oder anders formuliert: Der Unterschied besteht darin, ob das Ende des Lernprozesses mit einer anerkannten Zertifizierung der allgemeinen oder beruflichen Bildungseinrichtungen einhergeht oder nicht. Daher wird im Weiteren von formalisierter bzw. nicht-formalisierter Bildung (statt Lernen) gesprochen.
Individuelle Ressourcen von Beschäftigten systematisch zu fördern und „einzupreisen“, stellt selbstverständlich eine Herausforderung dar. Doch gerade in WfbM bestehen vielerorts hierfür im Qualifizierungsbereich und durch Kooperationen mit anderen Bildungsträgern gute Voraussetzungen. Es können formal anerkannte wie auch nicht-formale Lernangebote vorgehalten werden, die die spezifische Heterogenität der Beschäftigten in WfbM berücksichtigen können. In weiten Teilen ist es gängige Praxis, dass WfbM auch im Arbeitsbereich bestimmte (von den Teilnehmenden frei wählbare) Fort- und Weiterbildungsmodule anbieten, die dazu beitragen, dem gesetzlichen Auftrag der Erhaltung, Entwicklung oder Erhöhung der Erwerbsfähigkeit sowie der Weiterentwicklung der Persönlichkeit gerecht zu werden. Als Entgeltaspekt könnten für die Beschäftigten Teilnahmeanreize gesetzt werden, indem der erfolgreiche Abschluss eines entsprechenden Moduls zu einer Erhöhung des individuellen Steigerungsbetrages und damit des Entgeltes führen kann. Die Debatte über die Anerkennung von WfbM als Bildungsträger und Ort formalisierter Bildung wird bereits seit über 10 Jahren geführt und ist von Rückschlägen gekennzeichnet.
2. Informelles Lernen
Neben mehr oder weniger zertifizierten Bildungsangeboten besteht in WfbM – wie in jedem Arbeitskontext – auch die Möglichkeit, durch die von ihnen angebotenen und gestalteten Tätigkeiten gezielt informelle Lernprozesse anzuregen.
„Informelles Lernen [Hervorh. im Orig.] ist eine natürliche Begleiterscheinung des täglichen Lebens. Anders als beim formalen und nicht-formalen Lernen handelt es sich beim informellen Lernen nicht notwendigerweise um ein intentionales Lernen, weshalb es auch von den Lernenden selbst unter Umständen gar nicht als Erweiterung ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten wahrgenommen wird.“ (ebd., S. 9–10)
Prozesse informellen Lernens werden allein durch die Ausführung einer jeweiligen Tätigkeit angeregt.[5] Das Lernen findet damit im Vollzug der Arbeit selbst statt und nicht getrennt von ihr in separaten Formen (wie zum Beispiel in Seminaren oder Schulungen). Um ein solches Lernen zu gewährleisten, bedarf es einer lernförderlichen Arbeitsgestaltung (vgl. etwa Dehnbostel, 2007, 2008 oder Frieling et al., 2006).
In Tabelle 1 sind Kriterien einer lernförderlichen Arbeitsgestaltung nach Dehnbostel (2008, S. 6) dargestellt:
Tabelle 1: Kriterien einer lernförderlichen Arbeitsgestaltung
Kriterien |
Kurzcharakteristik |
Vollständige Handlung/Projektorientierung |
Aufgaben mit möglichst vielen zusammenhängenden Einzelhandlungen im Sinne der vollständigen Handlung und der Projektmethode |
Handlungsspielraum |
Freiheits- und Entscheidungsgrade in der Arbeit, d. h. die unterschiedlichen Möglichkeiten, kompetent zu handeln (selbstgesteuertes Arbeiten) |
Problem-, Komplexitätserfahrung |
Ist abhängig vom Umfang und der Vielschichtigkeit der Arbeit, vom Grad der Unbestimmtheit und Vernetzung |
Soziale Unterstützung/Kollektivität |
Kommunikation, Anregungen, Hilfestellungen mit und durch Kollegen und Vorgesetzte; Gemeinschaftlichkeit |
Individuelle Entwicklung |
Aufgaben sollen dem Entwicklungsstand des Einzelnen entsprechen, d. h., sie dürfen ihn nicht unter- oder überfordern |
Entwicklung von Professionalität |
Verbesserung der beruflichen Handlungsfähigkeit durch Erarbeitung erfolgreicher Handlungsstrategien im Verlauf der Expertiseentwicklung (Entwicklung vom Novizen bis zum Experten) |
Reflexivität |
Möglichkeiten der strukturellen und Selbstreflexivität |
Quelle: Dehnbostel 2008, S. 6
Soll Arbeit lernförderlich gestaltet werden, ist beispielsweise danach zu fragen, wie vollständig eine Tätigkeit ist: Bedarf es lediglich der Aufgabenausführung oder auch der Planung und Kontrolle? In Bezug auf den Handlungsspielraum wäre zu unterscheiden, ob im Rahmen der Tätigkeitsausführung nur auf Anweisung gehandelt wird oder ob die jeweiligen Beschäftigten auch autonome Entscheidungen treffen dürfen. Zudem ist zu überprüfen, inwieweit die Tätigkeitserfüllung mit Kooperation und Kommunikation einhergeht: Wird allein oder kollaborativ gearbeitet? Ist es relevant, wie ausgeprägt die sozialen Kompetenzen sind? Flankierend ist auch dafür Sorge zu tragen, dass genügend Möglichkeiten der Reflexion gegeben werden: Sind Feedback-Systeme eingerichtet? Existieren gemeinsame Lernorte und -zeiten?
V. Qualifizierungsgerechtigkeit und entgeltlicher Anreiz: Ein Fazit
Die Orientierung an Qualifizierungsgerechtigkeit, realisiert durch Bildung und Lernen, stellt nach Ansicht der Verfassenden eine sinnvolle Grundlage dar, um Entgelte in WfbM zu ordnen und individuelle Steigerungsbeträge zu bemessen. Denn die Ausübung lernförderlicher Tätigkeiten lässt sich grundsätzlich sehr gut mit entgeltlichen Anreizen verbinden: Je mehr die ausgeführten Tätigkeiten mit den in Tabelle 1 genannten Merkmalen angereichert sind, desto höher fällt der Steigerungsbetrag aus. Hierfür bedarf es zweierlei: Einerseits müss(t)en die Verantwortlichen in den WfbM dafür Sorge tragen, dass die Arbeit tatsächlich lernförderlich gestaltet ist, zum anderen müss(t)en die Beschäftigten die erforderlichen Voraussetzungen besitzen, derartige Tätigkeiten auszuführen. In Bezug auf Letzteres macht Dehnbostel (2008, S. 6) deutlich:
„[Die Lernförderlichkeit] hängt […] auch von individuellen Merkmalen, z. B. dem Entwicklungsstand und der Lernbiografie des Einzelnen, ab. So kann ein großer Handlungsspielraum bei dem Einen lernförderlich, bei dem Anderen hingegen lernhemmend wirken. Ob Arbeitsplätze und -prozesse lern- und kompetenzförderlich sind, hängt also nicht nur von objektiven Kriterien der Lernpotentiale und Lernchancen, sondern auch von personenseitigen Dispositionen ab.“
Dies gilt es insbesondere auch im Falle der WfbM als Bildungs- und Lernraum: Falls die Zahl an Beschäftigten mit psychischen und seelischen Beeinträchtigungen und Erkrankungen in den nächsten Jahren ansteigt, kann eine lernförderliche Arbeitsgestaltung, statt in konstruktiver Förderung, auch in destruktiver Überforderung/Belastung münden und damit einen kritischen Stressor darstellen. Bei der Implementierung derartiger Arbeitssysteme muss also stets geprüft werden, inwiefern diese noch gesundheitsgerecht sind, denn zweifellos handelt es sich hierbei um ein Spannungsverhältnis von Qualifizierung und Gesundheit. Es muss davon abgeraten werden, alle Tätigkeiten hoch lernförderlich zu konzipieren, da für bestimmte Personen-/Zielgruppen nach wie vor zum Beispiel monotone und routinehafte Aufgaben zielführender sind. In Bezug auf die Entgeltfindung könnten die lernförderlichen Kriterien aber nichtsdestotrotz als Bewertungsmaßstab dienen, schließlich würde man dadurch die eigentliche Werkstattaufgabe der Persönlichkeitsentwicklung zum primären Maßstab der Entgeltfindung machen. Das Arbeitsideal, an dem sich die Beschäftigten dann orientieren könnten, läge somit nicht mehr in einer möglichst hohen Qualität und Quantität produzierter Waren oder erbrachter Dienstleistungen, sondern in der Wahrnehmung möglichst geeigneter Lernmöglichkeiten.
Die Berücksichtigung der Qualifizierungsgerechtigkeit bei der Festlegung des individuellen Steigerungsbetrages wäre letztendlich ganz im Sinne der WfbM, die das erwähnte Tripelmandat zu erfüllen haben. Entgelte, die Anreize für die persönliche Weiterentwicklung der Beschäftigten setzen, kämen nämlich der Rehabilitation selbiger zu Gute, wären ebenso inklusionsfördernd (da die Wahrscheinlichkeit der Beschäftigtenvermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt erhöht wird) und könnten zu einer besseren Wirtschaftlichkeit der WfbM beitragen (auf Dauer höher qualifizierte Beschäftigte könnten bessere Arbeitsergebnisse liefern).
Aktuell beginnen die Autor*innen ein Forschungsprojekt zur Ausgestaltung und Weiterentwicklung der Entgeltfindung, bei dem neben arbeitswissenschaftlichen Perspektiven auch verfahrensrechtliche Aspekte berücksichtigt werden.
Beitrag von Alexander Bendel, Institut Arbeit und Qualifikation, Universität Duisburg-Essen, und Dr. Caroline Richter, Ruhr-Universität Bochum
Fußnoten
[1] Diese Rechtsstellung sieht § 221 Abs. 1 SGB IX vor. Die Unterscheidung zwischen einem sogenannten arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis bzw. Werkstattverhältnis und einem angestellten Arbeitsverhältnis erfolgt danach, ob die wirtschaftlich verwertbare Leistung oder der Zweck des § 219 Abs. 1 SGB IX (Teilhabe am bzw. Eingliederung in das Arbeitsleben) im Vordergrund steht; es geht also nicht um das Maß der Weisungsgebundenheit (vgl. ArbG Kiel 2. Kammer, Aktenzeichen 2 Ca 165 a/15).
[2] Das Arbeitsförderungsgeld beträgt monatlich 52 Euro für jeden im Arbeitsbereich beschäftigten behinderten Menschen, dessen Arbeitsentgelt zusammen mit dem Arbeitsförderungsgeld den Betrag von 351 Euro nicht übersteigen darf, andernfalls wird lediglich der Differenzbetrag bis 351 Euro ausgezahlt (vgl. § 59 SGB IX).
[3] Zum Ausgleich von Ertragsschwankungen kann gemäß § 12 Abs. 5 WVO eine Rücklage bis zu der Höhe gebildet werden, die für die Zahlung der Arbeitsentgelte für sechs Monate erforderlich ist.
[4] Siehe auch: BAG WfbM, abrufbar unter: http://www.bagwfbm.de/page/25, zuletzt abgerufen am 07.03.2018.
[5] Damit liegt dem informellen Lernen kein strukturierter Lernplan zugrunde; es findet auch nicht an festen Lernorten und zu bestimmten Lernzeiten statt. Ebenso existiert keine pädagogisch vorgegebene Lernmethode. Im Vergleich zum formalen/nicht-formalen Lernen bzw. formalisierter/nicht-formalisierter Bildung unterscheidet sich beim informellen Lernen der Modus des Lernens, also die Art und Weise, wie Kompetenzen erworben werden.
Literatur
Bendel, Alexander/Richter, Caroline/Richter, Frank (2015): Entgelt und Entgeltordnungen in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen – Etablierung eines wirtschafts- und sozialpolitischen Diskurses. WISO Diskurs. Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung.
Dehnbostel, Peter (2007): Lernen im Prozess der Arbeit. Münster: Waxmann.
Dehnbostel, Peter (2008): Lern- und kompetenzförderliche Arbeitsgestaltung. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, 2/2008. S. 5–8.
Frieling, Ekkehard/Bernard, Heike/Bigalk, Debora/Müller, Rudols F. (2006): Lernen durch Arbeit. Entwicklung eines Verfahrens zur Bestimmung der Lernmöglichkeiten am Arbeitsplatz. Münster: Waxmann.
Hillmann, Karl-Heinz (2007): Wörterbuch der Soziologie. 5. Auflage. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2000): Memorandum über Lebenslanges Lernen. Arbeitsdokument der Kommissonsdienststellen. Brüssel: Kommission der Europäischen Gemeinschaften. Im Internet unter: https://www.hrk.de/uploads/tx_szconvention/memode.pdf , zuletzt abgerufen am: 18.11.2017.
Reichmann, Lars (2004): Lohngerechtigkeit. In: Gaugler, Eduard / Oechsler, Walter A. / Weber, Wolfgang (Hrsg.): Handwörterbuch des Personalwesens. 3. Auflage. Stuttgart: Schäffer-Poeschel. S. 1114–1120.
Stichwörter:
Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM), Werkstattentgelt, Qualifizierung, Persönlichkeitsentwicklung
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