14.03.2017 D: Konzepte und Politik Nachtschatt/Falk: Beitrag D9-2017

Tagungsbericht 6. Deutscher Sozialgerichtstag am 17./18.11.2016 in Potsdam – Teil 1

Die Autorinnen Eva Nachtschatt und Angelice Falk berichten in ihrem zweiteiligen Beitrag vom 6. Deutschen Sozialgerichtstag, der am 17. und 18. November 2016 vom Deutschen Sozialgerichtstag e.V. in Potsdam veranstaltet wurde. Die Veranstaltung widmete sich dem Thema „Brückenschlag von der Integration zur Inklusion“. Der erste Teil gibt einen Überblick über die gesamte Tagung. Im zweiten Beitragsteil berichten die Autorinnen ausführlich aus den Kommissionen zum SGB III/XII und SGB IX.

Einleitend wurden Barrieren bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) thematisiert. Gegenstand der einzelnen Kommissionen waren Themen der Grundsicherung Arbeitssuchender vor dem Hintergrund des 9. ÄndG SGB II sowie dem Referentenentwurf eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen im SGB II und im SGB XII, Versorgungsmedizin und Inklusion, Erwerbsminderung durch psychosomatische Erkrankungen, die Reform des Berufskrankheitenrechts sowie die Reform des Kinder- und Jugendhilferechts.

(Zitiervorschlag: Nachtschatt/Falk: Tagungsbericht 6. Deutscher Sozialgerichtstag am 17./18.11.2016 in Potsdam – Teil 1; Beitrag D9-2017 unter www.reha-recht.de; 14.03.2017.)


Am 17. und 18. November 2016 fand in Potsdam der 6. Deutsche Sozialgerichtstag (DSGT), veranstaltet durch den Deutschen Sozialgerichtstag e. V., statt.[1] Thema der zehnjährigen Jubiläumsveranstaltung war der Brückenschlag von der Integration zur Inklusion.

I. Festrede (Verena Bentele)

Die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Verena Bentele, ging in ihrer Festrede auf die aktuellen Geschehnisse im Gesetzgebungsverfahren des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) ein[2]. Der Begriff der Inklusion umfasse Menschen mit und ohne Behinderungen und müsse aus einer gesamtgesellschaftlichen Sicht gesehen werden. Die bisherige Definition müsse weiter gefasst werden und Menschen mit Migrationshintergrund ebenfalls mitbedacht werden. In diesem Zusammenhang wurden die Regelungen des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) erwähnt, nach welchen ab dem Jahr 2018 Bescheide von Trägern der öffentlichen Gewalt auf Wunsch in Leichter Sprache zu fassen sind.[3]

Das ehrenamtliche Engagement von Menschen im sozialen Bereich wurde von der Behindertenbeauftragten begrüßt. Jeder solle die Möglichkeit haben, sich zu beteiligen. Nicht für alle Aktivitäten werden jedoch finanzielle Unterstützungen bereitgestellt, beispielsweise ist keine Übernahme von Dolmetscherkosten für politische Arbeit (Engagement) vorgesehen. In den zukünftigen Bestimmungen des BTHG werden Unterstützungsleistungen lediglich nachrangig gewährt[4]. Demnach müssten in einem ersten Schritt Familie und Freunde um Hilfe gebeten werden. Es sei nicht annehmbar, Unterstützungsleistungen für soziale Teilhabe an die Ehrenamtlichkeit zu koppeln. Dies bedürfe klarer Regelungen im BTHG.

Sinn und Zweck des BTHG sei es die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu realisieren. In vielen sensiblen Bereichen, wie z. B. dem Wohnen[5], würden die Vorgaben der UN-BRK jedoch nicht umgesetzt. Wünschenswert seien vernünftige Lösungen, welche ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Die Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe (EGH) und Pflege[6] stelle nach wie vor ein Problem dar. Diesbezüglich sollen ebenfalls klare Regelungen im BTHG geschaffen werden. Bentele sprach auch von der Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an gerichtlichen Verfahren[7]. Hier gelte es noch einige Barrieren, insbesondere in den Köpfen der Beteiligten, zu beseitigen. Dies sei jedoch schwierig.

In Bezug auf Bildung führte die Beauftragte aus, es dürfe kein doppeltes Schulsystem geben, alle Beteiligten müssten sich an die menschliche Vielfalt gewöhnen. Für ein nachhaltiges Bildungssystem müsste ein politischer Rahmen geschaffen werden. Schulische Bildung sei eine wesentliche Voraussetzung für den Einstieg in die Arbeitswelt und schaffe so eine inklusive Gesellschaft. Die Fähigkeiten der betroffenen Kinder müssten in umfassendem Maße gefördert werden.

Des Weiteren sei der derzeitige Wahlrechtsausschluss für Menschen unter Betreuung in allen Angelegenheiten[8] aus menschenrechtlicher Sicht nicht tragbar. Die betroffenen Personen bedürften einer angemessenen Unterstützung bei der Entscheidung. Dafür müssten entsprechende Informationen zugänglich gemacht werden, wie beispielsweise Informationen in Leichter Sprache oder in bildhafter Darstellung.

II. Tagung der Kommissionen

Beim Sozialgerichtstag tagten insgesamt elf Kommissionen. In diesem Beitragsteil werden die Inhalte der Kommissionen SGB II und SGB VI–VIII kurz zusammenfassend dargestellt, ausführliche Berichte aus den Kommissionen SGB III/XII und SGB IX sind dem zweiten Teil des Beitrages vorbehalten.

Themenschwerpunkte der Kommission zum SGB II[9] waren die Grundsicherung Arbeitssuchender vor dem Hintergrund des neunten Änderungsgesetzes SGB II (9. ÄndG SGB II), der Wandel von Integration zu Inklusion im SGB II sowie der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen im SGB II und im SGB XII[10]. André Oberdieck (Landkreis Göttingen) fasste zunächst die wesentlichen Änderungen des SGB II durch das 9. ÄndG SGB II zusammen. Unter den Teilnehmenden wurde insbesondere die neu eingeführte Akzentuierung der Beratungspflichten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jobcenters diskutiert. Stefan Sell (Institut für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung) stellte mit seinem Referat Thesen zu den Auswirkungen der Hartz IV-Gesetzgebung (rechtliche und institutionelle Trennung in die SGB II und SGB III Regime) auf die Zugangschancen von Hilfebedürftigen zum ersten Arbeitsmarkt vor. Das unterschiedliche Verständnis des Teilhabebegriffs im SGB II, verstanden als Minimalteilhabe im Kontext des grundrechtlich gewährleisteten Existenzminimums, wurde dabei thematisiert. Insbesondere der Zuwachs der Hilfebedürftigen durch die gesteigerte Migration machen nach Auffassung des Referenten Änderungen erforderlich. Der Referent plädierte schließlich für eine tiefgreifende Reform des Förderrechts, vor allem durch eine Deregulierung der Instrumente nach dem Vorbild der ehemaligen §§ 15–20 Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Für bestimmte hilfebedürftige Gruppen favorisierte der Referent ein „Sondersystem Teilhabe“, um die Verwaltung entsprechend zu entlasten und gleichzeitig ein spezialisiertes Angebot bieten zu können. Im entsprechenden Gegenplädoyer aus dem BMAS verteidigte die Referentin Rose Langer (BMAS) die Hartz IV-Reformen als einen erforderlichen Schritt. Sie hob die erst mit deutlicher Verzögerung nun aber allmählich wahrnehmbaren, positiven Effekte hervor. Insgesamt bot sich eine kontroverse Diskussion, die geprägt war von den Herausforderungen der aktuellen Migrationssituation. Die Neuregelungen des 9. ÄndG SGB II wurden überwiegend als kritikwürdig gesehen, da z. T. eine Verlagerung von Ansprüchen in andere Bücher des SGB (z. B. SGB III) erfolge. Die strikte Trennung von SGB II und III sei problematisch, da Leistungen nach dem SGB II häufig mit Arbeitslosigkeit und sozialer Schwäche gleichgesetzt und abgewertet würden. Ansprüche ausländischer Personen würden auch nach dem Referentenentwurf eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) nicht in die Bücher des SGB übergehen.[11]

Thema der Kommission SGB VI[12] war die Erwerbsminderung durch psychosomatische Erkrankungen. Ausgehend von der Erkenntnis: Je länger eine Erwerbsunfähigkeit dauert, desto geringer sind die Chancen auf eine Rückkehr in das Erwerbsleben, diskutierten die Teilnehmenden Möglichkeiten, um Betroffene möglichst dauerhaft im Erwerbsleben zu halten. Jan-Peter Jansen (Institut für Sozialmedizinische Begutachtung und Fortbildung, Berlin) ging in seinem Vortrag einleitend auf die vorhandenen Leitlinien und Instrumente zur Behandlung und Diagnose von Schmerzerkrankungen ein. Er stellte heraus, dass die größten Risikofaktoren für eine Chronifizierung einer Schmerzerkrankung die Dauer der Arbeitsunfähigkeit und niedriges Einkommen seien. Bei der Begutachtung komme es darauf an, dass das Bild des Probanden insgesamt stimmig sein müsse und daher eine intensive Befragung erforderlich sei. Die Probanden in seiner Praxis bekämen daher einige Wochen vor dem Begutachtungstermin einen internetbasierten Fragebogen, der als Grundlage für das spätere Gespräch diene. Ulrich Eggens (DRV Berlin-Brandenburg) berichtete über die Zunahme der psychischen Erkrankungen bei der Erwerbsminderungsrente. Es sei daher insbesondere ein frühzeitiges Zusammenwirken von Kranken- und Rentenversicherung erforderlich, um Rehabilitationsmaßnahmen erfolgreich durchführen zu können. Aus seiner Sicht sei insbesondere die Einbindung der Hausärzte erforderlich. Noch immer hätten etwa 50% der Rentenneuzugänge vor dem Beginn der Rente keine Rehabilitationsleistung in Anspruch genommen. Zudem sei es erforderlich die berufliche Orientierung in der Rehabilitation weiter zu stärken und das Arbeitsumfeld und den konkreten Arbeitsplatz einzubeziehen. Er stellte dabei auch auf Ergebnisse aus einem Projekt[13] aus Bremen ab. Ursula Engelen-Kefer (Mitglied des Bundesvorstands des SoVD und Vorsitzende des Arbeitsausschusses für Sozialversicherung und Europa) berichtete über die Bedeutung des betrieblichen Gesundheitsmanagements zur Vorbeugung von psychischen Erkrankungen. Sie stellte auf Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Pflege ab. Hier seien sehr belastende Faktoren vorhanden, die es durch Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu verringern gelte. Dabei können etwa der Arbeitsschutz und die Beurteilung der psychischen Belastungen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung eine wichtige Rolle spielen. Abschließend stellte Gundula Roßbach (DRV Bund) die aktuellen Gesetzgebungsverfahren und die möglichen Auswirkungen für die Praxis dar. Dabei ging sie auf das Flexirentengesetz, das BTHG, das Gesetzesvorhaben zur Angleichung der Ost- und Westrenten und die Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung ein. Zum BTHG stellte sie u. a. dar, dass sich die Beratungslandschaft für die Betroffenen mit dem Wegfall der Gemeinsamen Servicestellen, durch Ansprechstellen und ergänzende trägerunabhängige Beratung durch Verbände neu darstellen werde. In diesem Zusammenhang wies sie drauf hin, dass die Trägerunabhängige Beratung für die Betroffenen nachteilig sein könnte und dass die ergänzenden Beratungsangebote noch entwickelt werden müssten und zunächst nur bis 2022 geplant seien.

In der Kommission SGB VII setzten sich die Teilnehmenden mit der Reform des Berufskrankheitenrechts auseinander. Gefordert wurde u. a. die Einrichtung eines sozialpolitischen Ausschusses für Berufskrankheiten in den Berufsgenossenschaften, der neue Berufskrankheiten aufzeigen und bei widersprüchlichen Forschungsergebnissen Grenzen setzen soll. Handlungsbedarf ergebe sich weiterhin bei der Präzisierung von Tatbeständen der Berufskrankheiten, um sog. „Bagatellerkrankungen“ künftig besser ausschließen zu können.

Erstmals fand in diesem Jahr auch eine Kommission zum SGB VIII[14] statt, die sich mit der Reform des Kinder- und Jugendhilferechts befasste. Die Kommission diskutierte den aktuellen Reformprozess. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat unter dem Schlagwort Vom Kind aus denken einen grundlegenden Reformprozess angestoßen und damit den Impuls, der von einer Reihe von Beschlüssen der Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) ausgeht, aufgegriffen. Im Sommer 2016 drangen mehrere Arbeitsentwürfe[15] für ein neues SGB VIII an die Öffentlichkeit, die zum Teil sehr heftig kritisiert wurden, in Teilen aber auch Zustimmung fanden. Die Kommission bemängelte besonders das Verfahren, das das BMFSFJ gewählt hat. Das Verfahren wurde durchgängig als außerordentlich intransparent und wenig zielführend wahrgenommen. In der Kommission bestand große Einigkeit, dass die Eltern bzw. andere Personensorgeberechtigte auch künftig einen originären Anspruch auf Hilfe zur Erziehung brauchen. Die Entwürfe des BMFSFJ sehen dagegen vor, dass Personensorgeberechtigte lediglich einen Annex-Anspruch[16] behalten sollen, der voraussetzt, dass das Kind Leistungen bezieht. Kontrovers blieb dagegen, ob Kinder und Jugendliche – neben den Personensorgeberechtigten – einen eigenen Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung erhalten sollen. Für die Eingliederungshilfe (EGH) ist das akzeptiert (§ 35a SGB VIII). Die Kommission verständigte sich schließlich auf die in der unten wiedergegebenen Positionierung enthaltene Formel. Konsens bestand, dass die Zusammenführung der EGH für Minderjährige im SGB VIII anzustreben ist. Das würde dazu führen, dass auch geistig und körperlich behinderte Minderjährige, die jetzt Leistungen der EGH nach dem SGB XII zukünftig möglicherweise nach dem 2. Teil des SGB IX erhalten, Teilhabeleistungen nach dem SGB VIII bekommen. Nach einer zunächst kontroversen Diskussion der Frage, ob das sozialleistungsrechtliche Dreiecksverhältnis für die Leistungen nach dem SGB VIII, die im Einzelfall durch Verwaltungsakt bewilligt werden, beizubehalten ist, einigte sich die Kommission schließlich auf folgende Positionierung:

Thema: Beteiligung im Gesetzgebungsverfahren

Die Kommission hat die frühzeitige Beteiligung der Fachverbände und der Bundesressorts seitens des BMAS bei der Entwicklung des BTHG positiv zur Kenntnis genommen und erwartet eine solche Praxis auch vom BMFSFJ bei der Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendhilferechts. Dies gilt in besonderer Weise für die Schnittstelle zwischen dem SGB IX und dem SGB VIII.

Thema „Inklusive Lösung“

  1. Wir befürworten die Gesamtverantwortung der Kinder- und Jugendhilfe für junge Menschen mit und ohne Behinderung.
  2. Die in den Entwürfen vorgesehene Realisierung in Form einheitlichen Tatbestands, der die Hilfe zur Erziehung mit der EGH für Kinder und Jugendliche mit Behinderung zusammenfasst, stößt auf Schwierigkeiten bei der Anwendung des (neuen) SGB IX und wird den fachlichen Anforderungen bei der Deckung der Hilfebedarfe nicht gerecht. Die beiden Leistungen sind in getrennten Leistungstypen zu regeln, die im Einzelfall zusammengeführt werden.
  3. Wir plädieren für die Beibehaltung der „Hilfe zur Erziehung“ in Wort und Sinn. Wir sehen in dem Begriff „Hilfe“ keine Diskriminierung, weil Hilfe im Verständnis der Jugendhilfe immer „Hilfe zur Selbsthilfe“ bedeutet und die aktive Teilnahme von Eltern und Kind/Jugendlichen am Hilfeprozess zur Erreichung der Hilfeziele voraussetzt.
  4. Die Kommission unterstützt die Position des BMFSFJ, die Rechte des Kindes zu stärken, lehnt aber eine Einschränkung der elterlichen Erziehungsverantwortung ab.

Thema Steuerung und Finanzierung der Kinder- und Jugendhilfe

  1. Den in den Entwürfen vorgesehene zwingende Vorrang von infrastrukturellen Angeboten und Regelangeboten vor Einzelfallhilfen sowie die vorrangige Gewährung in Form von Gruppenhilfen lehnen wir ab. Diese Vorgaben negieren die unterschiedlichen Potentiale der verschiedenen Hilfeformen und widersprechen dem Grundsatz der Bedarfsgerechtigkeit im Einzelfall.
  2. Wir möchten am Dreiecksverhältnis bei rechtsanspruchsgestützten Leistungen als Strukturprinzip der Kinder- und Jugendhilfe festhalten.
  3. Wir sehen einen Handlungsbedarf bei der besseren Verzahnung von sozialräumlichen Hilfen und Einzelfallhilfen.
  4. Wir brauchen rechtssichere Finanzierungsformen für niederschwellige Leistungen und infrastrukturelle Angebote.
  5. Bei der vorgesehenen Einführung des Auswahlermessens hinsichtlich der Finanzierungsformen befürchtet die Kommission ein Aufweichen der fachlichen Standards

III. Podiumsdiskussion

Felix Welti referierte einleitend zu der Frage „Neues Teilhabegesetz – ein großer Wurf?“ und definierte Ziele, an denen das BTHG zu messen sei. Das seien zum einen eine verständliche und handhabbare Systematik, die Vereinbarkeit mit anderem Recht, insbesondere mit der UN-BRK sowie das Herauslösen der Leistungen aus dem bisherigen Fürsorgesystem und Weiterentwicklung zu einem modernen Teilhaberecht und die Akzeptanz des Gesetzesentwurfs, die voraussetzt, dass der Gesetzgeber die Bedürfnisse der Akteure hört und ernst nimmt. Anschließend betrachtete Welti den BTHG-Entwurf anhand dieser vier Kategorien. Für eine gute Systematik komme es maßgeblich auf die Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger an. Alle Träger sollten auch das Recht der anderen kennen und anwenden können, sie sollten als gemeinsame Glieder einer guten Verwaltung auftreten. Mit § 14 SGB IX-E werde ein klares Instrument für die Zuständigkeitsklärung geschaffen, das künftig lange Konflikte vermeiden soll. Die Neuregelung in § 15 SGB IX-E, die als Regelfall gesonderte Bescheide und Rechtswege, statt der Leistungserbringung wie aus einer Hand vorschreibt, sorge hingegen für Verwirrung und nehme die Beteiligung von Menschen mit Behinderung am Teilhabeplan stark zurück. § 7 SGB IX-E sei bezüglich des neuen Behinderungsbegriffes, des Wunsch- und Wahlrechts sowie des leistungsrechtlichen Teils noch immer nicht ausreichend abweichungsfest. Statt der Vorrangregelung in § 91 Abs. 3 SGB IX-E sei eine gemeinsame und ergänzende Bedarfsfeststellung von Teilhabe- und Pflegeträgern notwendig. Auch die Regelungen zur EGH in Teil 2 SGB IX-E bewertete Welti als problematisch. Durch die Gestaltung als eigenständiger Teil entstünden ein neues Sonderrecht, mehr Komplexität, Doppelungen und Schnittstellen. Zudem sei zu befürchten, dass § 99 SGB IX-E bisher leistungsberechtigte Personen von der EGH ausschließe, für die dann wiederum neue Auffang-Ansprüche aus dem SGB IX oder XII hergeleitet werden müssten[17] Die Vereinbarkeit mit der UN-BRK und ein Anknüpfen an die ICF gelinge bisher nur bedingt in § 2 SGB IX-E. Die „fünf aus neun-Regelung“ in § 99 SGB IX-E würde dem hingegen nicht gerecht und stelle vielmehr eine unnötige Zugangsschwelle für Menschen mit Behinderung dar. Auch die Regelungen in § 13 SGB XII und § 43a SGB XI, die Menschen mit Behinderungen in ihrer freien Wohnortwahl beeinträchtigen, stünden der UN-BRK (Art. 19) entgegen[18]. Auch das Herauslösen von Leistungen aus dem bisherigen Fürsorgesystem gelinge mit dem Entwurf noch nicht ganz. Die Leistungen zur Teilhabe an Schul- und Hochschulbildung verblieben weitgehend bei der EGH und würden nicht in vorrangigen Systemen (Zuständigkeit der Bundesagentur) verortet, wie es z. B. bereits für die Ausbildung in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) oder einem Berufsbildungswerk der Fall ist[19]. Positiv seien hingegen die Erhöhung der Vermögensfreibeträge und die Neuregelungen zur Anrechnung von Erwerbs- und Partnereinkommen. Dabei müsse jedoch beachtet werden, dass für die Anrechnung von Einkommen, Partner- und Elterneinkommen und Vermögen für die EGH, Hilfe zur Pflege und Leistungen zum Lebensunterhalt unterschiedliche Regelungen gelten, sodass Einkommen und Vermögen nach wie vor an anderen Stellen einzusetzen sein können. Der positive Aspekt der Erleichterungen im Bereich der EGH werde dadurch relativiert. Die Akzeptanz des Entwurfs sei bei Menschen mit Behinderungen derzeit gefährdet. Viele Neuregelungen seien für die Betroffenen unklar und lösten vor allem Ängste aus. Welti zeigte sich jedoch zuversichtlich, dass viele Befürchtungen bereits mit Korrekturen am Entwurf, vor allem die Zustimmung und Beteiligung der Leistungsberechtigten betreffend, noch ausgeräumt würden.

An den Impulsvortrag anknüpfend, diskutierten Felix Welti, Annelie Buntenbach (DGB), Steffen Luik (LSG Baden-Württemberg) und Irene Vorholz (Deutscher Landkreistag, Berlin) unter der Leitung von Michael Löher (Deutscher Verein). Als wesentliche Kritikpunkte wurden der neue Behinderungsbegriff in § 99 SGB IX-E, das Verhältnis von EGH und Pflege sowie die Regelungen zum Wunsch- und Wahlrecht, insbesondere die gemeinsame Inanspruchnahme von Leistungen (Poolen), aufgegriffen. Die „fünf aus neun-Regelung“ in § 99 SGB IX-E stelle eine zusätzliche Hürde bei der Leistungserbringung dar und müsse daher aus dem Entwurf entfernt werden. Luik bewertete § 99 SGB IX-E als ganz abkömmlich, da durch die unbestimmte Ausgestaltung der Vorschrift gegenüber der bisherigen Rechtsprechung unklar sei, wer überhaupt noch anspruchsberechtigt ist. Die Änderung in § 15 Abs. 3 SGB IX-E sei zugunsten der Leistungserbringung wie aus einer Hand aufzuheben und das Zustimmungserfordernis der Betroffenen wiederaufzunehmen.[20] Auf die Frage, ob mit dem BTHG finanzielle Einsparungen erreicht würden, stellte Vorholz klar, dass der Koalitionsvertrag nicht auf Sparmaßnahmen abziele, sondern lediglich eine neue Ausgabendynamik verhindern wolle, hier sehe sie Chancen in dem geplanten Poolen von Leistungen. Die mit dem BTHG verfolgten Ziele, die Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen einerseits zu verbessern und andererseits die bisherige Ausgabendynamik zu durchbrechen, bewertete Buntenbach hingegen als widersprüchlich. Weiterhin wurden Probleme inklusiver Bildung diskutiert, hier bedürfe es einer klarstellenden Regelung, die sicherstellt, dass Leistungen zur Teilhabe an Bildung nicht allein den Trägern des SGB XII auferlegt werden. Welti forderte eine deutlichere Abgrenzung der Pflichten von Bildungseinrichtungen und Rehabilitationsträgern und warnte davor, zu viele Leistungen auf die Bildungseinrichtungen zu verlagern, da diese sonst vor der Aufnahme von Menschen mit Behinderung zurückschrecken könnten. Insgesamt waren sich die Teilnehmenden einig, dass das BTHG kommen wird, aber auch, dass es bis zum Inkrafttreten noch einiger Änderungen bedarf.

Beitrag von Mag. iur. Eva Nachtschatt, Universität Kassel und Dipl. jur. Angelice Falk, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

 


Fußnoten:

[1] Der Tagungsbericht des Deutschen Sozialgerichtstag e.V. kann unter http://www.boorberg.de/sixcms/media.php/891/Tagungsbericht%206.%20DSGT%20v.%208.12.16_vollst%E4ndig.pdf abgerufen werden.

[2] Das Gesetz ist mittlerweile beschlossen worden. BT-Drs. 18/9522, 18/9954, 18/10102 und BR-Drs. 428/16 (Beschluss).Vgl. dazu Nachtschatt/Ramm, Die Leistungen zur Teilhabe an Bildung im BTHG: Anhörung, Ausschussberatungen, Ergebnisse der abschließenden zweiten und dritten Lesung im Deutschen Bundestag, Beitrag D61/2016; Schülle, Ausschluss von Eingliederungsleistungen für Asylsuchende durch das Bundesteilhabegesetz – Überblick der Diskussion mit Ausblick für die Umsetzung, Beitrag D53/2016; Schimank, Das Budget für Arbeit im Bundesteilhabegesetz – Teil 2: Öffentliche Anhörung und abschließende Beratung im Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie 2. und 3. Lesung im Bundestag, Beitrag D60/2016 uvm. unter www.reha-recht.de.

[3] Vgl. § 11 Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (BGG).

[4] Vgl. § 91 SGB IX-E.

[5] Vgl. Drittes oder Viertes Kapitel des SGB XII bzw. SGB II.

[6] Vgl. § 103 SGB IX-E; Zur bisherigen Rechtslage: Rasch, Behinderung, Eingliederung und Pflegebedürftigkeit, Beitrag D17/2015, www.reha-recht.de.

[7] Vgl.  Art. 13 UN-Behindertenkonvention – Zugang zur Justiz.

[8] Vgl. § 13 Nr. 2 Bundeswahlgesetz (BWG) (aktives Wahlrecht) und § 15 Abs. 2 Nr. 1 BWG (passives Wahlrecht); Hellmann, Der Ausschluss vom Wahlrecht im Betreuungsrecht – Handlungsbedarf für den Gesetzgeber, Beitrag D8/2012.

[9] Aus der Kommission SGB II berichtet Grégory Garloff.

[10] Der Referentenentwurf vom 28.04.2016 ist abrufbar unter http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Sozialstaat/Dokumente/Referentenentwurf_Auslaender_SGBII_SBGXII.pdf. Der am 07.11.2016 veröffentlichte Gesetzesentwurf kann als BT-Drs. 18/10211 abgerufen werden unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/102/1810211.pdf.

[11] Etwaige Änderungen durch den Gesetzesentwurf vom 07.11.2016 (BT-Drs. 18/10211) bleiben zu diesem Zeitpunkt noch unberücksichtigt.

[12] Aus der Kommission SGB VI berichtet Henning Groskreutz.

[14] Aus der Kommission SGB VIII berichtet Roland Rosenow.

[16] Folgenbeseitigungsanspruch.

[17] Die umstrittene „fünf aus neun“-Regelung wurde in der Beschlussfassung aus § 99 SGB IX-E nun gestrichen (http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/105/1810523.pdf, S. 34). Leistungen der EGH erhalten auch künftig weiter Personen nach § 53 Absatz 1 und 2 des Zwölften Buches SGB und den §§ 1 bis 3 der Eingliederungshilfe-Verordnung in der am 31. Dezember 2019 geltenden Fassung. Parallel soll erprobt werden, ob sich die Leistungsberechtigung auch unter Bemessung der Beeinträchtigung an den fünf von neun genannten Lebensbereichen ergibt.

[18] Welti, Sonderregelung für pflegebedürftige behinderte Menschen in Behinderteneinrichtungen § 43a SGB XI verstößt gegen Grundgesetz und UN-BRK, Beitrag D36-2016 unter www.reha-recht.de.

[19] Vgl. §§ 75 und 112 sowie §§ 219 ff. SGB IX-E, Nachtschatt/Ramm, Die Leistungen zur Teilhabe an Bildung im BTHG: Anhörung, Ausschussberatungen, Ergebnisse der abschließenden zweiten und dritten Lesung im Deutschen Bundestag, Beitrag D61-2016 unter www.reha-recht.de.


Stichwörter:

Tagungsberichte, Bundesteilhabegesetz (BTHG), Inklusion, Migrationshintergrund, Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), Soziale Teilhabe, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Eingliederungshilfe, SGB II, Zugänglichkeit, Arbeitsmarkt, Erwerbsminderung, psychische Erkrankung, Erwerbsminderungsrente, Kinder- und Jugendhilfe


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