16.05.2019 D: Konzepte und Politik De Rijk: Beitrag D9-2019

Prävention von Arbeitsbeeinträchtigung in den Niederlanden. Eine Schlüsselrolle für Arbeitgeber – Teil I: Niederländische Eigenheiten des Arbeitsmarkts und Arbeitsbeeinträchtigungspolitik aus historischer Perspektive

Im zweiteiligen Beitrag von Dr. Angelique de Rijk wird das niederländische System der Prävention von Arbeitsbeeinträchtigung vorgestellt. Es handelt sich um eine Übersetzung des Beitrags de Rijk, A., (2019), Work Disability Prevention in the Netherlands, A Key Role for Employers, in: MacEachen, E. (ed.), The Science and Politics of Work Disability Prevention, New York: Routledge, S.223–241. Die Übersetzung des Textes wurde von Helmuth Krämer, LL.M, Legalitas, München, besorgt. Die Literaturnachweise dieses Beitrags finden sich am Ende des zweiten Beitragsteils D10-2019.

(Zitiervorschlag: De Rijk: Prävention von Arbeitsbeeinträchtigung in den Niederlanden. Eine Schlüsselrolle für Arbeitgeber – Teil I: Niederländische Eigenheiten des Arbeitsmarkts und Arbeitsbeeinträchtigungspolitik aus historischer Perspektive; Beitrag D9-2019 unter www.reha-recht.de; 16.05.2019.)


Im Jahr 2016 betrug der niederländische Krankenstand (bezüglich der ersten beiden Krankheitsjahre) knapp unter 4 %, und bescheidene 6 % der erwerbstätigen Menschen erhielten Leistungen wegen Arbeitsbeeinträchtigung (disability benefits)[1] (Statistik Niederlande, 2017a, Statistik Niederlande, 2017b). Diese Zahlen blieben während des letzten Jahrzehnts relativ stabil. Im Jahr 1979 erreichte der Krankenstand jedoch seinen Höhepunkt bei 10 % und im Jahr 1990 erreichte die Quote der Bezieher von Renten aufgrund von Arbeitsbeeinträchtigung (disability pension rate) einen Höchststand von 14 % (Aarts, de Jong, & van der Veen, 2002). Die seitdem erfolgten wundersamen Rückgänge können nur im Kontext (a) der Besonderheiten des niederländischen Arbeitsmarkts, (b) einer verstärkten Arbeitgeberbeteiligung an der Entwicklung von Konzepten zur Arbeitsbeeinträchtigungspolitik (work disability policy) und (c) des Scheiterns des großzügigen, 1967 eingeführten Systems arbeitsbeeinträchtigungsbedingter Leistungen verstanden werden. Daher beginnt dieser Beitrag mit der Darstellung der derzeitigen Besonderheiten des niederländischen Arbeitsmarktes. Daneben beschreibt der Beitrag die im Vergleich mit anderen Ländern wesentlich stärkere historische Beteiligung der Arbeitgeber an der Entwicklung und Umsetzung von Konzepten zum Umgang mit krankheitsbedingten Fehlzeiten. Die positiven Absichten des wegweisenden Systems staatlicher Entgeltersatzleistungen bei Arbeitsbeeinträchtigung von 1967 werden erläutert. Anschließend widmet sich dieser Beitrag dem Arbeitsmarkt und der Entwicklung von Konzepten in den 1980ern und 1990ern, die den Weg für ein neues Arbeitsbeeinträchtigungssystem ebneten, welches 2004 eingeführt wurde und sowohl Krankheitsabwesenheit als auch längerfristige Arbeitsbeeinträchtigung erfasst[2]. Die besonders hervorstechenden Merkmale des neuen Systems sind die Verpflichtung der niederländischen Arbeitgeber zur Aufstellung eines Aktionsplans innerhalb von 8 Wochen nach der Krankmeldung durch den Arbeitnehmer und die Verpflichtung zur Zahlung von mindestens 70 % des Entgelts während der ersten zwei Jahre der Krankheit. Die Erfolge der Reform und die Herausforderungen für die Niederlande werden behandelt. Der Beitrag endet mit der Erörterung der Übertragbarkeit des niederländischen Arbeitsbeeinträchtigungssystems auf andere Länder und seiner Zukunftsfähigkeit im Lichte der vier Fragen, die im Rahmen des Jahrhundertdialogs der Internationalen Arbeitsorganisation (2016) gestellten wurden.

I. Derzeitige Lage

Die Niederlande sind eine konstitutionelle Monarchie mit 17 Millionen Staatsbürgern (2016), einer ziemlich hohen Erwerbsquote und ziemlich produktiver Arbeitnehmerschaft und einem ungewöhnlich hohen Anteil an Teilzeitarbeitskräften, insbesondere bei Frauen.

Von den 17 Millionen Einwohnern waren 2016 fast 13 Millionen im arbeitsfähigen Alter (15–75) und 8,5 Millionen übten eine bezahlte Tätigkeit von mindestens 12 Wochenstunden aus. Daher betrug die Erwerbsquote gemäß Definition des niederländischen Statistikamtes 66 % (Statistics Netherlands, 2017b). Bezogen auf die absolute Erwerbsquote (mindestens eine Stunde pro Woche) übte 75 % der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter zwischen 15 und 65 Jahren eine bezahlte Tätigkeit aus (Trading Economics, 2017a). Diese Erwerbsquote ist während der letzten 20 Jahre gleichgeblieben (Statistics Netherlands, 2017b; Trading Economics, 2017a).

Lediglich 9 Millionen Menschen standen dem Arbeitsmarkt tatsächlich zur Verfügung. Bei den nicht zur Verfügung stehenden handelt es sich um Ehegatten, deren Partner einer bezahlten Arbeit nachgingen, die förmlich verrenteten über 65-Jährigen und in geringerem Umfang diejenigen, die Leistungen wegen voller Arbeitsbeeinträchtigung erhalten. 2016 betrug die Arbeitslosenquote 6 % und zwar unabhängig von der Anzahl der zuvor gearbeiteten Wochenstunden (Trading Economics, 2017b).

Die Niederlande sind führend bei Teilzeitarbeit, ein Rechtsanspruch, der erstmals in den 1980ern als Lösung zur besseren Abstimmung individueller Bedürfnisse zwischen Arbeits- und Privatleben eingeführt wurde. Fast die Hälfte der Arbeitnehmer arbeiten weniger als 36 Stunden pro Woche, einschließlich drei Viertel der beschäftigten Frauen (in Anerkennung ihrer unbezahlten Hausarbeit). Die durchschnittliche Doppelverdienerfamilie besteht aus einem in Vollzeit arbeitenden Mann und einer zwischen 16 und 24 Wochenstunden arbeitenden Frau (während die Frau sich an zwei bis drei Tagen pro Woche um die unter 12-Jähringen Kinder kümmert) (Pertegijs & van den Brakel, 2016). Lediglich 4 % der in Teilzeit beschäftigten Frauen würden es vorziehen, Vollzeit zu arbeiten, verglichen mit anderen OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) Staaten, eine ungewöhnlich niedrige Zahl (OECD, in Portejijs & Keuzekamp, 2008). Mütter würden gerne ein paar Stunden länger arbeiten, insbesondere wenn die Kinder älter werden und die Karrierechancen der Mütter durch Teilzeitarbeit beschränkt sind (Pertegijs & Keuzekamp, 2008; Pertegijs & van den Brakel, 2016).

Im arbeitsfähigen Alter befindliche Menschen in den Niederlanden sind recht produktiv, mit 6 % Empfängern von Leistungen wegen Arbeitsbeeinträchtigungen und einem Zwei-Jahres Krankenstand von ca. 4 % (Statistics Netherlands, 2017a; Statistics Netherlands, 2017b).

II. Kurze Geschichte der Beteiligung niederländischer Arbeitgeber bei Krankheitsabwesenheit

Niederländische Arbeitgeber wurden im Rahmen langjähriger institutioneller Vereinbarungen in extremer Weise bei der Steuerung des Krankenstandes und der Entgeltfortzahlung zur Verantwortung gezogen. Wir können drei Gebiete institutioneller Vereinbarungen unterscheiden:

  • Staatliche und professionelle Mitwirkung bei der Schaffung sicherer und gesunder Arbeitsplätze sowie der Wahrung der Gesundheit der Arbeitnehmer
  • Schutz des Einkommens arbeitsbeeinträchtigter Beschäftigter (disabled workers), mit starker Unterstützung durch dreiseitig (Staat, Arbeitgeber, Arbeitnehmer) besetzte Institutionen; und
  • Gesundheitsvorsorge, die streng von der Arbeitsmedizin und Sozialversicherung getrennt ist.

Erstens stehen Arbeitsbedingungen seit dem 19. Jahrhundert unter gesetzlichem Schutz; eine Arbeitsaufsicht bestand schon 1899. Die Niederländische Gesellschaft für Arbeitsmedizin[3] oder NVAB wurde 1953 gegründet (Netherlands Society of Occupational Medicine, 2017). 1959 wurde der Beruf des Arbeitsmediziners anerkannt und Organisationen mit mehr als 750 Beschäftigten wurden verpflichtet ein eigenes betriebliches Gesundheitsprogramm aufzustellen (Wolvetang, Buijs, & van Ossterom, 1997).

Zweitens können die Niederlande als ein korporatistischer Sozialstaat beschrieben werden. (Eikemo & Bambra, 2008). Sein Fundament ist ein Bismarck’scher Sozialstaat, basierend auf einer Sozialversicherung, die einkommensbezogene Leistungen für Arbeitnehmer gewährt und durch einen Mix von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen oder Abgaben finanziert wird. Dagegen ist die Beveridge’sche Sozialpolitik durch die Gewährung universeller Leistungen (für alle Bürger ohne die Bevorzugung von Arbeitnehmern) sowie die Finanzierung durch Steuern geprägt (Bonoli, 1997). Manche haben die Niederlande auf der Grundlage der Höhe der Sozialausgaben als sozialdemokratischen Sozialstaat beschrieben (Anema, Prinz, & Prins, 2013; Esping-Andersen, 1990). Allerdings werden wir im Rahmen dieses Beitrags in Übereinstimmung mit Brama (2007) auf die historisch begründete Aufgabenverteilung statt auf das Investitionsvolumen innerhalb des Systems abstellen. Im 20. Jahrhundert wurde in den Niederlanden ein nationales Netzwerk von Arbeitnehmerversicherungsanstalten entwickelt, das durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge finanziert und zunehmend staatlich reguliert wurde. Diese verschiedenen Anstalten boten keine Krankenversicherung an und legten ihren Schwerpunkt lediglich auf die Einkommenssicherung im Falle der Arbeitsbeeinträchtigung (work disability). Dieses Netzwerk entwickelte sich zu einem einzigen, 2002 errichteten nationalen niederländischen Leistungssystem für Arbeitnehmer[4] (Aarts, de Jong, & van der Veen, 2002).

Ein typisches Merkmal des niederländischen korporatistischen Sozialstaats ist die auf Konsultation aufbauende Wirtschaft (consultative economy) (Labour Foundation, 2010). Die auf Konsultation beruhende Wirtschaft bedeutet, dass die Entscheidungsfindung und die Politikgestaltung auf der Grundlage von Diskussionen und Verhandlungen stattfinden, insbesondere, wenn Arbeit und Einkommen betroffen sind (Labour Foundation, 2010). Diese Kultur wurde 1945, unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg mit der Gründung der Stiftung für Arbeit (Labour Foundation)[5] institutionalisiert. Dieses nationale privatrechtliche Beratungsgremium setzt sich aus dem niederländischen Arbeitgeberverband sowie dem Gewerkschaftsbund zusammen und ist eine zweiseitige, auf dem Grundsatz der Parität aufgebaute Organisation (Labour Foundation, 2010) mit bis zum heutigen Tage einflussreichen Konsultationsrunden mit der Regierung im Frühjahr und im Herbst. 1950 wurde der aus Arbeitgebern, Arbeitnehmern sowie unabhängigen Experten („Mitglieder der Krone“ genannt) zusammengesetzte niederländische Sozial- und Wirtschaftsrat[6] eingerichtet (Social and Economic Council of the Netherlands, 2015). Dieses trilaterale Beratungsgremium unterbreitet auf Anfrage der Regierung oder auf eigene Initiative Empfehlungen. Diese beiden Gremien treffen daher keine politischen Entscheidungen, sondern beraten die Regierung regelmäßig und ihr Rat hat weitreichenden Einfluss im Rahmen der politischen Entscheidungsprozesse in den Niederlanden.

Arbeitgeber zahlen direkt, durch Beiträge oder Entgeltfortzahlungen, für einen substantiellen Teil des Wohlfahrtsstaates, was zu einem stärkeren Gefühl der Beteiligung führt als in allein steuerbasierten (Beveridge) Systemen. Zudem beeinflussen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften die politische Entscheidungsfindung zu einem frühen Zeitpunkt. Einmal ausgearbeitet, sind die getroffenen Regelungen den Arbeitnehmern und Arbeitgebern gut bekannt, entsprechen den ihnen bekannten tatsächlichen Gegebenheiten und werden regelmäßig von den meisten Arbeitgebern des Landes unterstützt, ohne große Konflikte mit Arbeitnehmerinteressen hervorzurufen. Diese typisch niederländische Art der schrittweisen Politikgestaltung wurde im Zusammenhang mit der integrierten Gesundheitsversorgung von älteren Menschen sorgfältig von Kümpers, van Raak, Hardy & Mur. (2002) analysiert. Zudem (obwohl dies weniger hervorgehoben wird), begünstigt die Einbindung von Experten in die politische Entscheidungsfindung die Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu einem frühen Zeitpunkt der Ausformulierung von Regelungen.

Drittens sind die Niederlande durch ein fast komplett von der Arbeitsmedizin und der Sozialversicherung getrenntes Gesundheitswesen gekennzeichnet. Seit 1903 ist es behandelnden Ärzten verboten, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für ihre Patienten auszustellen. Andere (von den Arbeitgebern angestellte oder für Sozialversicherungsbehörden tätige) Ärzte überprüfen die Rechtmäßigkeit der Krankheitsabwesenheit und der langfristigen Arbeitsbeeinträchtigung. Seitdem wurden der Beruf des Versicherungsmediziners und, schon in den 1950ern, der Beruf des Arbeitsmediziners amtlich geschaffen (Wovetang et. al., 1997). Diese Trennung von Gesundheits- und arbeitsmedizinischer Versorgung von der Sozialversicherung hat die Arbeitgeber zudem ermutigt, sich bei der Ausformulierung von Regelungen zur Arbeitsbeeinträchtigung und deren Umsetzung in der Praxis zu engagieren (Prins & Bloch, 2001).

III. Das Leistungssystem bei Arbeitsbeeinträchtigung von 1967

Mit der Einführung des öffentlichen Leistungssystems bei Arbeitsbeeinträchtigung[7] im Jahr 1967 für alle Arbeitnehmer und 1976 für alle Bürger, war der niederländische Sozialstaat vollendet. Das System betraf langfristige Arbeitsbeeinträchtigung für die Zeit nach einer Beschäftigung. Dieses war an ein System krankheitsbedingter Leistungen gekoppelt, das die Sicherung des noch immer im Beschäftigungsverhältnis stehenden Arbeitnehmers während des ersten Krankheitsjahres gewährleistete. Grundlegende Änderungen fanden bis zur Privatisierung eines Teils des Systems krankheitsbedingter Leistungen 1996 nicht statt. Das 1967 eingeführte System arbeitsbeeinträchtigungsbedingter Leistungen ersetzte diverse alte Gesetze, welche lediglich Arbeitsrisiken bestimmter Gruppen von Beschäftigten erfassten, mit einem System, das auch soziale Risiken (nicht nur die Folgen von Arbeitsunfällen) und somit den Einkommensverlust aufgrund jeder Art der Arbeitsbeeinträchtigung (d. h. der Unfähigkeit aufgrund einer Krankheit zu arbeiten und zwar unabhängig von deren Ursache) abdeckte. Die Niederlande waren in der fehlenden Trennung zwischen Arbeitsunfällen und von sonstigen, nicht arbeitsbezogenen Unfällen im Rahmen arbeitsbeeinträchtigungsbedingter Leistungen einzigartig. Zudem lag die Schwelle zur Anspruchserlangung bei einem Einkommensverlust von lediglich 15 % und die Deckung nahm stufenweise, abhängig von dem geminderten Einkommen, bis zu einer maximalen Höhe von 80 % des vormalig erzielten Einkommens zu. Dieses innovative und großzügige System arbeitsbeeinträchtigungsbedingter Leistungen von 1967 wurde insgesamt durch den Leitgedanken des Rechts auf Selbstverwirklichung und Gleichheit beeinflusst (Aarts u. a., 2002).

Beschäftigte, die wegen einer Krankheit nicht zur Arbeit erschienen, konnten im ersten Jahr Krankengeld beantragen. Während dieses Jahres wurde der Arbeitnehmer ärztlich behandelt und die Berechtigung seiner Fehlzeit überwacht. Weder die Krankenversorgung noch die Arbeitsmedizin richteten sich auf die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit.

Nach einem Jahr erkrankungsbedingter Fehlzeit wurde zur Feststellung des Anspruchs auf Rente wegen Arbeitsbeeinträchtigung die Erwerbsfähigkeit (earning ability), nicht die Arbeitsfähigkeit (work ability) beurteilt (Aarts u.a., 2002). Wurde einem Arbeitnehmer nach einem Jahr krankheitsbedingter Fehlzeit keine Leistungen wegen Arbeitsbeeinträchtigung gewährt, standen diesem noch das Arbeitslosengeld (gem. niederländischem Arbeitslosenversicherungsgesetz[8]) oder Einkommensunterstützung[9] (ein vom Staat für Menschen ohne Einkommen oder Besitz gewährtes Mindesteinkommen) zur Verfügung. Eine durch Arbeitslosengeld aufgestockte Leistung wegen teilweiser Erwerbsminderung war ebenfalls möglich (s. Abbildung 1).

Sowohl das Krankengeld als auch Leistungen wegen Arbeitsbeeinträchtigung wurden aus Beiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziert. Diese Beiträge führten zu einer Steigerung der Lohnnebenkosten der Arbeitgeber. Ein Großteil der Systeme zur Gewährung krankheits- und arbeitsbeeinträchtigungsbedingter Leistungen wurden daher staatlich reguliert und bereitgestellt, aber von den Arbeitgebern bezahlt (s. Abbildung 1).

Abbildung 1 Niederländisches System krankheitsbedingter Leistungen vor 1996

Nach der vor 1980 bestehenden Gesetzeslage hatten die Arbeitgeber umfangreiche Möglichkeiten, Krankenstand und Kosten für arbeitsbeeinträchtigungsbedingte Leistungen zu kontrollieren. Sie waren in der Lage, Krankheitsfällen im Rahmen des Arbeitsschutzgesetzes[10] von 1980 vorzubeugen und konnten bei der Besetzung von Hochrisikoarbeitsplätzen medizinische Untersuchungen durchführen. Allerdings zielte die Gesetzgebung, wie nachfolgend beschrieben, nicht auf Anreize zur Senkung der Kosten für krankheits- und arbeitsbeeinträchtigungsbedingte Leistungen. Solche Anreize wurden dann in den 1980ern und 1990ern schrittweise eingeführt.

IV. „Holländische Krankheit“ in der niederländischen Wirtschaft und Arbeitsbeeinträchtigungssysteme in den 1980ern und 1990ern

Sowohl das System krankheitsbedingter als auch arbeitsbeeinträchtigungsbedingter Leistungen wurden für die Arbeitnehmer viel attraktiver als erwartet. 1979 arbeiteten 10 % der entgeltlich Beschäftigten nicht und erhielten krankheitsbedingte Leistungen. Dieser hohe Krankenstand führte dazu, dass viele Beschäftigte nach einem Jahr Krankheit Leistungen wegen Arbeitsbeeinträchtigung beantragten. 1967 ging man davon aus, dass lediglich 200.000 Menschen auf Zahlungen wegen Arbeitsbeeinträchtigung angewiesen sein würden, allerdings bezogen sieben Jahre später mehr als 300.000 Leistungen wegen Arbeitsbeeinträchtigung. 1980 betrugen deren Kosten 4 % des BIP (Aarts u. a., 2002).

Allerdings stellten weder der hohe Krankenstand noch die hohe Zahl der Bezieher von Leistungen wegen Arbeitsbeeinträchtigung, sondern die schwere wirtschaftliche Krise und die hohe Arbeitslosenzahl das dringendste Problem der Niederlande dar. Der Begriff der „holländischen Krise“ wurde 1977 geprägt um den der übermäßigen Abhängigkeit von den 1959 entdeckten Erdgasressourcen folgenden starken Rückgang der niederländischen Wirtschaft zu erklären. Infolgedessen waren einheimische Industrien vernachlässigt worden, was zu einer hohen Inflation, einer Verringerung der Investitionen und einem Verlust der globalen Wettbewerbsfähigkeit führte (C. W., 2014).

Als Antwort darauf schlossen die Regierung, die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften 1982 die sogenannte Wassenaar-Vereinbarung[11]. Die Gewerkschaften sagten zu, nicht weiter auf häufigen Lohn- und Gehaltsanpassungen an das Inflationsniveau zu bestehen. Arbeitgeberverbände boten eine kürzere Arbeitswoche, Frühverrentung und Teilzeitarbeit an. Mit diesen Änderungen konnten Unternehmensgewinne wiederhergestellt und Vollbeschäftigung erreicht werden. Trotz des Gefühls der drei Parteien, mit dieser Vereinbarung einen Sieg errungen zu haben, nahm die Zahl der Bezieher von Leistungen wegen Arbeitsbeeinträchtigung zu. Der erste Grund war der rezessionsbedingte Rückgang der verfügbaren Arbeitsplätze, der es der Regierung erlaubte, das Verfahren zur Feststellung des Anspruchs auf Leistungen wegen Arbeitsbeeinträchtigung aufzuweichen. Die geringeren Chancen auf einen neuen Arbeitsplatz wurden bei der Feststellung eines Anspruchs auf Leistungen wegen Arbeitsbeeinträchtigung mitberücksichtigt, was zu einer Zunahme der Zahl der Bezieher geführt hat (Arents, Cluitmans, & van der Ende, 1999).

Der zweite Grund für die zunehmende Zahl der Bezieher von Leistungen wegen Arbeitsbeeinträchtigung ohne das Ergreifen sofortiger Maßnahmen war, dass das hohe Niveau an Beziehern von Leistungen wegen Arbeitsbeeinträchtigung durch ein anderes typisch holländisches Phänomen verdeckt wurde: die zu diesem Zeitpunkt sehr geringe Erwerbsbeteiligung von Frauen. Trotz des generellen, geschlechterunabhängigen Rückgangs der Erwerbsbeteiligung zwischen 1975 und 1985 waren die Gesamtausgaben für Sozialleistungen im internationalen Verhältnis nicht außergewöhnlich hoch. 1985 waren 20 % der Bevölkerung auf eine Sozialleistung angewiesen, was dem Durchschnitt im Vergleich mit elf OECD-Staaten entsprach. Allerdings hatte ein großer Teil der Bevölkerung (35 %) kein eigenes Einkommen (hauptsächlich verheiratete Frauen) und lediglich 45 % der im arbeitsfähigen Alter befindlichen niederländischen Bevölkerung (im Alter 15–64) war entgeltlich beschäftigt (Arents u. a., 1999).

In den meisten westlichen Ländern sank die Beschäftigung wegen der wirtschaftlichen Krise zu Beginn der 1970er Jahre, während die Zahl der Arbeitskräfte wegen der in den Arbeitsmarkt drängenden Babyboomern zunahm. In allen Ländern nahm die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter zu, die einen Antrag auf Leistungen wegen Arbeitsbeeinträchtigung als Alternative zur (massiven) Arbeitslosigkeit stellten. Allerdings war diese Verschiebung in den Niederlanden stärker ausgeprägt.

Der Anteil älterer Männer (im Alter 55-64) in einem Beschäftigungsverhältnis sank von einer mittelmäßigen Quote von 80,6 % in 1970 auf einen eindrucksvollen Tiefststand von 44,2 % in 1997. Dieser Rückgang wurde hauptsächlich mit dem einfachen Zugang zum System arbeitsbeeinträchtigungsbedingter Leistungen erklärt. In diesem Zeitraum ging der Anteil der in einem Beschäftigungsverhältnis befindlichen Männer auch in Belgien, Frankreich, Finnland, Deutschland und Österreich beachtlich zurück. Während das System arbeitsbeeinträchtigungsbedingter Leistungen in Deutschland und Österreich zugleich als Frühverrentungssystem fungierte, verfügten die anderen Länder über attraktive Frühverrentungssysteme (Aarts u. a., 2002; Einerhand, Knol, Prins, & Verrman, 1995).

Der dritte Grund für die Zunahme von Arbeitsbeeinträchtigungen war das fehlende Kostenbewusstsein. Das Umlageverfahren mit im Voraus zu entrichtenden Arbeitgeberbeiträgen hielt sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer davon ab, die Kosten als die ihren zu betrachten (Aarts & de Jong, 1998). Der vierte Grund war das auffällige Fehlen von Ausgaben für Wiedereingliederungsmaßnahmen (berufliche Rehabilitation) und damit auch eine geringe Austrittsquote aus dem System arbeitsbeeinträchtigungsbedingter Leistungen in den 1990ern (Liedorp, 2002; Social and Economic Council of the Netherlands, 1991). Weniger als 0,01 % des BIP wurde für Wiedereingliederungsmaßnahmen ausgegeben, verglichen mit 0,4% in den Vereinigten Staaten, 0,10 % in Schweden und 0,15 % in Deutschland und der Schweiz (Aarts u. a., 2002).

1990 waren enorme 14 % der niederländischen Erwerbsbevölkerung auf Leistungen wegen Arbeitsbeeinträchtigung angewiesen. Der Premierminister benutzte die Worte „Die Niederlande ist krank“ (NRC Handelsblad, 1990), um den Widerspruch zwischen einem wohlhabenden Land mit hoch gebildeten Bürgern und einer exzellenten Gesundheitsversorgung und der hohen Anzahl der als zu krank zum Arbeiten geltenden Menschen zu reflektieren (de Volkskrant, 1998). Schließlich entschlossen sich der Staat, die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften aufgrund der vorherigen positiven Erfahrungen und neuen Vorstellungen von Regierungs-, Amts- und Unternehmensführung, dieses Problem gemeinsam anzugehen. In der 1980ern wuchs das Bewusstsein dafür, dass der Staat die sozialen Prozesse durch konsequente Gesetzgebung allein nicht ausreichend beeinflussen konnte. Stattdessen sollte die Gesetzgebung lediglich den Rahmen vorgeben, in dem die Parteien agieren können und andere Regelungsinstrumente wie wirtschaftliche Anreize sollten genutzt werden (Liedorp, 2002). Diese neuen, dem „Dritten Weg“ (Giddens, 2001) entsprechenden, von der Clinton Administration in den USA und von der Blair Regierung im Vereinigten Königreich eingeführten Ideen boten den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden mehr Raum zur Einflussnahme auf die Entscheidungsfindung.

In den Niederlanden führte diese Ausweitung der Handlungsinstrumente zu einer klaren Verschiebung zu finanziellen Anreizen für Arbeitgeber (Liedorp, 2002). Diese Verschiebung begann 1993 mit der Koppelung der Krankengeldbeiträge an den kurzzeitigen Krankenstand der jeweiligen Organisation durch das neue Krankengeldgesetz[12]. Anschließend, 1994, wurden die staatlichen Krankengeldzahlungen durch die Verpflichtung der Arbeitgeber zur Fortzahlung von mindestens 70 % des Entgelts des Beschäftigten während der ersten zwei (für kleine Organisationen) bis sechs (für große Organisationen) Wochen der krankheitsbedingten Fehlzeit, ersetzt; ggf. übernahm anschließend der Staat die Zahlungen für krankheitsbedingte Fehlzeiten. 1996 wurden die staatlichen Krankengeldzahlungen eingestellt und Arbeitgeber wurden zur Fortzahlung von mindestens 70 % des Entgelts des Beschäftigten während des ersten Jahres der Arbeitsunfähigkeit verpflichtet (Aarts u.a., 2002; Liedorp, 2002). Schließlich wurden 1998 finanzielle Anreize zur Verringerung der Leistungen wegen langfristiger Arbeitsbeeinträchtigung eingeführt. Bis dahin wurden die Arbeitgeberbeiträge im Rahmen des Systems arbeitsbeeinträchtigungsbedingter Zahlungen von 1967 anhand der Anzahl der arbeitsbeeinträchtigten Personen innerhalb einer Organisation berechnet (Liedorp, 2002). Bis dahin wurden keine Maßnahmen zur Förderung der Wiedereingliederung während des ersten Jahres krankheitsbedingter Fehlzeit getroffen. Die Gesetze setzten darauf, dass die Arbeitgeber aufgrund der finanziellen, an die Verhütung und Verkürzung krankheitsbedingter Fehlzeiten gekoppelten Anreize selbstverantwortlich tätig werden würden. Eingriffsmaßnahmen während der Krankheit zur anschließenden Wiedereingliederung wurden von privaten Arbeitsschutzanbietern und privaten Versicherungen angeboten, welche den Arbeitgebern ebenfalls Arbeitsunfähigkeitsversicherungen anboten. Deren Pakete enthielten präventive Maßnahmen und Wiedereingliederungsrichtlinien zur Reduzierung der Kosten der Versicherer.

Daher änderte sich die Gesetzgebung zu krankheitsbedingten und arbeitsbeeinträchtigungsbedingten Leistungen in den 1980ern und 1990ern schrittweise mit dem Ziel, die Kosten zu dämpfen und den Arbeitgebern Anreize zur Vorbeugung von Krankheitsfällen zu setzen. Gleichzeit erhielten die krank gemeldeten Arbeitnehmer einen einjährigen Kündigungsschutz. Diese Gesetzesänderungen wurden durch hauptsächlich von der Regierung in Auftrag gegebene Forschungsarbeiten begleitet, obwohl Regelungsänderungen oft zu schnell erfolgten, um deren tatsächliche Wirkung untersuchen zu können (Aarts u. a., 2002).

Im Jahr 2000 wurden die niederländischen Arbeitgeber vollständig für die Umsetzung und Finanzierung des Schutzes der Arbeitnehmereinkommen im ersten Jahr krankheitsbedingter Fehlzeit zur Verantwortung gezogen. Dennoch war der Staat weiterhin rechtlich für den Schutz der Arbeitnehmereinkommen bei Arbeitsunfähigkeit zuständig. Lediglich die rechtlichen Rahmenbedingungen hatten sich geändert: Die Sozial-versicherungsleistung wurde durch eine gesetzliche Zahlungsverpflichtung ersetzt. Diese Änderung wurde von privaten Versicherern unterstützt, die Versicherungen mit attraktiven Tarifen entwickelten, die Arbeitgeber gegen das Risiko der Zahlung bei Arbeitsunfähigkeit absicherten (Liedorp, 2002). Diese Regelungsänderungen und deren Tempo standen im Gegensatz zu denen in anderen europäischen Ländern mit vergleichbaren wirtschaftlichen Merkmalen. In Dänemark gab es eine höhere Schwelle zur Erlangung eines Anspruchs auf arbeitsbeeinträchtigungsbedingte Leistungen und die Teilnahme an beruflicher Wiedereingliederung wurde stark gefördert (Høgelund, 2003). In Schweden waren Arbeitgeber nicht zur Zahlungen bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit über die ersten zwei Wochen hinaus verpflichtet (Liedorp, 2002). Im Vergleich mit Belgien wurden in den Niederlanden in den 1980ern und 1990ern eine umfangreichere und zudem weniger großzügige Gesetzgebung in Bezug auf krankheitsbedingte Fehlzeiten erlassen (van Raak, de Rijk, & Morsa, 2005). Die rasanten Änderungen in den Niederlanden hatten zudem den Nachteil, dass die mit der neuen Gesetzgebung zum Umgang mit krankheitsbedingten Fehlzeiten verfolgte Förderung der Wiedereingliederung von den Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht „verinnerlicht“ werden konnte. Die Gesetzgebung konnte nicht in Routine übergehen, was die Anwendung in der Praxis beeinträchtigte (van Raak u. a 2005).

Beitrag von Dr. Angelique de Rijk, Universität Maastricht

Fußnoten:

[1] Im englischsprachigen Original werden die Begriffe Work Disability, Work Disability Preven-tion, Work Disability Policy, Disability Pension und Disability Benefits benutzt. Für die Übersetzung von (Work) Disability sind die Begriffe Arbeitsbeeinträchtigung, Arbeitsunfähigkeit, Arbeitsteilhabebeeinträchtigung, Beeinträchtigung der Beschäftigungsfähigkeit, Erwerbsbeeinträchtigung und Erwerbsunfähigkeit in Betracht gezogen worden. Schließlich haben wir uns für Arbeitsbeeinträchtigung entschieden. Dieser Begriff ist im Deutschen mit keiner feststehenden rechtlichen Bedeutung versehen und drückt aus, dass die Teilhabe am Arbeitsleben auch graduell beeinträchtigt sein kann. An der Diskussion dieser Frage haben sich René Dittmann, Friedrich Mehrhoff, Oskar Mittag und Felix Welti beteiligt.

[2] Das Arbeitsbeeinträchtigungssystem von 2004 ist Gegenstand des zweiten Beitragsteils D10-2019.

[3] Nederlandse Vereniging voor Arbeids- en Bedrijfsgeneeskunde.

[4] Uitvoeringsorgaan Werknemers Verzekeringen.

[5] Wet op de ArbeidsOngeschiktheidsverzekering.

[6] Sociaal-Economische Raad.

[7] Wet op de ArbeidsOngeschiktheidsverzekering.

[8] Werkloosheids Wet.

[9] Bijstand.

[10] Arbeidsomstandighedenwet.

[11] Akkoord van Wassenaar.

[12] Ziektewet.


Stichwörter:

Arbeitsunfähigkeit, Verminderte Erwerbsfähigkeit, berufliche Wiedereingliederung, Rückkehr ins Erwerbsleben (return to work), Teilhabeforschung, Arbeitgeberverantwortung, Internationales


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