I. Einführung
Seit dem 1. Januar 2018 kann das in § 61 SGB IX verankerte Budget für Arbeit (BfA) bundesweit in Anspruch genommen werden. Das Ziel des BfA besteht darin, auch jenen Menschen mit Behinderungen einen Zugang zum bzw. eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen, für die es bislang wenige Alternativen zur Beschäftigung im Arbeitsbereich der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) gab.[1] Vor der bundesweiten Einführung wurde das BfA in mehreren Bundesländern erprobt.[2] Seit dem gab es noch keine umfassende Evaluation, obwohl sie auf Länderebene z. T. vorgeschrieben ist.[3] Vor diesem Hintergrund der insgesamt noch schlechten Datenlage führten die Autorinnen dieses Beitrags Ende 2019 im Rahmen des Projekts „Partizipatives Monitoring der aktuellen Entwicklung des Rehabilitations- und Teilhaberechts bis 2021“ eine qualitativ-explorative Studie zum Umsetzungsstand des Budgets für Arbeit in Berlin durch.[4] Von September bis Dezember 2019 wurden fünf Fokusgruppen und zwei Einzelinterviews mit insgesamt 44 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführt. Befragt wurden an der Umsetzung des BfA beteiligte Akteure. Die Fokusgruppen setzten sich jeweils aus Leistungsberechtigten (darunter Werkstatträte und ein Budgetnehmer), Arbeitgebern (mit und ohne Budgetnehmende im Betrieb), Unterstützerinnen und Unterstützer (z. B. aus der Ergänzenden unabhängigen Beratung – EUTB, Integrationsfachdiensten, Übergangsmanagement der WfbM), Leistungsträgern (z. B. Eingliederungshilfe, Integrationsamt) und Vertreterinnen und Vertretern der Berliner Modellprojekte[5] zusammen. Mit zwei Budgetnehmenden wurden Einzelinterviews geführt. Die Interviews waren leitfadengestützt, wurden aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Mithilfe der Software MAXQDA wurden die Transkripte einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring[6] unterzogen.
In insgesamt drei Beiträgen werden ausgewählte Ergebnisse dargestellt und diskutiert. Dieser Beitrag wird nach einer kurzen Darstellung der rechtlichen Rahmung des BfA zunächst empirische Befunde zu BfA-spezifischen Anspruchsvoraussetzungen und Zugängen in den Blick nehmen. In einem zweiten Beitrag wird die konkrete Ausgestaltung des BfA thematisiert, wobei darin der Fokus auf sozialversicherungsrechtlichen Fragestellungen, der Möglichkeit zur Inanspruchnahme einer Anleitung und Begleitung sowie dem Lohnkostenzuschuss (LKZ) liegt. Der dritte Beitrag fasst fördernde sowie hemmende Faktoren zusammen und leitet daraus Handlungsempfehlungen ab.
II. Rechtliche Rahmung
Bevor das BfA für einen Menschen mit Behinderungen als Alternative zur WfbM in Frage kommt, muss sichergestellt sein, dass gem. § 58 Abs. 1 SGB IX
- eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bzw. in Inklusionsbetrieben,
- eine individuelle betriebliche Qualifizierung im Rahmen der Unterstützten Beschäftigung,
- eine berufliche Anpassung und Weiterbildung oder
- eine erneute berufliche Ausbildung
wegen Art oder Schwere der Behinderung (noch) nicht (wieder) in Betracht kommen. Daraus folgt die Nachrangigkeit des BfA gegenüber den in § 58 SGB IX aufgezählten qualifizierenden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.
1. Anspruchsvoraussetzungen
a. Anspruch auf Leistungen im Arbeitsbereich der WfbM
Leistungsberechtigt sind nach § 61 Abs. 1 SGB IX Menschen mit Behinderungen, die gem. § 58 Abs. 1 S. 1 SGB IX einen Anspruch auf Leistungen im Arbeitsbereich einer WfbM oder eines anderen Leistungsanbieters gem. § 60 SGB IX haben.
Folglich muss der Arbeitsbereich einer WfbM nicht tatsächlich durchlaufen werden, da als Anspruchsvoraussetzung allein die Fähigkeit entscheidend ist, ggf. nach Abschluss einer Berufsvorbereitung, einer beruflichen Anpassung bzw. Weiterbildung oder beruflichen Ausbildung ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit zu leisten (§ 219 Abs. 2 SGB IX)[7]. Gem. § 58 Abs. 1 Hs. 2 SGB IX haben auch Menschen mit Behinderungen ein Recht auf Leistungen im Arbeitsbereich, die aufgrund einer vorherigen Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bereits über die Leistungsfähigkeit verfügen, die für eine in Aussicht stehende Beschäftigung erforderlich ist.
Zudem müssen weder das Eingangsverfahren, noch der Berufsbildungsbereich der WfbM durchlaufen werden, wenn zuvor eine berufliche Bildung[8] außerhalb der WfbM (im Rahmen eines Persönlichen Budgets[9] gem. § 29 SGB IX oder des Budgets für Ausbildung gem. § 61a SGB IX) absolviert wurde.
b. Arbeitsvertrag
Die zweite Zugangsvoraussetzung ist gem. § 61 Abs. 1 SGB IX das Vorliegen eines Vertrags über ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis. Der Nachweis über die erforderliche Leistungsfähigkeit gilt mit der Vorlage des Arbeitsvertrags als erbracht.[10] Dies spricht gegen die volle Erwerbsminderung als Zugangsvoraussetzung und ist gerade vor dem Hintergrund bedeutsam, dass laut Gesetzesbegründung, das BfA „einen Personenkreis umfasst, der dem Grunde nach dem allgemeinen Arbeitsmarkt wegen voller Erwerbsminderung nicht zur Verfügung steht“[11]. Gleichzeitig stellt die volle Erwerbsminderung keinen Hinderungsgrund für die Inanspruchnahme des BfA dar.[12] Die Erwerbsminderung spielt als Anspruchsvoraussetzung keine Rolle, weil sie – in der Theorie – weder über den Zugang noch über eine Ablehnung entscheidet.
c. Erwerbsminderung
Im Sozialrecht (§ 8 Abs. 1 SGB II) gilt eine Person als erwerbsfähig, die nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.[13] Als voll erwerbsgemindert gilt folglich eine Person, die diese drei Stunden nicht leisten kann (§ 43 Abs. 2 SGB VI). Die konkrete Beurteilung des Einzelfalls obliegt der Rentenversicherung[14] und entscheidet über den Zugang zu Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.
In der Gesetzesbegründung heißt es, dass das BfA „Arbeitgeber dazu bewegt, mit dem Menschen mit Behinderungen trotz dessen voller Erwerbsminderung einen regulären Arbeitsvertrag zu schließen“[15]. Diese Formulierung kann so interpretiert werden, dass die volle Erwerbsminderung eine zwingende Zugangsvoraussetzung darstellt. Die Aufnahme in den Arbeitsbereich der WfbM setzt jedoch lediglich die Feststellung der „Werkstattfähigkeit“ voraus (vgl. a.), nicht jedoch die Feststellung einer vollen Erwerbsminderung.[16] Zwar gelten WfbM-Beschäftigte gem. § 43 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 SGB VI rentenrechtlich als voll erwerbsgemindert, dieser Sachverhalt kann jedoch nicht als Voraussetzung für die Aufnahme in den Arbeitsbereich der WfbM oder für das Budget für Arbeit umgekehrt werden.[17]
Eine mögliche Erklärung für ein in der Praxis weit verbreitetes Missverständnis, dass alle WfbM-Beschäftigten voll erwerbsgemindert seien (oder sein müssen), ist in den Regelungen zur Grundsicherung bei voller Erwerbsminderung (§ 41 Abs. 3, 3a SGB XII) zu finden. Gem. § 45 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB XII kann die Feststellung der Erwerbsminderung entfallen, wenn sich der Fachausschuss gem. § 2 WVO für eine Aufnahme in die WfbM ausgesprochen hat. Personen, die auf diese Weise in die WfbM aufgenommen werden, gelten rentenrechtlich als erwerbsgemindert (für die Dauer ihrer Beschäftigung in der WfbM). Ob die Personen jedoch auch tatsächlich als erwerbsgemindert gelten, muss von der Rentenversicherung im Einzelfall und im Vergleich mit den auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblichen Arbeitsbedingungen geprüft werden. Eine Beschäftigung in der WfbM allein rechtfertigt jedenfalls nicht die Annahme einer Erwerbsminderung.[18] Eine solche Auslegung würde auch dem Grundgedanken des § 56 SGB IX widersprechen, wonach Leistungen in WfbM u. a. erbracht werden, um die Leistungs- und Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern oder wiederherzustellen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die Erwerbsfähigkeit „in welchem Umfang auch immer – noch vorhanden ist“[19].
Menschen mit vorübergehender Einschränkung der Erwerbsfähigkeit sind in der Zielrichtung des § 61 SGB IX ebenfalls miteingeschlossen, weshalb es in der Gesetzesbegründung dann auch heißt:
„Den Menschen mit Behinderungen im erwerbsfähigen Alter wird auch ein Weg in Richtung allgemeiner Arbeitsmarkt eröffnet, ohne zuvor den Nachweis der individuellen Erwerbsfähigkeit führen zu müssen“[20]. (BT-Drs. 18/9522, S. 253, Herv. durch die Autorinnen)
Personen, welche die verschiedenen Bereiche der WfbM nicht durchlaufen haben, können ihre Leistungsfähigkeit mit der Vorlage des Arbeitsvertrages nachweisen. Eine vorherige Begutachtung kann dann entfallen. Insgesamt stünde die Erwartung eines rentenrechtlichen Status als Zugangsvoraussetzung für das Budget für Arbeit im Widerspruch zur präventiven Zielrichtung der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben („Reha vor Rente“).
Die weiteren Ausführungsvorschriften für das BfA in Trägerschaft der Eingliederungshilfe (EGH) können auf Landesebene geregelt werden. In Berlin erfolgt dies durch ein Rundschreiben der Senatsverwaltung.[21] Darin werden u. a. § 61 Abs. 1 SGB IX ergänzende Zugangsvoraussetzungen formuliert, wie die volle und dauerhafte Erwerbsminderung.[22]
„Anspruchsberechtigt sind Menschen mit Behinderung, die Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII (bzw. ab 1. Januar 2020 § 99 SGB IX ) und auf Leistungen nach § 58 SGB IX (Leistungen im Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen – WfbM –) haben, dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, und die mit einem privaten oder öffentlichen Arbeitgeber/einer Arbeitgeberin ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis mit einer tarifvertraglichen oder ortsüblichen Entlohnung abgeschlossen haben.“ (SenIAS 2017, Punkt 3, Herv. durch die Autorinnen)
Außerdem wird die Voraussetzung ergänzt, dass die Leistungsfähigkeit durch eine zwölf Monate dauernde Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachgewiesen werden kann.[23] Diese beiden, durch die Berliner Senatsverwaltung ergänzten, Anspruchsvoraussetzungen für das BfA (Erwerbsminderung und Dauer der Beschäftigung zum Nachweis der Leistungsfähigkeit) engen den Kreis der Leistungsberechtigten weiter ein. Diese landesrechtliche Einengung ist insofern als unzulässig zu bewerten, als sie nicht im Einklang mit den bundesrechtlichen Zugangsvoraussetzungen nach §§ 58 Abs. 1 und 61 Abs. 1 SGB IX steht.
2. Zugang
Die Träger der Eingliederungshilfe sind gem. § 63 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX in der überwiegenden Anzahl der Fälle für die in § 111 SGB IX beschriebenen “Leistungen zur Beschäftigung” zuständig. Zu diesen werden u. a. Leistungen im Arbeitsbereich der WfbM nach §§ 58 und 62 SGB IX, bei anderen Leistungsanbietern nach §§ 60 und 62 SGB IX sowie Leistungen bei privaten und öffentlichen Arbeitgebern, unter die das Budget für Arbeit nach § 61 SGB IX fällt, gezählt. Hinsichtlich des Zugangs zum BfA besteht gem. § 61 Abs. 5 SGB IX keine Verpflichtung des Leistungsträgers, Leistungen zur Beschäftigung bei privaten oder öffentlichen Arbeitgebern zu ermöglichen.[24]
Im Rahmen des BfA könnte beim Zugang allerdings die Rolle der Bundesagentur für Arbeit (BA) von Bedeutung sein. Die Bestimmungen des § 63 Abs. 2 SGB IX schließen die Zuständigkeit der BA zwar für Leistungen im Arbeitsbereich aus. Die Verpflichtungen der BA aus § 187 SGB IX werden hiervon aber nicht berührt.[25] Die BA ist gem. § 187 Abs. 1 SGB IX für die Vermittlung (schwer-)behinderter Menschen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zuständig. Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen sind darin ausdrücklich eingeschlossen. Des Weiteren fördert sie die „Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, insbesondere von schwerbehinderten Menschen, [...] c) die im Anschluss an eine Beschäftigung in einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen, bei einem anderen Leistungsanbieter (§ 60) oder einem Inklusionsbetrieb eingestellt werden“ (Herv. durch die Autorinnen).
III. Empirische Befunde
1. Kenntnisstand zu Anspruchsvoraussetzungen – Rechtspraxis
Die Fokusgruppengespräche und Interviews im Rahmen der Berliner Studie offenbaren insgesamt einen eher geringen Kenntnisstand bzw. Unsicherheiten der beteiligten Personen im Hinblick auf die Anspruchsvoraussetzungen für das BfA.
a. Anspruch auf Leistungen im Arbeitsbereich
Eine Fallmanagerin[26] der Eingliederungshilfe[27] geht davon aus, dass ein Anspruch auf das BfA das Durchlaufen des Berufsbildungsbereiches in einer WfbM voraussetzt.
„Die Frage ist immer nur, wenn einer noch nicht die Zugangsvoraussetzung hat, kann ich den tatsächlich motivieren, drei Jahre Berufsbildungsbereich zu machen?“ (TLT, Pos. 329[28])
Ein Mitarbeiter der Senatsverwaltung macht sich Gedanken um Personen, welche die Leistungsfähigkeit durch eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht nachweisen können[29] oder die Fähigkeit mind. 15 Stunden in der Woche zu arbeiten[30]. Der Nachweis der Leistungsfähigkeit durch eine vorherige Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt stellt sich ihm nicht als Möglichkeit, sondern als obligatorische Voraussetzung dar.
„Und der könnte jetzt im Fahrradladen um die Ecke erst mal arbeiten. Aber eben nur vier Stunden pro Tag oder zehn die Woche. So und den kriegen wir da kaum rein. Weil er hat weder die sozialversicherungspflichtige Tätigkeit gehabt bisher, noch möchte er, und wollen wir vielleicht auch nicht, ihn erst mal durch die Werkstatt jagen, ne?“ (TLT, Pos. 482)
Aus den Modellprojekten wird berichtet, dass einzelnen Projektteilnehmenden kein BfA bewilligt wurde, obwohl sie eine Werkstattberechtigung hatten.
„also, die Personen hatten eine Werkstattberechtigung, die haben diese … also, die hatten einen Schwerbehindertengrad, sie waren wirklich also auch begutachtet und alles. Aber dann durch andere Umstände sind sie nicht genommen worden.“ (TMP, Pos. 456)
Ein Budgetnehmer ohne Werkstatterfahrung schildert seine Erfahrungen im Verwaltungsverfahren folgendermaßen:
„der (lacht leicht) nicht aus der Werkstatt kommt, da war ich glaube, der erste. Und hatte das Sozialamt [...] massiv überfordert. Weil sie natürlich auch davon ausgehen, dass ich eine Werkstatterfahrung habe, aber ich hab sie auf ihre eigenen Rahmenbedingungen hingewiesen und sie haben das dann eingesehen, dass ich da [im Rundschreiben, Anm. d. Aut.] auch drinstehe.“ (THA, Pos. 30)
b. Arbeitsvertrag
Eine Leistungsberechtigte ist gut über die Notwendigkeit eines Arbeitsvertrages als Voraussetzung für das BfA informiert:
„Und wenn wir dann was unterschrieben[31] haben, dann kriegen wir auch erst … können wir das Budget für Arbeit erst beantragen.“ (TLB, Pos. 342)
Der Mitarbeiter einer EUTB berichtet von einem abgelehnten BfA-Antrag, bei dem zum Zeitpunkt der Antragstellung offenbar noch kein Arbeitsvertrag vorgelegen hatte.
„Der Grund war, die fehlende Bewilligung für das Budget für Arbeit, [die] den Arbeitsvertrag, den möglichen, ausgelöst hätte.“ (TU, Pos. 128)
Zwei Mitarbeiter der Modellprojekte tauschen sich über den Prozess der Antragstellung aus:
„Person A: Hatte der denn noch nicht eine Arbeitsstelle? Das interessiert mich jetzt mal.
Person B: Also, nein, das ging … also, wir waren ja erst überhaupt mit den Bewerbungen …
A: Also, Sie beantragen schon Budget, bevor Sie …
B: Wir waren in diesem Prozess.“ (TMP, Pos. 474-480)
c. Erwerbsminderung
In den Interviews wird deutlich, dass in der Praxis die volle und dauerhafte Erwerbsminderung von verschiedenen beteiligten Akteuren als Anspruchsvoraussetzung gesehen wird. Liegt keine Erwerbsminderung vor, wird der BfA-Antrag ggf. abgelehnt.
Perspektive Modellprojekte:
„Ja, und Voraussetzung ist ja der Nachweis der vollen Erwerbsminderung.“ (TMP, Pos. 386)
„was wir auch noch mal angesprochen haben, das ist dieser dauerhafte volle Erwerbsminderung innerhalb der Werkstätten. Also, wir hätten ja diesen Nachweis bringen müssen und wir sind einfach jetzt … wir hatten jetzt einfach das Problem, dass das niemand hatte. Und das, obwohl man schon zehn Jahre in einer Werkstatt war.“ (TMP, Pos. 358)
„der hatte eine befristete Erwerbsunfähigkeit und dann ist die aber dann … war dann also die Lösung dafür, unbefristete Erwerbsunfähigkeit beantragen, was er auch gemacht hat, ja? Sie haben gesagt, Sie müssen von Ihrer befristeten zu der unbefristeten Erwerbsunfähigkeit überleiten, dann können wir das machen, ja? Dann hat er das auch gemacht und wir haben das auch akzeptiert“. (TMP, Pos. 464)
Perspektive Leistungsträger:
„nur dass die Zugangsvoraussetzung fürs Budget schon eine sehr hohe Messlatte hat. Weil es können ja eigentlich nur die aufs Budget zurückgreifen, die durch einen Berufsbildungsbereich hier an der Werkstatt gegangen sind, die vollerwerbsmindernd sind vom Rententräger und, und, und.“ (TLT, Pos. 88)
Perspektive Budgetnehmende:
„aber da ich ja aufgrund meiner unbefristeten Erwerbsminderung einen Anspruch auf einen Werkstattplatz hätte“ (THA, Pos. 26)
d. Durchlaufen der verschiedenen Werkstattbereiche
Ein Mitarbeiter der Berliner Senatsverwaltung geht davon aus, dass Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich durchlaufen werden müssen, bevor ein BfA beantragt werden kann:
„Dann gehen sie eben durch den Berufsbildungsbereich und ins Eingangsverfahren, ja, mein Gott.“ (TLT, Pos. 327)
Auch von Mitarbeitenden der Modellprojekte wird angenommen, dass ein bestimmter Zeitraum in der WfbM verbracht worden sein muss, um einen Anspruch auf Leistungen im BfA zu begründen. Entsprechende Erfahrungen im Verwaltungsverfahren stützen diese Annahme.
„also, der einen Personen haben irgendwie sechs Wochen in einer Werkstatt gefehlt, sie wollte aber partout da nicht mehr hin und diese sechs Wochen da umzuleiten“. (TMP, Pos. 464)
„wenn jetzt, zum Beispiel, ein oder zwei Wochen fehlen, hatten wir auch schon, da kann man durchaus mit den Fallmanagern reden, dass sie so ein Übergang dann zulassen.“ (TMP, Pos. 504)
e. Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vor Antragstellung
In Berlin besteht gem. Rundschreiben der Senatsverwaltung[32] die Möglichkeit, die für das BfA erforderliche Leistungsfähigkeit durch eine einjährige Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vor Eintritt der vollen Erwerbsminderung nachzuweisen.
„Und, das ist in Berlin so, ich glaube, in den meisten andern Bundesländern so auch, und ich eine einjährige sozialversicherungspflichtige Tätigkeit hinter mich gebracht habe, kann ich eben dieses Budget für Arbeit nutzen und es ermöglicht mir wieder, zu arbeiten.“ (THA, Pos. 26)
Diese Zugangsvoraussetzung erachtet eine Fallmanagerin gerade für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen als besonders wichtig, weil dieser Personenkreis „vorher nicht vorgesehen [war] […] in dem ganzen System“, obwohl dieser aus ihrer Sicht „tatsächlich derjenige [ist], der sich am weitesten und am besten wieder entwickeln kann“[33]. Gerade vor dem Hintergrund, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig zuvor nicht in einer WfbM beschäftigt gewesen sind und die Anspruchsberechtigung somit nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, überwinde diese Zugangsvoraussetzung damit verbundene Herausforderungen in der Bewilligungspraxis.[34]
2. Zugang zum BfA
a. Arbeitsvermittlung
In den Aussagen der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer wird die Relevanz einer systematischen Arbeitsvermittlung deutlich, um Begegnungen zwischen Arbeitgebern und Leistungsberechtigten als Voraussetzung für ein Arbeitsverhältnis zu ermöglichen.[35] In den Interviews wird das Fehlen einer solchen Vermittlung sowohl von Arbeitgeberseite beklagt (“die aus der Werkstatt [sind] noch schwerer zu erreichen”[36]) als auch von den Leistungsberechtigten, die die Arbeitsplatzsuche als schwierig empfinden (“wir müssen uns ja erstmal eine Firma suchen“[37]). Eine Budgetnehmerin hat bspw. dank eines privaten Kontakts zu ihrem späteren Arbeitgeber gefunden:
“Also beziehungsweise Betrieb 19 (Einzelhandel) kam ich selber drauf. Also das war jetzt nicht, dass die ... die kannten den Laden auch gar nicht. [...] mein Bruder hat dort gearbeitet.” (THW, Pos. 112)
Dies steht im Einklang mit der Erfahrung einer Beraterin, der zufolge der Zugang zu Arbeitgebern vor allem über persönliche Kontakte hergestellt wird.[38] Leistungsberechtigte sehen eine Unterstützung bis zum Abschluss des Arbeitsvertrags als notwendig an:
„Aber ich sehe da halt auch bei uns, diese Schnittstelle gibt’s halt einfach nicht. Das ist halt diese große Problem, was ich sehr, sehr sehe. Dass es halt viele Beschäftigte haben, die sich das vielleicht trauen, aber halt nicht begleitet werden können“. (TLB, Pos. 1055)
Vor allem für den Personenkreis der Werkstattbeschäftigten sei eine Begleitung essentiell[39], weil diese Ansprechpartnerinnen und -partner benötigten, die bei der Kontaktaufnahme unterstützen.[40]
Eine Fallmanagerin sieht ihre Aufgabe nicht darin, Arbeitsplätze zu vermitteln, sondern eher in der Berechnung des Lohnkostenzuschusses, der Ermittlung des Umfangs der Anleitung und Begleitung sowie der Erstellung des Bescheides.[41] Eine Vertreterin des Integrationsamtes kritisiert im Interview, dass Integrationsämtern eine dahingehende Unterstützung verwehrt sei und die WfbM kaum vermitteln würden.[42]
Bedauert wird vor allem von den Leistungsberechtigten, dass der bis Ende 2018[43] in Berlin agierende ‚Integrationsfachdienst Übergang Werkstatt-Arbeitsmarkt (IFD ÜWA)‘, der „direkt an der LAG WfbM angeschlossen war“[44], nicht mehr existiert. Dieser sei eine wichtige Schnittstelle gewesen zwischen WfbM und Arbeitgebern, die nun fehle.[45] Aus Sicht der Vertreterin eines IFD werde die Suche nach „entsprechende[n] Ansprechpartner[n]“[46] nun zur Herausforderung für Leistungsberechtigte.
b. Praktika und Außenarbeitsplätze
Der Zugang zu Arbeitgebern erfolgte bei zwei der drei interviewten Budgetnehmenden über zweijährige Außenarbeitsplatzverhältnisse bzw. Praktika. Gem. § 219 Abs. 1 S. 5 SGB IX werden ausgelagerte Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von WfbM zum Zwecke des Übergangs oder als dauerhaft ausgelagerte Plätze angeboten. Der Status der WfbM-Beschäftigten ändert sich in diesem Rahmen nicht: Sie sind weiterhin nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt und erhalten das Entgelt der WfbM.
Eine Arbeitgeberin, die zwei Budgetnehmende beschäftigt, hält Außenarbeitsplätze für relevant, um besser einschätzen zu können, ob der Aufgabenbereich geeignet ist und die Integration im Team gelingt.[47] Aus der Perspektive einer Vertreterin der Berliner Modellprojekte bieten Außenarbeitsplätze auch Leistungsberechtigten die Möglichkeit, den allgemeinen Arbeitsmarkt sowie dessen Arbeitsprozesse kennenzulernen und festzustellen, ob sie unter diesen Bedingungen arbeiten können.[48] Nach Ansicht eines Vertreters des Übergangsmanagements einer WfbM haben Außenarbeitsplatzverhältnisse den Vorteil, dass bei langwierigen Antragsverfahren “diese Lücke mit den Kostenträgern etwas leichter überbrück[t]”[49] werden kann.
Kritik kommt jedoch von einer Budgetnehmerin, welche die Dauer von zwei Jahren für zu lang hält.[50] Angesichts ihrer zuvor absolvierten dreijährigen Ausbildung fragt sie sich, was sie „zwei Jahre lang zu beweisen“[51] habe. Der Geschäftsführer eines Inklusionsbetriebs, der zum Zeitpunkt des Interviews zwei WfbM-Beschäftigte auf Außenarbeitsplätzen beschäftigt, hat die Erfahrung gemacht, dass WfbM den Außenarbeitsplatz nur ungern in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis umwandeln:
“wobei ich bei den einen gar nicht sehe, dass die mir die geben möchten. Also, die wollen den gerne behalten und das soll so weiterlaufen, dass ich quasi das Geld an die Werkstatt bezahle [...]. Da gibt’s immer wieder eine andere Entschuldigung, warum es jetzt nicht klappt”. (TAG, Pos. 96–100)
Eine Beraterin führt den mangelnden Anreiz für die Umwandlung auf den „doppelten Gewinn“[52] für die WfbM zurück, die zusätzlich zur öffentlichen Förderung für den WfbM-Arbeitsplatz auch noch die Lohnkosten für den Außenarbeitsplatz erhalten.[53]
IV. Diskussion
Widersprüchliche Bestimmungen von Anspruchsvoraussetzungen
Die Aussagen der Interviewteilnehmenden zeigen bestehende Unstimmigkeiten hinsichtlich der Regelungen zu Anspruchsvoraussetzungen für das BfA auf. Dazu gehört bspw. die Auffassung, dass für eine Inanspruchnahme der Arbeitsbereich, das Eingangsverfahren sowie der Berufsbildungsbereich der WfbM zwingend durchlaufen werden und eine dauerhafte volle Erwerbsminderung vorliegen müssen. Es kann jedoch nicht im Interesse des Gesetzgebers liegen, Menschen, die mit dem BfA auf den allgemeinen Arbeitsmarkt streben, zuvor der WfbM – zu der das BfA eine Alternative bieten soll – zuzuweisen. In der Gesetzesbegründung der Bundesregierung zum BfA und im Berliner Rundschreiben[54] wird die volle Erwerbsminderung vorausgesetzt, während sie weder in § 61 Abs. 1 SGB IX noch in § 58 Abs. 1 SGB IX erwähnt wird. Es ist davon auszugehen, dass diese Unklarheiten bezüglich der Anspruchsvoraussetzungen bzw. die (unzulässige) Einengung des leistungsberechtigten Personenkreises den Zugang zum BfA erschweren oder im Einzelfall sogar verhindern. Hier zeigt sich die Notwendigkeit einer Klarstellung durch den Gesetzgeber.
Herausforderungen bei der Arbeitsvermittlung
Die Anspruchsvoraussetzung, dass ein Angebot eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses, belegt durch den Arbeitsvertrag, vorliegen muss, stellt die Leistungsberechtigten angesichts einer fehlenden Verpflichtung der Leistungsträger zur Vermittlung in ein BfA vor die Herausforderung, sich eigenständig auf die Suche begeben zu müssen oder sich um anderweitige Unterstützung zu bemühen. Eine solche Unterstützung ist jedoch bisher institutionell nicht vorgesehen, sie hängt im Einzelfall vom Engagement einzelner Personen oder einer WfbM ab. Hier bedarf es einer vermittelnden Stelle, wobei auch über die Einbeziehung bereits vorhandener Fachstellen (z. B. bei der BA) oder die Förderung der Überleitungstätigkeit der Werkstätten nachzudenken ist.
Förderliche Rahmenbedingungen für Übergänge
Als förderlich für Übergänge in ein BfA erweist sich in der Berliner Studie das Konzept der Außenarbeitsplatzverhältnisse. Um jedoch zu verhindern, dass diese Art der Beschäftigung zur Dauerlösung wird und damit am Ende doch als Barriere für Übergänge in das BfA wirkt, ist eine regelmäßige Überprüfung hinsichtlich der Umwandlung in ein BfA ratsam.
Literatur
Deutscher Verein (2020): Umsetzungsstand BTHG (Stand: Oktober 2020), abgerufen am 02.12.2020 unter: https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/w/files/umsetzungsstand/2020-10-01_umsetzungsstand-bthg.pdf
Kuckartz, Udo (2010). Einführung in die computergestützte Analyse qualitativer Daten (3., aktualisierte Auflage). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Mattern, Lea (2020). Das Budget für Arbeit – Diskussionsstand und offene Fragen – Teil I: Eckpunkte, Umsetzungsstand und leistungsberechtigter Personenkreis; Beitrag D5-2020 unter www.reha-recht.de
Mayring, Philipp (2015). Qualitative Inhaltsanalyse – Grundlagen und Techniken (12., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage). Weinheim: Beltz Verlagsgruppe.
Nebe, Katja; Waldenburger, Natalie (2014). Budget für Arbeit – Forschungsprojekt im Auftrag des Integrationsamtes des Landschaftsverbandes Rheinland. Hrsg.: LVR Rheinland, Köln.
Schmidt, Antonia (2021), Mit dem Budget für Arbeit zum inklusiven Arbeitsmarkt? – Teil I: Kritik an der rechtlichen Ausgestaltung des Budgets für Arbeit gemäß § 61 SGB IX; Beitrag D4-2021 unter www.reha-recht.de; 25.02.2021.
Schmidt, Antonia (2021), Mit dem Budget für Arbeit zum inklusiven Arbeitsmarkt? – Teil II: Kritik an der sozialversicherungsrechtlichen Ausgestaltung des Budgets für Arbeit; Beitrag D5-2021 unter www.reha-recht.de; 25.02.2021
Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales (2017): Rundschreiben Soz Nr. 01/2018 zu § 61 SGB IX – Budget für Arbeit als Leistung der Eingliederungshilfe. Abgerufen am 02.12.2020 unter: https://www.berlin.de/sen/soziales/service/berliner-sozialrecht/archiv/rundschreiben/2018_01-960897.php
Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales (2018a): Modellprojekt „Beschäftigungsimpulse für Menschen mit Behinderungen durch Nutzung des Budgets für Arbeit (BfA)“; Ideenwettbewerb im Rahmen der Initiative IMPULS (Innovationen mit Potenzial und lokaler Stärke) der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, Beschäftigungsimpulse für Menschen mit Behinderungen durch Nutzung des Budgets für Arbeit (BfA), Bekanntmachung der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, 21.09.2018, abgerufen am 02.12.2020 unter https://www.zgs-consult.de/fileadmin/Dokumente/pdf/impuls/Ideenwettbewerb_Budget_fuer_Arbeit_Bekanntmachung.pdf
Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales (2018b): Modellprojekt „Beschäftigungsimpulse für Menschen mit Behinderungen durch Nutzung des Budgets für Arbeit (BfA)“, Anlage: Vertiefende Informationen für Antragsteller*innen zu Prioritäten, Laufzeit, Personaltableau, Kosten und Finanzierung, abgerufen am 02.12.2020 unter: https://www.zgs-consult.de/fileadmin/Dokumente/pdf/impuls/Ideenwettbewerb_Budget_
fuer_Arbeit_Anlage_vertiefende_Informationen.pdf
Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales (2020): Rundschreiben Soz 16/2020 zu § 61 SGB IX – Budget für Arbeit als Leistung der Eingliederungshilfe. Abgerufen am 02.12.2020 unter https://www.berlin.de/sen/soziales/service/berliner-sozialrecht/kategorie/rundschreiben/2020_16-960206.php
Beitrag von Lea Mattern, M. A., Dr. Tonia Rambausek-Haß und Prof. Dr. Gudrun Wansing, alle Humboldt-Universität zu Berlin
Fußnoten
[1] Zum Hintergrund des BfA vgl. Mattern: Das Budget für Arbeit – Diskussionsstand und offene Fragen – Teil I: Eckpunkte, Umsetzungsstand und leistungsberechtigter Personenkreis; Beitrag D5-2020 unter www.reha-recht.de; 23.01.2020.
[3] Vgl. SenIAS 2017, Punkt 19; vgl. SenIAS 2020, Punkt 18.
Budget für Arbeit, Alternativen zur WfbM, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Erwerbsminderung, Eingliederungshilfe, Bundesagentur für Arbeit (BA), Leistungen im Arbeitsbereich, Außenarbeitsplatz
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