27.08.2015 E: Recht der Dienste und Einrichtungen Krug: Beitrag E6-2015

Barrierefreiheit in der beruflichen Rehabilitation am Beispiel der Berufsbildungswerke

Der Autor befasst sich in seinem Beitrag mit der Barrierefreiheit in Berufsbildungswerken. Strukturell seien die Berufsbildungswerke in der Regel auf bestimmte Behinderungsformen spezialisiert und richten ihr räumliches sowie inhaltliches Angebot an den Bedürfnissen dieser Zielgruppe aus. Dies habe jedoch lediglich eine zielgruppenspezifische Barrierefreiheit zur Folge.

Der Autor sieht bei der Barrierefreiheit der Berufsbildungswerke drei wesentliche Problembereiche, die er in dem Beitrag näher ausführt. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass in der weiteren Diskussion die Barrierefreiheit bei psychischen Behinderungen, Mehrfachbehinderungen und Mischsymptomatiken sowie die Individualität von Barrieren vordergründig thematisiert werden sollten.

(Zitiervorschlag: Krug: Barrierefreiheit in der beruflichen Rehabilitation am Beispiel der Berufsbildungswerke; Forum E, Beitrag E6-2015 unter www.reha-recht.de; 27.08.2015)


 

I. Einleitung[1]

In Deutschland gibt es 52 Berufsbildungswerke, die eine flächendeckende berufliche Qualifizierung von behinderten jungen Menschen gewährleisten. Berufsbildungswerke sind außerbetriebliche und überregionale Einrichtungen zur beruflichen Erstausbildung für Menschen mit Behinderungen, die wegen Art und Schwere der Behinderung durch eine stete medizinische, pädagogische und psychologische Betreuung während der Ausbildung zu einem erfolgreichen Berufs­abschluss befähigt werden können. Der gesetzliche Auftrag der Berufsbildungswerke ist nach § 4 Abs. 3 SGB IX die Teilhabe am Arbeitsleben. Zentrales Ziel ist die dauerhafte Integration der behinderten jungen Menschen in den ersten Arbeitsmarkt. Als Auftraggeber richtet die Agentur für Arbeit die Förderung am Prinzip des „fördern und fordern“ aus.

II. Strukturen der Berufsbildungswerke

Die meisten der 52 Berufsbildungswerke haben sich auf bestimmte Behinderungsformen spezialisiert. Es werden als Zielgruppen die Körperbehinderung, die Lernbehinderung, die psychische Behinderung und Sinnesbehinderungen unterschieden. Einige Berufsbildungswerke haben sich auf spezielle Teilnehmergruppen konzentriert, z. B. junge Menschen mit einer Epilepsieerkrankung oder mit einer spastischen Lähmung. Entsprechend ihrer vorrangigen Zielgruppen gewährleisten die Berufsbildungswerke die von ihnen gesetzlich geforderte Barrierefreiheit. Neben den notwendigen räumlichen Besonderheiten (z. B. selbstöffnende Türen, barrierefreie Zugänge, behindertengerechte Sanitärräume) richten die Berufsbildungswerke ihr Angebot an Berufsfeldern und Ausbildungsberufen an den Behinderungsschwerpunkten aus. So wird ein Berufsbildungswerk, das sich auf junge Menschen mit Körperbehinderungen spezialisiert hat, keine Ausbildung im Landschafts- und Gartenbau anbieten und als „Muss“ gehören Ausbildungsberufe aus der IT-Branche in die Berufspalette eines Berufsbildungswerkes, das sich besonders Menschen mit einer Autismusstörung widmet. Darüber hinaus wird die Ausrüstung, z. B. die Ausstattung der Maschinen mit Zusatzeinrichtungen auf die Behinderungsarten abgestimmt. Auch methodisch und inhaltlich werden die Behinderungsarten und ihre jeweiligen Einschränkungen im Ausbildungsprozess berücksichtigt. So gibt es in Prüfungssituationen die Möglichkeit der Zeitverlängerung oder auch der Vorlesehilfe, um die Aufgabenstellung zu verstehen.

III. Berufsbildungswerke und Barrierefreiheit

Ist in der beruflichen Rehabilitation und besonders in den Berufsbildungswerken damit alles gut, was Barrierefreiheit angeht? Leider kann diese Frage nicht bejaht werden. Selbst die Berufsbildungswerke erreichen allenfalls eine zielgruppenspezifische Barrierefreiheit.

Drei Problembereiche treten für die Berufsbildungswerke in den Vordergrund, was Barrierefreiheit angeht:

  • Die berufliche Qualifizierung junger Menschen mit Behinderung ist heute nicht mehr denkbar, ohne dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer betriebliche Phasen in ihrer Ausbildung absolvieren. Ob in Form eines Praktikums oder einer verzahnten Ausbildung mit Wirtschaftsbetrieben, betragen diese betrieblichen Phasen zwischen sechs Wochen und 18 Monaten. Häufig sind aber die mit den Berufsbildungswerken vernetzten Betriebe eben nicht auf Barrierefreiheit eingerichtet und stellen so behinderte junge Menschen vor besondere Herausforderungen. Für behinderte Auszubildende ist damit die betriebliche Erfahrung in ihrer Ausbildung schwierig zu erreichen. Das Angebot an geeigneten Betrieben ist eingeschränkt bzw. muss in den Betrieben ein Bewusstsein für die notwendige Barrierefreiheit durch Beratung des Berufsbildungswerkes erst erreicht werden.

  • Viele junge Menschen, die in Berufsbildungswerken ausgebildet werden, leiden unter Mehrfachbehinderungen und Mischsymptomatiken, die jeweils eigene Anforderungen an Barrierefreiheit stellen würden, sollten sie umfassend berücksichtigt werden.

  • Zusätzlich findet man unerforschtes Gelände hauptsächlich bei der Frage vor, was für Barrierefreiheit bei psychischen Störungen und Behinderungen notwendig wäre. Hier gibt es noch kaum verbindliche Standards. Die Diskussion zur Barrierefreiheit bezieht sich vorrangig auf beschädigte Strukturen von Menschen. Bei psychischen Behinderungen sind es jedoch Funktionen, die beschädigt sind. Diese sind nicht einfach sichtbar und behindern die Betroffenen manchmal auch nur zeitweise.

Den Kern des B.B.W. St. Franziskus Abensberg bildet ein Berufsbildungswerk, in dem etwa 500 junge Menschen mit Behinderungen in 38 Berufen aus 15 Berufsfeldern ausgebildet werden. Pragmatisch nach 16 Störungsbildern klassifiziert, qualifizieren sich hier vorrangig junge Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit einer Lernbehinderung, einer psychischen Behinderung oder schwerwiegenden Verhaltensstörungen für ihre berufliche Zukunft. Hauptstörungsgruppen sind (geordnet nach ihrer Häufigkeit) Lernbehinderung, Autismus, ADS/ADHS, Persönlichkeitsstörungen, Psychosen/ Neurosen, Gewalt/ Delinquenz, Körperbehinderung, Missbrauchserfahrungen/ Trauma, Suchtmittelmissbrauch und einige weitere Formen von Störungen oder Behinderungen. Im Durchschnitt bringt jeder junge Teilnehmer 2,5 Störungsdiagnosen in den Qualifikationsprozess mit ein. Vor allem bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit psychischen Behinderungen ist die Frage, wie man für den Qualifikations- und Persönlichkeitsbildungsprozess störungsspezifische Barrieren beseitigen kann.

Was bedeutet z. B. Barrierefreiheit für einen Auszubildenden mit einer Autismusstörung (z. B. Asperger-Autismus)? Gehören hier zur Barrierefreiheit auch die notwendigen Bedingungen im Ausbildungsalltag? Gewährleistet ein Berufsbildungswerk, das sich auf Menschen mit einer Autismusstörung spezialisiert hat, Bedingungen wie Reizarmut, Kontinuität in allen Bereichen des Alltags und der Beziehungen, Vermeidung jeder Veränderung der Umgebungsbedingungen, Klein­schrittigkeit im Vermittlungsprozess, Visualisierung von Arbeitsschritten und Tagesstruktur, Metaphernfreiheit der Sprache u. v. m. Und auch wenn gerade das Feld der Menschen mit einer Autismusstörung schon relativ gut erforscht ist, stellt sich die Frage der Barrierefreiheit noch viel mehr bei jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit einer Borderline-Störung, ADS/ADHS[2] und Bindungsstörungen.

IV. Fazit und Ausblick

Als Fazit zu den Überlegungen bezüglich der Barrierefreiheit in der beruflichen Rehabilitation rücken drei Aspekte für die weitere Diskussion besonders in den Vordergrund:

  1. Die relevanten Barrieren von psychischen Behinderungen für berufliche Rehabilitationsprozesse sind weitgehend unerforscht und werden im Rehabilitationsprozess nur unsystematisch berücksichtigt. Nur die wenigsten Einrichtungen können Barrierefreiheit bei psychisch behinderten Menschen sichern. Besonders Komplexeinrichtungen, die in ihrem Ansatz auf die Durchmischung verschiedener Behinderungsgruppen setzen und damit erfolgreich die negativen Folgen der Häufung einer dominierenden Behinderung bzw. Symptomatik verhindern, stehen hier einer komplexen Problemlage gegenüber. Was für die eine Störungsgruppe eine Barriere darstellen kann, kann für die andere Gruppe förderlichen Charakter haben.

  2. Mehrfachbehinderungen und Misch­symptomatiken stellen die Forderung der Barrierefreiheit vor erhebliche Probleme. Letztlich braucht es hier einen Bewertungsprozess, welche Einschränkungen im Vordergrund stehen, was aber wiederum strukturell nur schwer abzubilden ist.

  3. Letztlich sind Barrieren nur individuell zu definieren. Ganz im Sinn des bio-psycho-sozialen Modells der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) braucht es hier Einschätzungs- und Bewertungskriterien, die ganz auf die individuelle Problematik eines Teilnehmers in der beruflichen Rehabilitation abgestimmt sein müssen.

Die bestehenden Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation bilden Barrierefreiheit bestenfalls zielgruppenspezifisch ab und sind noch wenig darauf eingestellt, komplexe Mischformen von Störungen und Behinderungen adäquat zu berücksichtigen. Vor allem Anforderungen an Barrierefreiheit bei psychischen Behinderungen erfordern ein verstärktes Forschungsbemühen. Manch gescheiterter Rehabilitationsverlauf geht mit Sicherheit auf die Unwissenheit der Systeme gegenüber individuellen Barrieren zurück.

Beitrag von Walter Krug, Abensberg

Fußnoten:

[1] Der Beitrag basiert auf einen Vortrag des Autors im Rahmen des 24. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquiums am 18. März 2015 in Augsburg.

[2] Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom/ Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom.


Stichwörter:

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Berufsbildungswerke, Berufsausbildung, Berufliche Rehabilitation, Behinderungsgerechte Beschäftigung, Barrierefreiheit (Begriff), Berufliche Teilhabe


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