08.12.2014 D: Konzepte und Politik Giese: Diskussionsbeitrag D25-2014

Tagungsbericht „Inklusion im Mittelstand – Neue Chancen für junge Menschen mit Behinderung und Benachteiligung“ am 15. Oktober 2014 in Hamburg

(Zitiervorschlag: Giese: Tagungsbericht „Inklusion im Mittelstand – Neue Chancen für junge Menschen mit Behinderung und Benachteiligung“ am 15. Oktober 2014 in Hamburg; Forum D, Beitrag D25-2014 unter www.reha-recht.de; 08.12.2014)

Die Autorin berichtet von der Tagung „Inklusion im Mittelstand – Neue Chancen für junge Menschen mit Behinderung und Benachteiligung“, die am 15. Oktober 2014 in der Handelskammer in Hamburg stattfand. Themenschwerpunkt der Veranstaltung war die Ausbildung und Beschäftigung behinderter Jugendlicher.

Hierbei wurden aus der Sicht unterschiedlicher Akteure wie z. B. den Auszubildenden, den Betrieben, den Berufsbildungswerken, der Wissenschaft und der Politik unterschiedliche Probleme aus dem Bereich der inklusiven Berufsausbildung diskutiert. Besprochen wurden insbesondere verschiedene Modelle, die die berufliche Teilhabe behinderter Jugendlicher fördern und welche Herausforderungen dies für Betriebe darstellt.

Deutlich wurde im Rahmen der Veranstaltung, dass es nicht an mangelnder Bereitschaft der Betriebe liegt, dass noch zu wenig Jugendliche mit Behinderung in Ausbildung kommen, sondern vielmehr an tatsächlichen, praktischen Barrieren und Unkenntnis der Arbeitgeber.


 

Nach einer Begrüßung von Dr. Dorothee Stapelfeldt (Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg) begann die Veranstaltung in der Handelskammer mit einem Grußwort von Fritz Horst Melsheimer (Präses der Handelskammer Hamburg). Er machte darin deutlich, dass Inklusion eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und der Weg in eine inklusive Gesellschaft im Kindesalter beginnt, sodass diese Themen bereits für Kita und Schule von großer Bedeutung sind. Da der demografische Wandel auch betriebsbedingt ein Umdenken notwendig macht, forderte er auf, sich von etwaigen Hemmnissen frei zu machen und die Ausbildung behinderter Jugendlicher zu fördern.

I. Inklusion – (Berufs)Bildung – Wirtschaft

1. Inklusive Berufsbildung – Vorbemerkung

Mit dem ersten Fachvortrag des Tages referierte Prof. Dr. Eckart Severing (Forschungsinstitut Betriebliche Bildung – f-bb) zum Thema „Inklusive Bildung – was heißt das und wo stehen wir?“. Inklusive Bildung sei ein wichtiges Thema, jedoch nicht nachhaltig, wenn ein Übergang in einen Beruf nicht möglich ist. Faktisch gebe es zahlreiche Barrieren in diesem Bereich, weshalb es für die Zukunft wichtig sei, die Heterogenität in der Ausbildung zu fördern. Zwar seien Sondereinrichtungen unter Umständen sinnvoll, tatsächliche Teilhabe könne dort aber nicht stattfinden. Mit diesem Hintergrund präsentierte Severing das Projekt „TrialNet“[1], in dem etwa 400 Jugendliche in etwa 264 Betrieben ausgebildet wurden. Er stellte fest, dass ein Engpass im Ausbildungsbereich nicht festzustellen sei und es keineswegs an mangelnder Flexibilität des Systems liege, dass zahlreiche Jugendliche mit Förderbedarf keine Ausbildung fänden. Vielmehr seien hier die Gründe auf der „Abnehmerseite“ der ausbildenden Betriebe, zu suchen. Umso ermutigender beschrieb er die Ergebnisse verschiedener Studien und Erfahrungen, dass Betriebe, die einen Jugendlichen mit Behinderung ausgebildet haben, künftig weitere Jugendliche ausbilden. Festgestellt wurde zudem, dass der Erfolg auf dem ersten Arbeitsmarkt größer ist, wenn vorher eine Ausbildung in einem Betrieb und nicht in einer Sondereinrichtung stattgefunden hat. Um dies weiter zu fördern, sei es wichtig, dass z. B. die bereits im Bereich der Rehabilitation bestehende Kompetenz auf den Bereich der Ausbildung übertragen werde und Assistenzsysteme usw. geschaffen würden.

2. Inklusion in Betrieben und Vorstellung ausgewählter Projekte

Das sich anschließende Fachgespräch mit Raimund Becker (Bundesagentur für Arbeit), Richard Fischels (Bundesministerium für Arbeit und Soziales), Philipp Heinnerkes (EDEKA AG) und Ingrid Körner (Senatskoordinatorin für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung Hamburg) beschäftigte sich mit dem Thema „Inklusion und Wirtschaft“. Als wesentliche Probleme der Praxis wurden die Unkenntnis zahlreicher Arbeitgeber sowie fehlende, aber notwendige „Rehazusatzkompetenzen“[2] in den Betrieben herausgestellt. Einen wesentlichen Gegenstand des Fachgesprächs machte zudem das „Hamburger Budget für Arbeit“ aus. Es bietet die Möglichkeit für Beschäftigte mit Beschäftigungsort in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu erlangen. Arbeitgeber des ersten Arbeitsmarktes haben dabei die Möglichkeit, bis zu 70 % des Arbeitslohns erstattet zu bekommen. In Hamburg wird der Lohnkostenzuschuss durch Mittel der Eingliederungshilfe finanziert. Gegenstand des aktuellen Reformprozesses sei auch, so Fischels, ob das Budget für Arbeit konkret normiert werden soll. Darüber hinaus sprachen die Gesprächsteilnehmer über VAmB (Verzahnte Ausbildung mit Berufsbildungswerken), eine besonders enge Zusammenarbeit zwischen behinderten Jugendlichen, den Berufsbildungswerken, sonderpädagogischen Berufsschulen und zahlreichen Unternehmen.[3] Teilhabe sei nämlich nicht bereits dann realisiert, wenn ein Jugendlicher in Ausbildung ist, sondern erst dann, wenn die Person auch danach im Arbeitsprozess eingebunden ist. Dafür sei bereits eine betriebsnahe Ausbildung erfolgsversprechend. Aus der Praxis kam zudem der wichtige Hinweis, dass es wichtig sei, praktikable Lösungen (z. B. durch Assistenzsysteme) zu finden, da ein zu hoher Aufwand für viele Betriebe nicht leistbar sei.

Im Anschluss daran gaben Jugendliche sowie ihre Ausbilder aus den Betrieben und den Berufsbildungswerken einen praktischen Einblick, wie eine Ausbildung im Rahmen z. B. von „TrialNet“ und die Zusammenarbeit von Berufsbildungswerken und Betrieben aussehen kann. Die Darstellungen machten deutlich, dass die Unterstützung durch Berufsbildungswerke von großer Bedeutung ist, insbesondere in Fällen, in denen Unterstützung und Förderung aus der Familie und/oder Schule fehlt.

Zum Thema „Ausbildung in Kooperation mit Betrieben – Inklusion gelingt“ tauschten sich daraufhin Michael Breitsamer (Bundesarbeitsgemeinschaft Berufsbildungswerke – BAG BBW), Otmar Waterloo (Berufliche Fortbildungszentren der Bayrischen Wirtschaft), Dr. Lutz Galliäer (f-bb) und Prof. Dr. Wolfgang Seyd (Universität Hamburg) auf dem Podium aus. Als problematisch wurde hier die mangelhafte Datenlage betont. So gebe es zahlreiche Differenzierungen (z. B. behindert, schwerbehindert, Rehabilitand), die eine zuverlässige Datenerhebung erschweren. Wichtig für eine erfolgreiche berufliche Teilhabe sei jedoch, keine Wertungen wie z. B. behindert = nicht leistungsfähig und nicht behindert = leistungsfähig vorzunehmen. Thematisiert wurde erneut das Projekt „TrialNet“. Die Berufsbildungswerke würden in diesem Projekt als hilfreiche Kooperationspartner verstanden, um individuelle Lösungen zu finden. Zu beobachten sei zudem die Entwicklung, dass die (fachlich orientierten) Ausbilder der Berufsbildungswerke im Laufe der (betrieblichen) Ausbildung immer stärker als Lernbegleiter wahrgenommen würden. Die Teilnehmer diskutierten zudem über die Zertifizierung einzelner Ausbildungsteile und deren praktischen Mehrwert. Insgesamt seien die einzelnen Ausbildungsbausteine hilfreich und sinnvoll, da sie für die Auszubildenden wichtige Teilerfolge dokumentierten. Das Projekt „TrialNet“ habe insbesondere dort Erfolge gebracht, wo keine erwartet wurden, z. B. im Bereich Austausch und Kooperation zwischen den Trägern. Die Behinderung sei im Rahmen der Ausbildungen immer weiter in den Hintergrund gerückt, vorrangig sei es um die individuelle Person und Qualifikationen gegangen („Wir suchen nicht die Besten, sondern die Richtigen“). Das Thema Inklusion sei mit dem Projekt dort angekommen, wo es hingehört, nämlich in den Betrieben, der Fachöffentlichkeit und bei den Kooperationspartnern.

II. Drei parallele Foren: Fokus – Inklusion im Mittelstand

Am Nachmittag boten drei parallel stattfindende Foren weitere Gelegenheit für vertiefte Diskussionen.[4]

Forum 1 beschäftigte sich mit dem Thema „Inklusion im Mittelstand – Erfahrungen und Perspektiven“. Hier setzte Philipp Heinnerkes seine Ausführungen zu den beruflichen Möglichkeiten behinderter Menschen bei EDEKA fort. In derartigen Betrieben seien eine Vielzahl an Fähigkeiten und verschiedene Berufsbilder (bei EDEKA z. B. 37) gefragt. Diese ermöglichen eine gezielte Integration mit Blick auf die individuellen Bedürfnisse der Personen. Zudem sprach er sich deutlich gegen eine pauschalisierte Inklusion aus, da diese nicht zielführend sei. Vielmehr seien für die Betroffenen und die Arbeit gebenden Kaufleute flexible Lösungen und unterstützende Netzwerke auf lokaler Ebene von Bedeutung. In dem zweiten Impulsreferat sprach Joyce Müller-Harms (NORDMETALL) über „Neue Chancen für junge Menschen mit Behinderung und Benachteiligung“. Sie machte deutlich, dass in der Metall- und Elektroindustrie Inklusion bisher kein Kernthema sei und auch in diesem Bereich der Fachkräftemangel noch nicht derartig brisant sei, dass Betriebe zum Umdenken gezwungen werden würden. Sie betonte, dass verschiedene Berufsbereiche verschiedene Bedarfe und Ansichten haben und insbesondere wichtig sei, dass die Rahmenbedingungen stimmen. So gehe es mehr darum, ob die Eignungen und Neigungen möglicher Bewerber zusammenpassen, als darum, dass diese die besten Abschlüsse haben. Vier weitere Praxisbeispiele von Auszubildenden und Ausbildern aus Betrieben und Berufsbildungswerken verdeutlichten, dass die Ausbildung von behinderten Jugendlichen sowohl für die Jugendlichen als auch für die Betriebe gewinnbringend ist. Soziale und ökonomische Aspekte müssten kein Gegensatz sein. So fördere die Ausbildung behinderter Jugendlicher beispielsweise zum einen das Selbstvertrauen der Jugendlichen, andererseits werden auf diese Weise die Kommunikation in den Betrieben und die Außendarstellung gefördert. Insbesondere die Interessenvertretungen können in diesen Fällen gute Partner sein, da sie die internen Strukturen der Betriebe kennen und meistens gut informiert sind. Als problematisch wurde die geringe Wahrnehmung der Betriebe durch die Agentur für Arbeit gesehen.

Das zweite Forum[5] legte den Fokus nicht so sehr auf die Sicht der Betriebe, sondern beschäftigte sich unter dem Titel „Gemeinsam stark – Kooperationen zwischen Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation, Betrieben und Berufsschulen“ insbesondere mit der Zusammenarbeit der einzelnen Akteure.

Im dritten Forum beschäftigten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit „Kompetenzfeststellungen und Zertifizierungen von Ausbildungsteilleistungen – Erfahrungen und Perspektiven“.

III. Inklusive Berufsbildung im Licht der UN-Behindertenrechtskonvention: Zwischenbilanz und Ausblick

Die abschließende Podiumsdiskussion zog eine Zwischenbilanz nach fünf Jahren UN-Behindertenrechtskonvention für die Inklusion in der Wirtschaft. Christina Ramb (Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände), Raimund Becker (Bundesagentur für Arbeit), Michael Breitsameter, Rainer Schulz (Hamburger Institut für Berufliche Bildung), Gerd Labusch (Verdi), Richard Nürnberger (Fortbildungsakademie der Wirtschaft) und Prof. Dr. Eckart Severing gingen unter anderem der Frage nach, was die Wirtschaft und Unternehmen für eine gelingende Inklusion brauchen. Wichtig sei, so die Teilnehmer übereinstimmend, in diesem Bereich, praktikable Lösungen zu finden und sowohl den Jugendlichen wie auch den Betrieben notwendige Hilfestellungen zu geben. Als kontraproduktiv wurden Zwangsmaßnahmen, wie z. B. eine Erhöhung der Ausgleichsabgabe, angesehen. Als weiteres Problem wurde hier erörtert, dass der Übergang von der Ausbildung auf den Arbeitsmarkt weiterhin schwierig sei. So schlössen zwar immer mehr behinderte Jugendliche eine Ausbildung ab, zu selten würden sie aber von Betrieben und Unternehmen übernommen. In diesem Zusammenhang wurde auch die Unterstützte Beschäftigung angesprochen, mit der eine befristete Unterstützung der Unternehmen nach der Ausbildung möglich wäre. Integration könne nur dann gelingen, wenn Schule, Ausbildung und Beruf ganzheitlich betrachtet und so ausgelegt würden wie bei nicht behinderten Jugendlichen. Die zentrale Frage sei daher, was die individuelle Person für Fähigkeiten habe und welche Stärken etwaige Schwächen möglicherweise kompensieren könnten.

Am Ende der Veranstaltung wagte Matthias Kohl (f-bb) einen Ausblick, wie die inklusive Berufsbildung im Jahr 2025 aussehen könnte. Nach seiner Vorstellung sollte eine individuelle Förderung entsprechend der individuellen Bedarfe und ohne Wartezeit bei Übergängen (z. B. von Ausbildung in den Beruf) einen wesentlichen Schritt vorangekommen sein. Die Ergebnisse des Projekts „TrialNet“ könnten hierzu einen Beitrag leisten. Denn bereits heute zeigt sich, dass eine betriebliche Ausbildung bei tatsächlicher Unterstützung gut funktionieren kann. Die Übernahme von Auszubildenden nach Abschluss der Ausbildung ist höher, wenn die Ausbildung zuvor im Betrieb stattgefunden hat. Betriebe bildeten zudem als „Wiederholungstäter“ weitere Jugendliche aus, wenn dies einmal (erfolgreich) geschehen ist. Kohl sieht ermutigende Signale und Initiativen, die an diesen Aspekten ansetzen. Er betonte aber auch, dass die Bereitschaft der Betriebe, behinderte Jugendliche auszubilden, steigen und sich das Bewusstsein der Gesellschaft wandeln müsse. Erfolgsversprechend sei insbesondere so viel betriebliche Nähe im Rahmen der Ausbildung wie nötig. Dazu müssten jedoch viele Beteiligte aktiv werden. Um dies zu fördern brauche insbesondere der betriebliche Teil dieser Zusammenarbeit unbürokratische Unterstützungen.

Insgesamt machte die Veranstaltung deutlich, dass es bereits zahlreiche erfolgreiche Initiativen gibt, die die Inklusion im Mittelstand fördern. Sie machte aber auch ebenso deutlich, dass dieses Thema noch nicht in allen Bereichen gleich stark angekommen und verinnerlicht ist.

Beitrag von Dipl. jur. Maren Giese, Universität Kassel

Fußnoten:

[1] Weitere Informationen zu dem Projekt unter: www.trialnet.de.

[2] Gemeint war eine Art „Grundsetting“ in den Betrieben, also bestimmte Qualifikationen, um mit behinderungsspezifischen Situationen umgehen und ein Scheitern verhindern zu können.

[3] Weitere Informationen zu VAmB unter: www.bagbbw.de/angebote-fuer-junge-menschen/unterstuetzungsangebote/ausbildung/verzahnte-ausbildung-mit-berufsbildungswerken-vamb/.

[4] Die drei Foren fanden parallel statt, so dass von der Verfasserin nur eines besucht werden konnte (Forum 1). Die Ausführungen zum ersten Forum sind daher ausführlicher.

[5] Eine weitergehende Darstellung der Themen aus Forum 2 und 3 kann vorliegend nicht erfolgen, da die drei Foren parallel liefen und von der Verfasserin nur Forum 1 besucht werden konnte.


Stichwörter:

Berufliche Bildungsmaßnahme, Berufliche Teilhabe, Berufsausbildung, Inklusive Beschäftigung, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Budget für Arbeit, Unterstützte Beschäftigung, Berufsbildungswerke, Berufliche Rehabilitation


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