11.04.2019 D: Konzepte und Politik MacEachen, Ekberg: Beitrag D4-2019

Wissenschaft, politische Prozesse und Werte in (der Gestaltung) der Arbeitsbeeinträchtigungspolitik. Eine Überlegung zu Trends und dem weiteren Vorgehen – Teil II: Arbeitgeber, Torwächter, Koordination

Ellen MacEachen und Kerstin Ekberg fassen die Länderberichte des Buches MacEachen (Hrsg.), The Science and Politics of Work Disability Prevention (Wissenschaft und Politik der Prävention von Arbeitsbeeinträchtigung) zusammen und untersuchen 13 Länder hinsichtlich vorhandener Werte und Trends im Bereich der Arbeitsbeeinträchtigungspolitik. Es handelt sich um eine Übersetzung des Beitrags MacEachen, E., Ekberg, K. (2019), Science, Politics, and Values in Work Disability Policy, A Reflection on Trends and the Way Forward, in: MacEachen, E. (ed.), The Science and Politics of Work Disability Prevention, New York: Routledge, S.261–283, die in drei Teilen im Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht veröffentlicht wird (Beiträge D3-2019 bis D5-2019). Die Literaturnachweise finden sich am Ende von Beitrag D5-2019. Die Übersetzung des Textes wurde von Helmuth Krämer, LL.M, Legalitas, München, besorgt.

Teil II befasst sich mit der Rolle der Arbeitgeber und sogenannter Torwächter (gatekeeper) im Gesundheitswesen und den Koordinierungspraktiken im Bereich der Arbeitsbeeinträchtigungspolitik. 

(Zitiervorschlag: MacEachen, Ekberg: Wissenschaft, politische Prozesse und Werte in (der Gestaltung) der Arbeitsbeeinträchtigungspolitik. Eine Überlegung zu Trends und dem weiteren Vorgehen – Teil II: Arbeitgeber, Torwächter, Koordination; Beitrag D4-2019 unter www.reha-recht.de; 11.04.2019.)

I. Fairness gegenüber Arbeitgebern

Mit der Entwicklung aktivierungsorientierter Arbeitsbeeinträchtigungspolitik[1] haben sich auch die Rolle und Verantwortung der Arbeitgeber weiterentwickelt. Interessanterweise hat sich eine neue Diskussion über die Fairness gegenüber Arbeitgebern auf einem Gebiet entwickelt, in dem bisher die Fairness gegenüber den Arbeitnehmern im Vordergrund stand, z. B. durch die Sicherstellung angemessener Unterstützung der Arbeitnehmer bei Arbeitslosigkeit, Verletzung oder Krankheit. Fairness gegenüber Arbeitgebern wird in den Kapiteln des Buches MacEachen (ed.) (2019), The Science and Politics of Work Disability Prevention über Schweden und Belgien erwähnt, wo die Autoren feststellen, dass Regierungsvorschläge zur Erhöhung der finanziellen Verantwortung der Arbeitgeber für die Kosten von Arbeitsbeeinträchtigung nach Protest der Arbeitgeber zurückgezogen wurden (Ståhl & Seing, 2019; Mairiaux, 2019). Wie im Folgenden beschrieben, wird in Kanada und Neuseeland die Fairness gegenüber Arbeitgebern als Grund für die Beibehaltung der Erfahrungstarifierung in den Arbeitnehmerentschädigungssystemen hervorgehoben.

Erfahrungstarifierung soll die Unternehmen für die Unfall- und Krankheitsfälle ihrer Beschäftigten zur Verantwortung ziehen, im Gegensatz zur Zahlung derselben Versicherungsprämie pro Beschäftigungssektor. Auf den ersten Blick scheint die Erfahrungstarifierung die Verantwortung der Arbeitgeber zu erhöhen, da die Arbeitgeber für die Abwesenheit von gesundheitsbedingten Fehlzeiten in ihren eigenen Unternehmen finanziell bestraft werden. Die Anfang der 1990er Jahre in Kanada eingeführte Erfahrungstarifierung in der Arbeitnehmerentschädigung brachte jedoch neue Gerechtigkeitsdefizite gegenüber Beschäftigten mit sich. Denn, wenn Arbeitgeber einen finanziellen Anreiz haben, ihre Kosten im Zusammenhang mit gemeldeten Schadensfällen zu senken, können sie das System zu ihrem Vorteil ausnutzen. Dieses Vorgehen beinhaltet das Absehen von Verletzungsanzeigen und das Verlangen nach einer vorzeitigen Wiederaufnahme der Tätigkeit (MacEachen u.a., 2010; MacEachen, Lippel u.a., 2012; Mansfield u.a., 2012). Nach der Einführung der Erfahrungstarifierung in Kanada entstanden neue privatwirtschaftliche Unternehmen, die die Arbeitgeber gegen Vertretungshonorare bei der Reduzierung der mit Arbeitnehmeransprüchen wegen Verletzung und Krankheit verbundenen Kosten unterstützen und sogar dazu ermutigten (Ison, 2013). Diese neuen Unternehmen haben ihrerseits Arbeit für Beschwerdegerichte, Anwälte und Arbeitnehmervertreter geschaffen.

In Ontario kam der Vorsitzende des 2012 Workplace Safety and Insurance Board Funding Review (Berichts der Berufsgenossenschaft zur Finanzierung von Arbeitsschutz und Unfallversicherung aus dem Jahre 2012) zu dem Schluss, dass die Erfahrungstarifierung eine „moralische Krise" darstelle (S. 81), da sie Arbeitnehmern schaden, indem perverse finanzielle Anreize die Arbeitgeber ermutigen, Unfall- und Krankheitsansprüche von Arbeitnehmern nicht zu melden. (Arthurs, 2012). Nach Erhalt dieser Bewertung ließ die Berufsgenossenschaft umgehend einen zweiten Bericht erstellen, der in einen Bericht über die Fairness gegenüber den Arbeitgebern mündete. In diesem zweiten Bericht wurde festgestellt, dass jeder Schritt zur Anpassung der Erfahrungstarifierung ein Schritt sein muss, den „die Arbeitgeber als fair und angemessen akzeptieren" und bei dem die Arbeitgeber „ihren ‚gerechten Anteil‘ an den Kosten aufbringen" (Stanley, 2013, S. 2). Dies bedeutete, dass die Arbeitgeber weiterhin nur für die für ihr Unternehmen angezeigte statt der für einen bestimmten Sektor festgestellten Arbeitsunfallquote zahlen.

Neuseeland führte 1992 die Erfahrungstarifierung für Arbeitsunfälle und -verletzungen ein. Sie wurde in die verschuldensunabhängige Unfallversicherung (ACC) des Landes aufgenommen, die bis dahin nicht zwischen arbeitsbedingten und nicht arbeitsbedingten Unfällen und Krankheiten, unterschieden hatte. Wie von Duncan beschrieben (Duncan, 2019), führte die Erfahrungstarifierung zur Einführung von Verschulden in die ACC. Obwohl Erfahrungstarifierung in der Unfallversicherung anerkanntermaßen Probleme in puncto Fairness gegenüber Arbeitnehmern hat, bestand die Rechtfertigung der neuseeländischen politischen Entscheidungsträger für die Einführung der Erfahrungstarifierung darin, „fair gegenüber den die ACC durch die Entrichtung von Abgaben und Steuern tragenden Menschen (Arbeitgebern) zu sein" (Provost, 2013). Darüber hinaus dürfen seit 2000 größere „akkreditierte Arbeitgeber", die bestimmte Kriterien erfüllen, die arbeitsbezogenen Ansprüche ihrer Mitarbeiter im Haus als Gegenleistung für reduzierte Prämien verwalten (Duncan, 2019; Department of Labour, 2000 (Arbeitsministerium, 2000)).

In den Niederlanden unterliegen die Arbeitgeber vollständig der Erfahrungstarifierung, da sie ihre eigenen Kosten für Verletzungen und Krankheiten der Arbeitnehmer unmittelbar selbst tragen. Seit 2004 sind sie zwei Jahre lang in vollem Umfang für die Gesundheitskosten der Arbeitnehmer verantwortlich, unabhängig von der Arbeitsbezogenheit. Wie bei den akkreditierten neuseeländischen Arbeitgebern kann diese Verantwortung für die Arbeitgeber finanziell von Vorteil sein. Die Übertragung von Verantwortung auf die niederländischen Arbeitgeber ist jedoch nicht ohne eigene Probleme in puncto Fairness gegenüber Arbeitnehmern geblieben. Studien haben gezeigt, dass niederländische Arbeitgeber unter diesen Bedingungen manchmal die Einstellung von Arbeitnehmern, die Gesundheitskosten verursachen könnten, wie beispielsweise solche mit gesundheitlichen Problemen oder einem ungesunden Aussehen, vermeiden (Koning & Lindeboom, 2015; Oorschot, 2002).

Es ist eine Ironie, dass sich die Arbeitgeber zur selben Zeit, da dieser Diskurs über Arbeitgeberfairness Eingang in die Diskussionen über Arbeitsbeeinträchtigungspolitik findet, von ihrer traditionellen Rolle in der Gesellschaft als Anbieter von Einkommenssicherheit und -leistungen zurückgezogen haben. Trends im Zusammenhang mit der Globalisierung und flexiblen Märkten zeigen, dass Arbeitgeber zunehmend die Einstellung von Festangestellten vermeiden (Kalleberg, 2011) und immer häufiger befristete Arbeitsverträge mit Arbeitskräften abschließen (Broughton u. a., 2016). Als solche scheinen die Arbeitgeber ambivalente Akteure in der Arbeitsbeeinträchtigungspolitik zu sein. Wie de Rijk (de Rijk, 2019) fragt: Ist eine starke Rolle für Arbeitgeber in Anbetracht der zunehmenden Vielfalt und Flexibilität des Arbeitsmarktes tragfähig?

II. Der politische Prozess bezüglich der Torwächter im Gesundheitswesen

Die Rolle der Gesundheitsdienstleister als Torwächter zu krankheits- und arbeitsbeeinträchtigungsbedingten Leistungen hat sich seit Beginn der Aktivierungspolitik in den 1990er Jahren ebenfalls weiterentwickelt. Die Kapitel im Band MacEachen (ed.) (2019), The Science and Politics of Work Disability Prevention deuten darauf hin, dass Gesundheitsdienstleister zunehmend gegenüber Arbeitgebern und staatlichen Sozialleistungsträgern rechenschaftspflichtig sind und weniger direkt gegenüber Arbeitnehmern als Patienten und Leistungsempfänger. Bis auf wenige Ausnahmen waren die wichtigsten Torwächter die Hausärzte der Leistungsempfänger. So können in Australien trotz des Drucks von Physiotherapeuten nur Hausärzte Krankmeldungen ausstellen (Gohnston & Beales, 2016). Ausnahmen sind Länder wie Belgien, wo Sozialversicherungsmediziner diese Rolle spielen, und die Niederlande, wo Arbeitsmediziner die Torwächter zum staatlichen Sozialleistungssystem sind.

Ein interessanter Trend aller Arbeitsbeeinträchtigungssysteme besteht in der Einschränkung der hausärztlichen Befugnis, Zugang zu arbeitsbeeinträchtigungsbedingten Leistungen zu gewähren. Ein Ansatz bestand darin, das letzte Wort über die Arbeitsbeeinträchtigung und der Leistungsberechtigung einer Person nur bestimmten, mit dem Staat oder den Arbeitgeber verbundenen Gesundheitsdienstleistern zu überlassen. Im Vereinigten Königreich erfolgte diese Änderung mit dem Schritt von 1995, ausschließlich staatlich zugelassenen Ärzten die Entscheidung über den Anspruch auf Leistungen wegen Erwerbsminderung zu überlassen (Barr & McHale, 2019). In Neuseeland fand 1995 ebenfalls eine ähnliche Verschiebung hin zu strengeren medizinischen Untersuchungen statt, wobei die Arbeitsbeeinträchtigung ausschließlich von staatlich anerkannten Ärzten zu beurteilen war (Duncan, 2019).

Ein weiterer Ansatz, die Rolle des Hausarztes als Torwächter zu reduzieren, besteht in der Erweiterung des Spektrums der Leistungserbringer, die die Krankheit beurteilen können, während das letzte Wort bezüglich des Leistungsanspruchs der Antragstellenden bei den Versicherern der Arbeitsbeeinträchtigungsleistungen verbleibt. So kann beispielsweise in Ontario, Kanada, jedes Mitglied eines zulassungspflichtigen Gesundheitsberufs (z. B. Krankenschwestern, Physiotherapeuten) Arbeitsunfähigkeits-bescheinigungen zum Erhalt von Leistungen aus dem Arbeitnehmerentschädigungssystem ausstellen (WSIB, 2018b). In den USA werden in der Regel unabhängige ärztliche Untersuchungen von den Versicherern angeordnet (Dembe, 2019) und in Kanada machen die Versicherungsträger zunehmend von internen medizinischen Beratern Gebrauch, um Erkenntnisse über Krankheit oder Verletzungen zu gewinnen (Kosny u. a., 2016). Die Erkenntnisse von staatlich beauftragten und sogenannten unabhängigen Ärzten sind in den Schadenakten der Arbeitnehmer enthalten, die auch Bewertungen durch Hausärzte und andere Angehörige der Gesundheitsberufe umfassen können. Versicherungsfallmanager, die den Anspruchsberechtigten in der Regel nicht persönlich treffen und in der Regel nicht medizinisch geschult sind, sind dann die Partei, die endgültige Entscheidungen darüber trifft, welche medizinischen Bewertungen sie im Verfahren zur Annahme oder Ablehnung eines Arbeitnehmerantrags gelten lässt (Kosny et al., 2016).

Mit diesem Wechsel des Torwächters zu ausgewählten und beauftragten Ärzten und der Verlagerung der Entscheidungsfindung über den Leistungsanspruch auf Versicherungsfallmanager kommt es zu einer Änderung der Prämissen über die Rolle und den Wert von Gesundheitsdienstleistern. Waren Ärzte früher Torwächter der Sozialversicherungssysteme, die vermeintlich auf ihrer Kompetenz, ihren diagnostischen Fähigkeiten und dem ethischen Standard ihres Berufs beruhen, so scheint das Gelände heute zunehmend politisch zu sein. In einigen Arbeitsbeeinträchtigungssystemen wurden Hausärzte als unzuverlässige Fürsprecher der Arbeitnehmer angesehen. Sie wurden beispielsweise in der Studie von Kosny u. a. (2016) über die Rolle kanadischer Ärzte im Rahmen der Wiederaufnahme der Tätigkeit verletzter und kranker Arbeitnehmer von den Fallmanagern der Arbeitnehmerentschädigung als „Anwälte" bezeichnet, die „das tun würden, was der Patient wollte", und nicht das, was medizinisch angezeigt war (S. 11).

Mit dieser diskursiven Verschiebung hat sich der Fokus von Torwächtern mit angemessener medizinischer Ausbildung oder Diagnosefähigkeit hinbewegt zur offiziellen Kooperation medizinischer Fachkräfte mit Arbeitgebern oder staatlichen Institutionen. Dies zeigt sich insbesondere bei unabhängigen medizinischen Prüfern, die die Beeinträchtigung und Arbeitsfähigkeit der Arbeitnehmer ohne umfassende Kenntnis der Arbeitnehmer beurteilen, manchmal nur anhand eines sog. „Paper Review" (Aktenprüfung), ohne die Arbeitnehmer selbst jemals getroffen zu haben (Kosny, MacEachen, Ferrier, & Chambers, 2011).

Die Rolle des Torwächters der Leistungserbringer ist vor allem in ursachenbezogenen Rechtsordnungen umstritten. In diesen Systemen müssen die Leistungserbringer nicht nur bescheinigen, dass eine Verletzung oder Krankheit vorliegt, sondern sie müssen auch einen Schritt weiter gehen, um zu entscheiden, ob diese durch die Arbeit des Arbeitnehmers verursacht wird. Dies ist eine besonders schwierige Herausforderung, wenn die Erkrankung wie bei Rückenschmerzen oder psychischen Verletzungen multifaktoriell sind oder sich nur langsam entwickeln. Unter solchen unklaren Umständen und wenn die Erkrankung des Arbeitnehmers zu Kosten für den Arbeitgeber oder den Leistungsträger führen kann, kann ein starker Druck auf Gesundheitsdienstleistern bei Arbeitgebern oder staatlich Institutionen lasten, festzustellen, dass die Krankheit nicht arbeitsbedingt ist (Kilgour, Kosny, McKenzie, & Collie, 2014a; Kleinfeld, 2009).

Eine weitere Entwicklung in der Arbeitsaktivierungspolitik, welche die Dauer des Krankenstandes begrenzt, ist die wachsende Spannung zwischen Hausärzten und Sozialversicherungsmedizinern. So beschreibt Fassier (Fassier, 2019) die Spannungen zwischen behandelnden Ärzten und Sozialversicherungsärzten in Frankreich, da letztere erstgenannte bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit überstimmen können. Beide vertrauen auch nicht den Betriebsärzten, die als Arbeitgebervertreter angesehen werden. Auch Stratil, Rieger und Völter-Mahlknecht (2017) stellen ein geringes Maß an Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen deutschen Hausärzten, Betriebsärzten und Rehabilitationsärzten fest, nicht nur weil sie einander nicht vertrauen, sondern auch aus der Sorge heraus, dass Betriebsärzte aufgrund ihrer Beziehung zu Arbeitgebern Interessenkonflikte haben könnten.

III. Koordinierung der Aktivierung

Eine Herausforderung für die Arbeitsbeeinträchtigungspolitik in vielen Ländern besteht in der Frage, wie man zwischen isolierten sozialstaatlichen Unterstützungsprogrammen eine Brücke schlägt und die sich mit Beschäftigung, Rehabilitation, Gesundheit und Behinderung befassenden Behörden koordiniert. Wie von Grant (Grant, 2019) erwähnt, entstehen Transaktionskosten, wenn Systeme unzusammenhängend, widersprüchlich oder schlecht implementiert sind. Dem Staat entstehen Transaktionskosten in Form von Leistungsdoppelung, Ineffizienz und durch die Einbeziehung zusätzlicher Ressourcen wie bspw. Berufungsgerichte und mehrerer medizinischer Gutachten, die zum Nachweis der Leistungsberechtigung erforderlich sind. Die Kosten für die Beschäftigten sind der fehlende Zugang zu den notwendigen Leistungen und psychische Schäden im Zusammenhang mit frustrierenden und konfliktreichen Begegnungen mit Leistungssystemen (Kilgour, Kosny, McKenzie, & Collie, 2014b).

Das Arbeitsbeeinträchtigungsmanagement (work disability management) erfordert eine umfassende Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Parteien (MacEachen, Clarke, Franche, & Irvin, 2006; Ståhl, Svensson, Petersson, & Ekberg, 2010). Innerhalb der Rechtsordnungen müssen Parteien wie Krankenstands- und Wiedereingliederungsbeauftragte, Akteure des Sozialversicherungssystems, Arbeitgeber, Beschäftigte und unterschiedliche Arten von Ärzten Informationen austauschen und zusammenarbeiten (MacEachen u. a., 2006). Die verschiedenen Parteien müssen Zeit für Treffen und die Entwicklung einer vertrauensvollen Zusammenarbeit haben und gemeinsame Standpunkte teilen (Franche, Baril, Shaw, Nicholas, & Loisel, 2005). Innerhalb eines Landes kann die Koordination komplex werden, wenn sie übergreifend über verschiedene (Dienst)leistungsebenen z. B. Landes- und Bundesebene erfolgt. Zudem können nicht alle Beschäftigten Anspruch auf dieselben krankheitsbedingten Leistungen haben. Die Programme können unterschiedlich sein, je nach Beschäftigung im Privatsektor, im öffentlichen Sektor, im Agrarsektor, im Militär oder in der Seefahrt (Grant, 2019; Shan, 2019; Dembe, 2019). In den meisten Bundesstaaten kann ein Zuständigkeitsbereich keine Änderungen in den anderen verlangen oder die Arbeitsbeeinträchtigungspolitik koordinieren.

Fehlende Koordination zwischen den Systemen kann zu Kostenverlagerungen und zur Weitergabe der Verantwortung von einem Programm zum anderen führen. Wenn beispielsweise ein System, wie die Arbeitnehmerentschädigung die Anspruchsvoraussetzungen verschärft, kann dies dazu führen, dass Menschen Leistungen aus anderen Systemen, wie beispielsweise der Sozialversicherung, beantragen (Parolin & Luigjes, 2018; Stapleton, 2013). Darüber hinaus ergeben sich Widersprüche, wenn die Antragsteller von einer Behörde als arbeitsfähig, aber von einer anderen als voll grundsicherungsbedürftig angesehen werden (Duncan, 2019). Lippel (Lippel, 2019) zeigt anschaulich, wie kanadische Arbeitnehmer je nach Provinzstandort, Art der Beschäftigung und Ursache der Behinderung unterschiedliche Leistungen und Behandlungen in Anspruch nehmen. Im schlimmsten Fall kann eine mangelnde Koordination dazu führen, dass die Arbeitnehmer einfach durch Systemlücken fallen und überhaupt keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung und einkommensunterstützenden Leistungen haben. So haben beispielsweise Arbeitnehmer in China, die zur Arbeit vom Land in die Stadt ziehen, keinen Zugang zu krankheits- oder verletzungsbedingten Leistungen, da sie nicht offiziell in der städtischen Gerichtsbarkeit registriert sind (Shan, 2019).

Diese Herausforderung der Koordinierung von Arbeitsbeeinträchtigungssystemen zur besseren Unterstützung der Aktivierungspolitik stand in einigen Ländern im Mittelpunkt wichtiger Reformen. Australien schuf 2016 das National Disability Insurance Scheme (die nationale Invaliditätsversicherung), welche die fragmentierten staatlichen und bundesstaatlichen Invaliditätssysteme ersetzte. Auch in Deutschland wurden erhebliche Anstrengungen zur Koordinierung der Arbeitsbeeinträchtigungsprogramme unternommen. Bereits 1974 wurde ein Rahmen zur Koordination der mit Rehabilitation und Behinderung befassten Einrichtungen entwickelt. 2001 wurde der Rahmen zur Koordinierung der Rehabilitation erneuert und eine einheitliche Definition von Behinderung beschlossen (Welti, 2019). Diese einheitliche Definition der Behinderung stellt einen besonders interessanten Schritt dar. In Ländern, in denen jedes Leistungsprogramm seine eigene Definition von Behinderung hat, erschweren die Unterschiede die Kommunikation und den Übergang zwischen den Behörden und schaffen ein hohes Ausmaß an Fehlkommunikation und Papierkram für Ärzte und andere Parteien (Kosny u. a., 2011). Deutschland hat 2016 eine weitere Reform zur Schaffung von Kooperation zwischen den Beteiligten eingeführt und 2018 seinen Kooperationsansatz aufgrund der mangelnden Einhaltung der vorherigen Reform durch die Beteiligten erneut überarbeitet (WeIti, 2019). Die aufeinander folgenden deutschen Reformen zeigen, dass selbst bei starkem Bekenntnis zur gesetzgeberischen Umsetzung von Koordination und Zusammenarbeit bei Arbeitsbeeinträchtigung Lösungen nicht immer einfach sind.

Es lohnt sich zu bedenken, dass die Erreichung der Systemkoordination nicht unbedingt einen Selbstzweck darstellt. Das heißt, Koordination ist nicht immer für alle Beteiligten positiv. In einigen Fällen können Systeme zwar stärker integriert werden, aber die Integration kann Ungleichheit schaffen, indem sie einer Partei mehr Kontrolle über eine andere verschafft. Barr und McHale (2019) beschreiben, wie die Zusammenlegung der britischen Arbeitslosen- und Sozialdienste die Behinderung unter die breitere Neukonzeption der Arbeitslosigkeit brachte. Sie stellen fest, dass der neuerdings dominierende Schwerpunkt auf Arbeitslosigkeit zur Umleitung der zur Bewältigung von Arbeitsbeeinträchtigung im Zusammenhang mit psychischen Krankheiten benötigten Mittel führen kann, obwohl diese heute die häufigste Ursache für die Antragstellung auf Entgeltersatzleistungen darstellt.

Finnland und die Niederlande liefern zusätzliche Beispiele für eine Koordination, die ein größeres Maß an Kontrolle auf eine Partei übertragen hat. In diesen Ländern wird die Koordinierung durch die Arbeitgeber durchgeführt. In den Niederlanden liegt die Gesundheit der Arbeitnehmer, wie vorstehend beschrieben, zwei Jahre lang ab Beginn der Krankheit oder Verletzung in der Verantwortung der Arbeitgeber. Diese Regelung hat den Arbeitgebern eine große Kontrolle über die Kosten der und das Management von Arbeitsbeeinträchtigung verschafft, da sie die Betriebsärzte beschäftigen, welche die Arbeitsbeeinträchtigung bescheinigen, und sie auch die Partei sind, die den Wiedereingliederungsplan der Arbeitnehmer verwaltet. In Finnland werden arbeitsmedizinische Dienstleistungen auch innerhalb von Arbeitsorganisationen angeboten. Arbeitgeber können diese Dienstleistungen bereitstellen, indem sie Betriebsärzte und anderes arbeitsmedizinisches Personal intern beschäftigen oder die Dienstleistungen von einem öffentlichen Gesundheitszentrum, einem privaten medizinischen Zentrum oder einem Arbeitgeberverband beziehen. Arbeitsmediziner schlagen durch die Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsdienstleistern, Sozialversicherern, Arbeitnehmern und Sozialarbeitern eine Brücke zwischen Arbeitsplatz und dem Gesundheitssystem (Martimo, 2019). Die Strategie, die Koordination der Arbeitsbeeinträchtigung unter die Kontrolle der Arbeitgeber zu stellen, geht davon aus, dass Arbeitgeber faire Akteure sind. Daher kann diese Strategie am besten funktionieren, wenn die Arbeitsbeziehungen positiv sind. Wo sie es nicht sind oder die Arbeitskräfte gering qualifiziert und leicht zu ersetzen sind oder wo Zeitarbeitsverträge dominieren, kann ein solches Maß an Kontrolle für die Arbeitgeber zur Benachteiligung einiger Arbeitnehmer führen (Seing, MacEachen, Ståhl, & Ekberg, 2015).

In Deutschland, den Niederlanden und Finnland, wo die Koordination der Politik zur Bekämpfung der Arbeitsbeeinträchtigung bereits stattgefunden hat, stellen die dreiseitigen Konsultationen zwischen Regierung, Arbeitgebern und Arbeitnehmerorganisationen einen wichtigen Hintergrund in der Tradition dieser Länder dar. Jedes Land hat gut organisierte Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen. Die Niederländer beschreiben ihre „auf Konsultation ausgerichtete Wirtschaft" als durch Entscheidungsfindung und Politikgestaltung auf der Grundlage von Diskussionen und Verhandlungen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften gekennzeichnet (Social and Economic Council, 2015). Wie de Rijk (2019) argumentiert, schafft die dreiseitige Konsultation, im Rahmen derer alle Parteien zu Wort gekommen sind, ein Umfeld ohne Überraschungen bei den politischen Ergebnissen. In Deutschland werden Selbstverwaltungskörperschaften, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in den Kooperationsrahmen eingebunden (Welti, 2019). In Finnland waren Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen traditionell stark an der Entwicklung der sozialen Sicherheit beteiligt (Martimo, 2019).

Diese Beispiele für Länder, in denen die Koordination des Arbeitsbeeinträchtigungssystems stattfindet, werfen Fragen nach der Qualität der Organisation und des Austauschs auf, die bzw. der für eine erfolgreiche Koordination der Interessengruppen erforderlich ist. In Ländern, in denen Arbeitnehmer nicht gut organisiert sind, wie z. B. in den USA, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad des privaten Sektors nur 6,5% beträgt (Bureau of Labor Statistics, 2017), und in Kanada, wo er lediglich 15% beträgt (Statistics Canada, 2018), wird die Vertretung der Arbeitnehmer an einem dreiseitigen Verhandlungstisch unzureichend sein. Auf jeden Fall scheint, wie sowohl Dembe (Dembe, 2019) als auch Lippel (2019) feststellen, kein politischer Wille zur Koordination der Arbeitsbeeinträchtigungssysteme in den USA oder Kanada zu bestehen. Ein Ausgangspunkt könnte jedoch, wie Dembe feststellt, die Erarbeitung einer gemeinsamen Definition von Behinderung in den wichtigsten Sozialversicherungsprogrammen sein.

Beitrag von Ellen MacEachen und Kerstin Ekberg[2]

Fußnoten

[1] Im englischsprachigen Original werden die Begriffe Work Disability, Work Disability Prevention und Work Disability Policy benutzt. Für die Übersetzung von Work Disability sind die Begriffe Arbeitsbeeinträchtigung, Arbeitsunfähigkeit, Arbeitsteilhabebeeinträchtigung, Beeinträchtigung der Beschäftigungsfähigkeit, Erwerbsbeeinträchtigung und Erwerbsunfähigkeit in Betracht gezogen worden. Schließlich haben wir uns für Arbeitsbeeinträchtigung entschieden. Dieser Begriff ist im Deutschen mit keiner feststehenden rechtlichen Bedeutung versehen und drückt aus, dass die Teilhabe am Arbeitsleben auch graduell beeinträchtigt sein kann. An der Diskussion dieser Frage haben sich René Dittmann, Friedrich Mehrhoff, Oskar Mittag und Felix Welti beteiligt.

[2] Ellen McEachen ist Professorin an der University of Waterloo, Ontario, Kanada. Kerstin Ekberg ist Professorin (em.) an Linköpings Universitet, Schweden.


Stichwörter:

Verminderte Erwerbsfähigkeit, Länder-Vergleichsstudie, Arbeitsunfähigkeit, berufliche Wiedereingliederung, Rückkehr ins Erwerbsleben (return to work)


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