16.12.2014 D: Konzepte und Politik Heidt: Diskussionsbeitrag D28-2014

Praktische und rechtliche Fragen des Wunsch- und Wahlrechts – Zusammenfassung der Online-Diskussion im moderierten Forum „Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“ (18. September bis 8. Oktober 2014)

(Zitiervorschlag: Heidt: Praktische und rechtliche Fragen des Wunsch- und Wahlrechts – Zusammenfassung der Online-Diskussion im moderierten Forum „Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“ (18. September bis 8. Oktober 2014); Forum D, Beitrag D28-2014 unter www.reha-recht.de; 16.12.2014)

Der Autor fasst in seinem Beitrag die wesentlichen Inhalte der dritten, vom Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht (www.reha-recht.de) veranstalteten, Online-Diskussionsrunde im moderierten Forum „Fragen – Meinungen – Antworten“ zusammen. Diese Diskussionsrunde fand vom 18. September bis zum 8. Oktober 2014 statt und befasste sich mit praktischen und rechtlichen Fragen des Wunsch- und Wahlrechts.

Das in diesem Bereich bestehende Spannungsverhältnis zwischen Wunsch- und Wahlrecht als Ausprägung des Individualisierungsgebots einerseits und dem Wirtschaftlichkeitsgebot des Sozialrechts führt in der Praxis nicht selten zu Problemen. Experten aus der Wissenschaft und Praxis beantworteten daher verschiedene Fragen zu diesem Thema. Dazu gehörte unter anderem, wann ein Wunsch nach einer bestimmten Leistung „berechtigt“ sei oder welche Konsequenzen entstandene Mehrkosten haben.

Insgesamt machte die Diskussion deutlich, so der Autor, dass es noch zahlreiche offene Fragen im Bereich des Wunsch- und Wahlrechts gebe und auf diesem Gebiet noch hoher Aufklärungsbedarf bestünde.

Das moderierte Online-Forum „Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“ von www.reha-recht.de wird auch im Jahr 2015 Reha-Praktikern, Betroffenen, Rechtsexperten und allen anderen Interessierten die Möglichkeit geben, sich zu verschiedenen Themen auszutauschen.

 


Wann ist der Wunsch zur Wahl einer Leistung „berechtigt“? Was gilt für den Umgang mit Mehrkosten? Und wie und mit welchen Folgen für die Beteiligten gestalten sich die Preise im Reha-Markt? Diese und weitere Fragen waren Gegenstand der im September/Oktober 2014 durchgeführten dritten Diskussionsrunde im Forum „Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“.[1] Deutlich wurde dabei u. a. das Spannungsverhältnis zwischen Wunsch- und Wahlrecht als Ausprägung des Individualisierungsgebots einerseits und dem sozialrechtlichen Gebot der Wirtschaftlichkeit andererseits. Kritische Worte fanden die Diskutanten insoweit für die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Wahlfreiheit bei Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung aus dem Jahr 2013.

Zu insgesamt elf Fragen tauschten sich folgende Experten aus:

  • Dr. Wolfgang Heine, Rechtsanwalt, Berlin
  • Fabian Walling, Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg, Stuttgart
  • Prof. Dr. Felix Welti, Fachgebiet Sozialrecht der Rehabilitation und Recht der behinderten Menschen, Universität Kassel

Die Fragen waren teils im Vorfeld gesammelt worden, teils ergaben sie sich im Verlauf der Diskussion. Neben wenigen Einzelkonstellationen (z. B. Umzug bei betreuten Wohnformen) standen vor allem Grundsätze zum Wunsch- und Wahlrecht im Mittelpunkt:

  • Abgrenzung des besonderen vom allgemeinen Wunsch- und Wahlrecht und seine Grenzen
  • Bedeutung des Begriffs der Geeignetheit
  • Umgang mit Mehrkosten
  • Preisgestaltung bei Rehabilitationsleistungen
  • Umgang mit Wünschen nach teureren Leistungen, insbesondere bei Hilfsmitteln

Zur Frage der Abgrenzung des (besonderen) Wunsch- und Wahlrechts in der Rehabilitation von dem allgemeinen Wunschrecht bei Sozialleistungen (§ 33 S. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) I) wurde auf den Wortlaut von § 9 Abs. 1 SGB IX verwiesen: Maßgeblich ist demnach, dass ein Wunsch „berechtigt“ sein muss. Dies bedeute, dass er nur bei einem entgegenstehenden Rechtsgrund versagt werden dürfe, was z. B. auch bei einem fehlenden Leistungserbringervertrag der Fall sei. Demgegenüber muss beim allgemeinen Wunsch- und Wahlrecht die Angemessenheit eines Wunsches geprüft werden. Das Wunsch- und Wahlrecht nach SGB IX sei insoweit stärker ausgeprägt als dasjenige nach SGB I.

Aus der Voraussetzung des berechtigten Wunsches folge auch die Grenze des Wunsch- und Wahlrechts nach SGB IX: Maßgeblich komme es auf die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Leistung an, wobei die individuellen Verhältnisse des Leistungsberechtigten (Lebenssituation, Alter, Geschlecht, Familie, religiöse und weltanschauliche Bedürfnisse) zu berücksichtigen sind (§ 9 Abs. 1 S. 2 SGB IX). Das Wunsch- und Wahlrecht bestehe dann, wenn mehrere gleich wirksame und/oder wirtschaftliche Leistungen in Betracht kommen.

Kritisch angemerkt wurde hierzu, dass der Wortlaut am Ende von § 9 Abs. 1 S. 2 SGB IX darauf verweist, dass im Übrigen § 33 SGB I gilt, wodurch die Angemessenheit dem, was „berechtigt“ ist, wieder entgegengehalten werden könne. Der Auslegungsspielraum sei hier deutlich zu groß, weshalb der Gesetzgeber aktiv werden müsse.

Bei der Frage nach der Bedeutung des Begriffs der Geeignetheit stellten die Diskutanten klar, dass im Einzelfall immer geprüft werden müsse, ob mit der jeweiligen Maßnahme das Rehabilitationsziel erreicht werden und ob der Betroffene die Maßnahme auch erfolgversprechend durchführen kann; Anknüpfungspunkt sei insoweit § 19 Abs. 4 S. 1 SGB IX. Soweit die Geeignetheit von Diensten und Einrichtungen in Frage steht, und es keinen Rahmenvertrag (§ 21 Abs. 2 SGB IX) gibt, erfolgt die Feststellung durch einen Einzelvertrag (§ 21 Abs. 1 SGB IX). Dabei sollten die Rehabilitationsträger ihre Entscheidungen nach gemeinsamen Kriterien treffen – mit der Folge, dass eine Einrichtung, die von einem Träger für geeignet gehalten wird, auch für andere Träger geeignet sein sollte.

„Die Entscheidungen des BSG vom 07.05.2013 zur Wahlfreiheit bei Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung halte ich für schlichtweg falsch. Der Gesetzgeber wollte die Autonomie der Versicherten erhöhen und nicht beschränken.“ (Fabian Walling)

Die Auswirkungen von Mehrkosten einer Leistung auf das Wunsch- und Wahlrecht beschäftigte die Diskutanten insbesondere vor dem Hintergrund des Urteils des BSG vom 07.05.2013 (Az. B 1 KR 12/12). Darin hatte das Gericht entschieden, dass Leistungsberechtigte, die eine bestimmte Vertragseinrichtung wählen, keinerlei Kostenerstattung verlangen können, wenn die Krankenkasse zwei andere (günstigere) Vertragseinrichtungen vorgeschlagen hat.[2]

Zu den Urteilsgründen wurde hervorgehoben, dass das BSG wegen des in § 12 SGB V genannten Wirtschaftlichkeitsgebots offenbar davon ausgehe, dass im Krankenversicherungsrecht keinerlei Mehrkosten akzeptiert würden. Hierauf bezogene Regelungen seien dem Gericht zufolge die Ausnahme und müssten ausdrücklich im Gesetz vorgesehen sein.

Diese Argumentation lehnten die Diskutanten ab: Das Wirtschaftlichkeitsgebot werde hier im Verhältnis zum Individualisierungsgebot[3] zum alleinigen Maßstab gemacht, und die Vorschriften zum Wunsch- und Wahlrecht blieben bei der Begrenzung auf ausdrückliche Merkostenregelungen in vielen Fällen gänzlich wirkungslos.

Ergänzend wurde auf die ausschließlich im Krankenversicherungsrecht geltende Regelung des § 40 Abs. 2 S. 2 SGB V verwiesen: Demnach könnten Versicherten, denen eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme bewilligt wurde, die von ihnen gewünschte und für sie geeignete (zertifizierte) Klinik im gesamten Bundesgebiet frei wählen, und zwar unabhängig davon, ob für diese ein Versorgungsvertrag besteht oder nicht. Im vorliegenden Fall habe das BSG § 40 Abs. 2 S. 2 SGB V indes anders und damit falsch ausgelegt.[4]

„Was die Preisgestaltung betrifft, so hat schon die frühere Rechtsprechung des 3. Senats des BSG für den Reha-,Markt‘ eine vollständige Preistransparenz verlangt. Deshalb ja stellt insbesondere der Bundesrechnungshof, auch aus Antikorruptions-Gesichtspunkten heraus, seit langem die Forderung auf, dass die Träger Reha-Leistungen ausschreiben sollen.“ (Dr. Wolfgang Heine)

Das Thema Preisgestaltung bei Rehabilitationsleistungen wurde zunächst anhand des gesetzlich festgelegten Verfahrens beschrieben: Rehabilitationsträger und Leistungserbringer verhandeln und regeln durch Vertrag[5], wie viel die Leistungen kosten. Bei den meisten Trägern sei davon auszugehen, dass alle geeigneten Leitungserbringer dem Grunde nach einen Vertrag bekommen, und dass die Auswahl durch den Träger dann im Einzelfall zwischen den Vertragseinrichtungen erfolgt. Die Bundesagentur für Arbeit führe in vielen Fällen eine Ausschreibung für Kontingente durch (§ 45 Abs. 3 SGB III). Sofern Leistungserbringer mit dem Ergebnis der Vertragsverhandlungen unzufrieden seien, könnten sie bei Krankenversicherung, Sozial- und Jugendhilfe eine Schiedsstelle anrufen; bei anderen Trägern (Renten- und Unfallversicherung) bestehe diese Möglichkeit hingegen nicht.

Bei der ökonomischen Betrachtung wurden des Weiteren mögliche Risiken wie z. B. Korruption thematisiert. Diese Risiken rührten – so die in diesem Zusammenhang gestellte Frage – daher, dass im Bereich der Rehabilitation der gängige Marktmechanismus, bei dem der Kunde das Produkt bezahlt, aufgehoben sei. Hierzu wurde argumentiert, dass das Wunsch- und Wahlrecht nach Ansicht des Gesetzgebers selbst ein Mittel sei, um die Ziele einer Rehabilitationsmaßnahme besser, d. h. vor allem regelkonform entsprechend der sog. Compliance, zu erreichen. Soweit es um die Gestaltung der Preise und den entsprechenden Ruf nach vollständiger Transparenz gehe, sei die Lösung einer Ausschreibungspflicht für alle Rehabilitationsträger angesichts der möglichen Nutzung zur „Preisdrückerei“ jedenfalls zweifelhaft.

„Bei Hilfsmitteln können teurere Ausführungen gegen Zahlung der Mehrkosten gewählt werden. Das Problem für die behinderten Menschen ist, zwischen notwendigen und nicht notwendigen Leistungen unterscheiden zu können. Die Rehabilitationsträger sind verpflichtet, darüber zu beraten. Sie dürfen die Leistungsberechtigten nicht mit dem Leistungserbringer und seinen wirtschaftlichen Interessen alleine lassen.“ (Prof. Felix Welti)

Schließlich wurde vor dem Hintergrund von Werbung z. B. für Hilfsmittel die Frage aufgeworfen, wie mit Wünschen nach teureren Leistungen umzugehen ist.

Die Diskutanten wiesen hier darauf hin, dass unwirtschaftliche Leistungen ausgeschlossen sind. Allerdings bestehe bei Hilfsmitteln die Möglichkeit, teurere Ausführungen zu wählen, wenn der Leistungsberechtigte die Mehrkosten trägt (§ 31 Abs. 3 SGB IX).[6] Betont wurde in diesem Zusammenhang die Beratungspflicht der Rehabilitationsträger zur Frage, ob eine Leistung notwendig ist oder nicht. Hierauf habe die Rechtsprechung zuletzt im Bereich der Hilfsmittelversorgung hingewiesen, wo die Krankenkassen in der Vergangenheit die Beratung alleine durch den von wirtschaftlichen Interessen geleiteten Hörgeräteakustiker vornehmen ließen.

Werbung könne jedenfalls dann zur Verwirklichung des Wunsch- und Wahlrechts beitragen, wenn sie seriös sei. Hierfür müssten die Leistungserbringer transparent über ihre Angebote informieren, z. B. durch die Veröffentlichung ihrer Qualitätsberichte.

Resümierend wurde die Vermutung geäußert, dass beim Thema Wunsch- und Wahlrecht offenbar noch hoher Aufklärungsbedarf besteht.

Die DVfR setzt die Reihe der virtuellen Schwerpunkt-Diskussionen im moderierten Forum „Fragen – Meinungen – Antworten Rehabilitations- und Teilhaberecht“ in 2015 fort.

Beitrag von Steffen Heidt, Deutsche Vereinigung für Rehabilitation, Heidelberg

Fußnoten:

[1] Der Diskussionsverlauf ist nachzulesen unter fma.reha-recht.de/index.php/Board/47-Zur-Diskussion/

[2] Ausführliche Entscheidungsbesprechung: Fuhrmann/Heine, Beitrag A7-2014 unter www.reha-recht.de.

[3] Gemeint ist das Gebot nach § 33 Abs. 1 SGB I, wonach nicht im Einzelnen bestimmte Sozialleistungen individuell zu konkretisieren sind unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse der Berechtigten, ihres Bedarfs und ihrer Leistungsfähigkeit sowie der örtlichen Verhältnisse, soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen; vgl. auch Welti in: Luthe (Hrsg.), Rehabilitationsrecht, 2. Auflage, S.163.

[4] Ausführliche Begründung einer entsprechenden Auslegung von § 40 Abs. 2 S. 2 SGV V auch in Fuhrmann/Heine, Beitrag A7-2014 unter www.reha-recht.de.

[5] Vgl. § 21 SGB IX; § 111 SGB V; § 75 SGB XII; § 78a SGB VIII.

[6] Zur Wahlfreiheit bei der Versorgung mit Hilfsmitteln vgl. auch die 2. Diskussion im moderierten Forum: fma.reha-recht.de/index.php/Thread/98-Wahlfreiheit-bei-der-Versorgung-mit-Hilfsmitteln/.


Stichwörter:

Geeignetheit eines Hilfsmittels, Diskussionszusammenfassung, Wunsch- und Wahlrecht, Wirtschaftlichkeitsgebot, Individualisierungsprinzip, Teureres Hilfsmittel, Hilfsmittelversorgung


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